Teil 1 Phaya
Ich fliege durch die Wolken. Es ist ein berauschendes Gefühl, den Luftstrom am eigenen Körper spüren, den Aufwind, der einen höher trägt. Meine Arme sind zu Flügeln geworden. Die Federn auf meiner Haut fühlen sich seltsam an. Ich steige höher. Meine Augen sind besser geworden, von hier oben kann ich bis auf den Boden schauen. Wie klein doch alles ist.
Plötzlich kommt etwas Dunkles auf mich zugerast. Ich weiche aus, überschlage mich. Ich verrenke meinen Kopf, schaue in alle Richtungen? Wo ist es? Doch ich bin inmitten der Wolken.
Wieder rauscht ein dunkler Schatten an mir vorbei, ich kann ihn kaum erkennen.
Im letzten Moment weiche ich aus, doch etwas streift mich.
Schmerz schießt durch meinen Körper, Blut läuft an mir herab.
Schwindel überkommt mich. Für einen kurzen Moment wird meine Sicht schwarz. Ich spüre, wie ich falle, immer schneller werde. Gleich werde ich auf den Boden …
»Phaya!« Eine vertraute Stimme reißt mich aus meinen Tagtraum. Ich wirbele herum und erstarre.
»Was, so geschockt mich zu sehen?«
Ich kann nicht anders, als Nick anzustarren. Es ist fünf Jahre her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Jetzt sieht er noch besser aus als damals. Sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln.
»Sorry, dass ich nicht Bescheid gesagt habe.«
Seine Fröhlichkeit verwirrt mich. Ich hatte erwartet, dass er mir nach unserem letzten Treffen nie wieder in die Augen blicken will. Offenbar ist er doch erwachsen geworden.
»Willst du nicht mit mir reden?« Er klingt enttäuscht.
Das reißt mich aus meiner Starre. »Ich … sorry, ich … war einfach nur überrascht.« Ich zwinge mich zu einem Grinsen.
»Ja, ich bin auf der Durchreise. Da dachte ich, ich komme spontan mal vorbei. Ist ne lange Zeit, seit wir uns gesehen haben.«
Ich nicke, sage nichts dazu. Wie denkt er heute über das, was damals geschehen ist? Immerhin ist er sogar freiwillig hierhergekommen. Ist er … darüber hinweg?
Wir schweigen uns einige Sekunden an. Es ist diese unangenehme Stille. Die neue Distanz, die es nie zwischen uns gab. Unsere Leben sind nicht mehr dieselben wie damals. Wir sind nicht mehr dieselben.
»Und, wie geht es dir?«
»Gut, gut.« Ich verschweige die Träume, die mich seit Wochen plagen. Selbst am Tag. Und vor allem verschweige ich, dass er darin auftaucht. »Und … wie sieht’s bei dir so aus?«
Er lächelt wieder. Verdammt, ich dachte, ich wäre darüber hinweg. Anscheinend wohl doch nicht. »Ebenfalls gut. Ich bin fast fertig mit meinem Studium. Im Moment suche ich nach einem Job, aber vorher wollte ich ein bisschen reisen.«
Er erzählt weiter, aber seine Worte werden immer dumpfer. Ich drifte ab, ich kann es spüren, aber nichts dagegen unternehmen. Vor meinen Augen taucht wieder diese Welt auf. Knallige Farben um mich herum. Ich liege auf weichem Gras, doch mein ganzer Körper schmerzt. Unwillkürlich greife ich nach meiner Brust. Ein Brennen schießt durch meinen Körper.
Das Blut ist inzwischen getrocknet. Jetzt kann ich die Wunde erspüren. Drei tiefe Kratzer. Sie müssen von einer Kralle stammen.
»Phaya!« Ein Flüstern im Hintergrund lässt mich herumfahren.
Meine Brust sticht bei der Bewegung. »Scheiße«, fluche ich.
»Phaya!« Das Rufen wird lauter, doch da ist niemand …
»Phaya!« Plötzlich wird alles schwarz. Einen Moment später öffne ich die Augen und starre in Nicks Gesicht. Dann erst erblicke ich meine Umgebung. Ich liege mitten auf dem Gehweg. Der Asphalt unter mir ist rau und heiß.
»Geht es dir gut?« Seine Stimme klingt gehetzt. Wie lange war ich gerade weg?
Ich bin zu schwach, um zu antworten, also nicke ich einfach nur.
»Soll ich einen Krankenwagen rufen?«
Ich schüttele den Kopf. »Nick …« Meine Stimme bricht, ich muss neu ansetzen. »Es … tut mir leid wegen damals.«
Ich kann es noch bildlich vor mir sehen. Wir stehen in der Bibliothek, hinter dem letzten Bücherregal. Den ganzen Tag schon schiebe ich es vor mir her. Jetzt zittern meine Hände, ich schwitze so stark, dass ich Angst habe, das Deo reicht nicht aus.
»Was ist?« Nick schaut mich an. »Du willst mir etwas sagen. Spuck’s aus.«
Ich bin dieses Gespräch tausend Mal in meinem Kopf durchgegangen. Doch jetzt sind alle Worte, die ich mir überlegt habe, weg. Mein Gehirn ist wie leergeblasen.
»Ich … ich« Mehr als ein Stammeln kriege ich nicht zusammen. Ich kann es nicht sagen. Ich kann es nicht.
Vielleicht hat mein Gehirn in diesem Moment einen Kurzschluss gehabt. Bevor ich weiß, was passiert, lehne ich mich vor und küsse ihn. Seine Augen weiten sich, eine Sekunde berühren sich unsere Lippen. Dann stößt er mich von sich.
»Was soll das?« Seine Stimme ist laut, so laut, dass es jeder in der Bibliothek hören kann.
Ich sage nichts. An seinem Gesicht kann ich alles erkennen, was ich wissen muss.
»Es tut mir leid«, presse ich heraus, dann drehe ich mich um und renne davon.
»Ach das. Das ist doch schon lange her.« Nicks Stimme holt mich in die Realität zurück. Nach diesem Tag war es nie wieder wie zuvor. Wir haben uns zerstritten, unsere Freundschaft ist zerbrochen.
Nur meinetwegen.
Teil 2 Nathan
»Nathan«, haucht eine Stimme meinen Namen. Ich kenne diese Stimme. Woher sie kommt, weiß ich nicht. Tief aus meinem Kopf. Manchmal ist sie fast nicht zu hören. Manchmal kann ich ihr nicht widerstehen.
Ich sitze in der Bibliothek, wühle mich durch irgendwelche Quellen hindurch und da ist sie wieder. Aus dem Nichts. Noch ist sie still, aber sie wird lauter werden. Irgendwann kann ich ihr nicht mehr widerstehen.
»Nathan.« Dieses Mal ist es nicht die Stimme in meinem Kopf. Sondern Pete. Er taucht neben mir auf, blickt über meine Schulter. »Was machst du?«
Schnell schlage ich das Buch zu, bevor er etwas erkennen kann. Er würde mich für verrückt halten. Ich grinse. »Ich mache jetzt Pause.«
»So was. Ich hatte gerade genau dasselbe vor.« Auch auf seinem Gesicht breitet sich ein Grinsen aus.
Ich stehe auf. Kurz streift meine Hand Petes Arm. Sofort ziehe ich sie zurück. Mein Herz schlägt schneller, meine Haut prickelt. Ich tue so, als wäre nichts geschehen. Als würde ich mir gerade nicht vorstellen, wie ich mit meiner Hand seinen Körper nachfahre.
Verdammt, schlag dir diese dummen Gedanken aus dem Kopf, sage ich mir selber. Wann haben diese Gefühle angefangen? Wir sind schon einige Jahre befreundet. Warum jetzt?
Ich schließe die Augen, atme tief durch. Dann setze ich ein Lächeln auf, verdränge alle Gedanken und gehe mit Pete nach draußen. Der Wind ist eisig, auch wenn kein Schnee liegt. Sofort fröstele ich, trotz Jacke. Warum bin ich nur so empfindlich? Kälte ist echt nichts für mich.
»Hey. Ist dir kalt?« Ohne auf meine Antwort zu warten, legt Pete seine Arme um mich.
Mein Puls steigt auf einen so hohen Wert, dass ich ernsthaft Angst habe, zu sterben. Wie viel hält ein Körper eigentlich aus? Denn gerade hab ich gefühlt 300.
Beruhig dich, sage ich zu mir und könnte im nächsten Moment losprusten. Wie zum Henker soll ich mich nur beruhigen?
»Danke, es … geht schon«, presse ich heraus und bete, dass man das Zittern in meiner Stimme nicht hören kann. Verdammt, meine Gefühle sind echt außer Kontrolle geraten.
»Magst du es nicht?« Er grinst.
Hitze schießt in mein Gesicht. Zum Glück ist kein Spiegel in der Nähe, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass eine Tomate im Vergleich zu meinem Gesicht blass wirken würde. Ich will etwas sagen, aber irgendwie kommt kein Ton aus meinem Mund.
»Du magst es, oder?« Irgendetwas an seiner Stimme ist falsch. Das ist keine einfache Frage. Der Unterton, der darin …
Ich kann nicht mal reagieren, da beugt er sich schon vor.
Unsere Lippen treffen sich. Mein Hirn setzt aus, alles geschieht wie automatisch. Ich schmecke die Süße seiner Lippen, er zieht mich näher zu sich heran. Ewigkeiten verharren wir in dieser Position. Ich schließe die Augen, mein ganzer Körper fühlt sich an wie elektrisiert. In meinem Bauch kribbelt es, mein Atem geht stoßweise, aber trotzdem will ich nicht aufhören, will seine Lippen weiter spüren.
»Ich mag dich, Nathan«, sagt Pete, als wir uns lösen.
Ich bin völlig durch den Wind, nicke einfach wie ein Blödmann.
»Du magst mich auch, oder?« Er setzt ein Lächeln auf, aber dieses Mal wirkt es nicht so sicher.
Ich weiß es nicht einmal selber. Aber irgendetwas hat sich verändert. Es fühlt sich an, als ob wir … als ob wir uns schon lange vorher geliebt haben. »Ja«, hauche ich schließlich.
»Nathan.« Die Stimme in meinem Kopf ist wieder da. Nein, nein, nein, nicht jetzt. Sie ist viel lauter, ich kann sie nicht mehr ignorieren. Ich versuche, mich gegen den Sog zu wehren, aber ich bin machtlos.
Plötzlich stehe ich knöcheltief im Wasser. Es ist eiskalt hier. Dunkelheit um mich herum, die Sonne ist hier vom Boden aus nicht zu sehen. Riesige Bäume mit fast schwarzen Blättern schirmen das Licht ab. So kommt fast nichts hier unten an.
Einmal bin ich auf einen Baum geklettert und habe den Himmel gesehen. Er strahlt in den Farben eines Regenbogens. Wunderschöne rosa Wolken ziehen dort entlang und manchmal erblickt man jemanden, der durch die Wolken fliegt.
Aber ich habe keine Flügel.
Stattdessen krieche ich hier unten am Boden herum, in irgendeinem dunkelen Sumpf.
»Nathan.« Die Stimme ist wieder da. Hier in dieser Welt habe ich sie noch nie gehört. Sie ist irgendwo vor mir. Aber ich kann nichts sehen. Die Sumpfpflanzen und Bäume verdecken meine Sicht.
Plötzlich wird es hell. Eine strahlende Person tritt auf die kleine Lichtung, auf der ich mich befinde. Es ist eine Frau. Zumindest ab ihrem Oberkörper ab. Darunter sind keine Beine, sondern ein schlangenartiger Körper, der ihre Beine ersetzt. Der Schlangenteil muss mindestens zehn Meter lang sein.
»Endlich treffen wir uns, Nathan.« Ihre Stimme klingt weich und zieht mich sofort in einen Bann. »Leider haben wir keine Zeit. Er ist schwer verletzt. Wenn du ihn nicht rettest, wird er bald sterben.«
»Wer?« Ich blicke mich um, kann aber niemanden sehen. »Wen soll ich retten?«
»Phaya.«
»Ich kenne keinen Phaya.« Was sollte das alles hier. War das ein Spiel? Wurde er gerade verarscht.
»Du kennst Phaya unter einem anderen Namen. In deiner Welt heißt er Pete.«
Ich kann nicht anders. Ich muss lachen. Es … es ist einfach absurd. In deiner Welt heißt er Pete. Ist das mein Gehirn? Stimmt etwas nicht mit mir? Ich sollte echt einen Arzt aufsuchen.
»Hör zu, Nathan.« Die Frau spricht mit einem Mal lauter. Ich schrecke zusammen. »Wir haben wirklich keine Zeit. Ich kann nicht alles erklären. Aber lass es mich so erklären. Du bist nicht nur Nathan. Das ist nur eines deiner Leben. Du und Phaya, ihr seid so etwas, was die Menschen Gottheiten nennen würden. Und ihr seid dazu bestimmt, in all euren Leben zusammenzukommen. Aber … es gibt da Leute, die euch jagen. Und jetzt ist Phaya in Gefahr. Wenn er stirbt, wird auch Pete sterben. Das darf nicht geschehen.«
Ich verstehe nur Bahnhof. Es ist … es ist einfach alles viel zu viel. Viel zu schnell, um es zu verarbeiten.
Aber tief in mir spüre ich, dass die Frau die Wahrheit sagt.
»Wo ist er?«, frage ich.
Die Frau zeigt mit dem Arm nach links. »Ich bringe dich hin.« Dann verschwindet ihr Schlangenkörper im Dickicht.
Ich zögere keine Sekunde und folge ihr in die unbekannte Welt.
niklasatw
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