Die Wahrheit

Bis zur Oscar-Verleihung am 10. April 1967 war das vorangegangene Jahr einer Turbulenz gleichgekommen, die jede Mondlandung in den Schatten stellte. Das Leben als Personen der Öffentlichkeit hatte mittlerweile sowohl bei Lorenz als auch bei mir erste Spuren hinterlassen. Wir versuchten zwar seit jeher unser Privatleben aus guten Gründen so geheim wie möglich zu halten, doch drangen zuweilen Fotos an die Zeitschriften, die mich daran zweifeln ließen, dass unsere Scharade noch lange Bestand haben würde. Spätestens seit Lorenz Oscar-Nominierung als „Bester Produzent“ lauerten Paparazzi an jeder Straßenecke. Ich vermied es, so gut es mir möglich war, unser neues Haus, das wir nach anfänglichem Zögern in der Nähe von Santa Monica gekauft hatten, zu verlassen. Ich wollte den Frieden genießen, bis alle über unsere neue Wohnsituation Bescheid wussten.

So kam es, dass unsere Anwesenheit bei der Oscarverleihung meinen ersten öffentlichen Auftritt seit November darstellte. Lorenz neuer Film „Darling, Darling“ war erfolgreich in den Kinos angelaufen und hatte fünf Nominierungen ergattern können. Man munkelte schon seit Wochen, dass er den Preis erhalten würde. Und wenn ich eine Sache während der letzten Jahre in Hollywood gelernt hatte, dann, dass an allen Mutmaßungen stets etwas dran und eine Überraschung selten eine Überraschung war, sondern eher ein ausgeklügeltes Spiel. Und Lorenz wusste das auch. Also schmissen wir uns guten Gewissens in Schale.

Während er eine Maßanfertigung von keinem geringeren als Yves Saint Laurent trug, war ich in einen breitgefächerten Traum in Azur geschlüpft: ein glänzendes, trägerloses Kleid, welches meinen Busen so prall nach oben drückte, dass ich mir jeder Aufmerksamkeit sicher sein konnte. Es schlang sich um meine Kurven wie feiner Samt. Ich liebte dieses Kleid.

Alles schien perfekt. Doch so sehr wie Lorenz und ich auch wie eines der glücklichsten Paare Hollywoods wirkten, so falsch und einstudiert war es.

Wir lebten eine Lüge. Eine große, dreckige, lebensveränderte Lüge, gehalten von nichts geringerem als Erfolg, Bestechung und Geld. Nichts war real, denn ich hatte ihn mit 16 in einer Bar in der Nähe von Hollywood kennengelernt, die nicht gerade für ihr heterosexuelles Publikum bekannt war. Nur durch einen guten Trick konnte unser einziger Verbündeter, sein Fahrer Mike, wenig später verhindern, dass er von der Polizei geschnappt wurde. Lorenz war damals mit 18 schließlich schon ein aufgehender Star und jede Beziehung zu jenem Milieu hätte ihn seine Karriere und – schlimmer – seine Freiheit kosten können. Ich war unbekannt, gerade mit meiner Mutter in die Stadt gezogen und dabei, meine Vorlieben das erste Mal zu erkunden. Ich wusste genau, dass auch mein Leben anders verlaufen wäre, wenn ich ihn nicht an jenem Abend getroffen hätte. Wir schuldeten einander viel. Dennoch war es ein abgekartetes Spiel, das uns im Schutz einer mittlerweile fast zehnjährigen Ehe über Wasser hielt.

Doch wir gaben uns auch alle Mühe, ab und an einen kleinen Skandal á la Hollywood in der Presse zu platzieren, der die Medien befriedigte, die ständig in unser Privatleben vordrangen. So auch Lorenz gespielte Liebelei mit Daisy Price.

Daisy war mit Abstand die schönste Frau, die ich je zu Gesicht bekommen hatte. Sie war nur wenige Monate jünger als ich und, obwohl ich es nie gerne zugab, um einiges schöner. Blondes Haar, tiefblaue Auge und Hüften, die jeden Mann, der sich mit so etwas auskannte, in die Knie zwangen. Amüsant nur, dass sie selbst Männer mit keinem Blick würdigte. Lorenz hatte sie vorgeschlagen, ich hatte zugestimmt und mich nach nur einem Abend mit Rotwein und gutem Essen in sie verliebt. Doch Märchen sind nicht real und wir zerbrachen daran. Unsere Leben waren zu unterschiedlich und wir trafen beide Entscheidungen, die in einem so gewaltigen Streit endeten, der mir das Herz brach und dazu führte, dass wir uns fast vier Jahre lang nicht sahen. Wie es ihr ging und mit wem sie so ihr Leben bestritt, erfuhr ich nur aus eben jenen Klatschblättern, in denen ich vermied, abgelichtet zu werden.

Der Abend der Oscarverleihung verlief anfangs wie vorgesehen. Lorenz und ich glänzten im Blitzlichtgewitter der Fotographen. Wir gaben Interviews, ich lobte mindestens 20 Mal seine Arbeitsmoral und drückte meinen Busen in die Kameras.

Doch gerade als wir zu unseren Plätzen geführt wurden, erblickte ich einige Reihen hinter uns die schönsten Augen der Welt und ich krallte mich so fest in Lorenz Oberarm, dass er zusammenkrampfte. Auch musste er mich stützen, damit ich nicht nach hinten in meinen Sitz fiel. Glücklicherweise bekam es niemand mit. Auch nicht Daisy, die an der Seite von „Hollywoods attraktivstem Mann“, Daniel McCarthy, einige Reihen hinter uns platznahm. Sie wirkte resigniert und würdevoll und schien genau zu wissen, dass sie jede andere Frau in diesem Raum um den Mann an ihrer Seite beneidete. Jede außer mir. Ich beneidete ihn.

„Wann hast du vor, dich bei ihr zu entschuldigen?“ Lorenz flüsterte mir die Frage ins Ohr, ließ es aber aussehen wie einen Kuss auf die Schläfe.

Ich zog sacht die Augenbrauen in die Höhe. „Wenn sie sich bei mir entschuldigt.“

Er runzelte die Stirn, als hätte ich nicht verstanden, um was es ging.

„Du liebst sie.“ Wieder küsste er mich, diesmal auf die Lippen. Sein Aftershave roch würzig und männlich. Er hasste es, bevorzugte zu Hause sanftere Düfte wie Honig oder Zimt.

Ich nickte süß grinsend, denn neben uns wurden Herrschaften zu ihren Plätzen geführt.

„Ich will, dass du glücklich bist.“ Seine Worte ließen Gänsehaut über meine nackten Schultern wandern. „Wenn ich gewinne, redest du mit ihr.“

Ich zog scharf Luft ein, nicht fähig, meine Überraschung zu unterdrücken. Ich wollte gerade zu einem stummen Protest übergehen, als er kurz und dominant den Kopf schüttelte.

„Das ist mein Wunsch, Ruby. Ich bitte dich. Tu es für dich. Tu es für dein Herz und bitte, tu es auch für sie. Dieser Typ, mit dem sie geht …“Lorenz genehmigte sich einen Blick. „Er ist nicht gerade ein Kavalier.“

„Es ist fake“, flüsterte ich so leise und ruhig es mir möglich war. Sie ging nur mit ihm, damit sie heimlich andere Frauen treffen konnte und in der Öffentlichkeit ein Alibi hatte. Da war ich mir sicher und Lorenz wusste das auch, denn wir taten es ja nicht anders. Doch bekam ich nur einen weiteren grimmigen Blick von ihm. Lorenz war ein Gutmensch. Immer wollte er, dass es allen, die er mochte, gut ging. Und da er mich mochte – sehr mochte – und wusste, dass ich Daisy noch immer liebte, wollte er auch, dass es ihr gut ging.

Dann wurde das Licht gedimmt und als sie etwa eine Stunde später die Nominierten für „Bester Produzent“ aufriefen, hielt ich Lorenz Hand und sah mich im Saal nach Daisy um. Doch wurde meine Suche jäh beendet, als sie seinen Namen aufriefen und er wirklich gewann. Ich küsste ihn, zwar kurz und bedacht, aber so, dass es glaubwürdig war, und gab ihn frei, damit er auf die Bühne gehen konnte. Ich freute mich so unglaublich für ihn, dass mir tatsächlich die Tränen kamen. Und als er hinter die Kulissen verschwunden war und die nächste Kategorie anfing, bahnte ich mir einen Weg Richtung Toilette. Die Tränen der Freude waren Tränen des Herzschmerzes gewichen und wollten einfach nicht aufhören.

Wenig später, der Raum war leer, da alle anderen gebannt der Verleihung beiwohnten, stand ich in einer Toilettenkabine und heulte mir die Augen aus.

„Ruby?“

Man verbringt nicht Jahre damit, sich nach einer Stimme zu sehnen, um sie nicht zu bemerken, wenn man sie endlich wieder hört.

„Daisy?“, fragte ich und tupfte mir die Augen mit einem Stück Klopapier.

„Ich habe dich verschwinden sehen.“ Ihre Stimme war leise.

Ich öffnete langsam die Tür und als ich sie erblickte, rotes Kleid, blondes Haar und mit einer Ausstrahlung, die den gesamten kleinen Raum ausfüllte, konnte ich an ihrem sanften Blick und den geröteten Wangen sehen, dass sie immer noch etwas für mich empfand.

„Du bist so schön wie eh und je“, sagte sie und lehnte sich an das Waschbecken hinter ihr.

„Ich bin verheult wie ein Pudel“, sagte ich und ließ meine Arme unelegant fallen.

Über ihr schönes Gesicht wanderte ein breites Lachen.

„Ja, aber so real gefällst du mir beinah noch besser.“ Ihren Augen konnte ich entnehmen, dass sie ihre Worte sogleich bereute. Doch auch, dass sie sie wirklich so gemeint hatte.

Ich atmete tief ein und trat auf sie zu. Sie richtete sich auf, mir trotzdem in der Größe um mindestens fünf Zentimeter unterlegen, und als ich ihren Atem auf meinen Lippen spüren konnte und sie sich leicht nach vorne lehnte, wusste ich, dass wir unseren letzten Tanz noch nicht getanzt hatten.

„Ich bin immer noch ich, Ruby. Ich will dich zu 100%, ich will mit dir essen gehen und ins Theater. Ich will alles, das Schwere und das Einfache. Verstehst du?“

Ich schloss langsam die Augen. All die Jahre hatte ich mich hinter der Ehe mit Lorenz versteckt. War nie mit Frauen aus dem Haus gegangen, mit denen ich auch nur die winzigste Liebelei gehabt hatte. Daisy war da ganz anders. Sie nahm alle Konsequenzen in Kauf. Sie lebte verdammt gefährlich in einer Welt, die dich schneller wieder vergaß, als dass man Superstar sagen konnte. Doch nie hatte ich für jemanden mehr empfunden als für Daisy, nie hatte ich so geliebt, auch nach Jahren der Funkstille wollte ich sie wie am ersten Tag. Also sprang ich über meinen Schatten und als Antwort auf ihre Frage presste ich sie wieder gegen das Waschbecken und küsste sie im Wissen, dass jede Sekunde jemand in diese Toilette reinplatzen und unsere Leben für immer zerstören konnte, als gäbe es wirklich kein Morgen mehr.

Die Wirklichkeit

Das kalte metallene Endstück des kleinen Teleskops grub sich in seine Augenhöhle. Es war eine wolkenlose, windstille Nacht und die Sterne am Himmel strahlten, erleuchteten den Horizont und auch seinen Geist. Natürlich wusste er, dass die Sterne selbst kein Licht besaßen, eines der ersten Dinge, die sein Vater ihn vor vielen Jahren gelehrt hatte, doch konnte man ihre Gestalt doch ganz recht als ein Strahlen wahrnehmen. Die Sommernacht war bereits vorangeschritten, doch er sah keinen Grund, zu Bett zu gehen. Nichts wartete auf ihn. In seinem Leben gab es keine andere Idee als die der Sterne.

Gerade, als er seinen Blick nach einer langen Weile wieder auf seine Notizen in seinen Händen richtete, die er nur spärlich erkennen konnte, knarzte hinter ihm die hölzerne Leiter und er wandte sich erstaunt um.

„Charles?“ Eine ihm bekannte weibliche Stimme erklang und er drehte sich wieder zu seinem Teleskop. Sie sollte ihn doch nicht während seiner Arbeit stören.

„Charles?“ Diesmal rief sie seinen Namen lauter und wieder knarzte das Holz. Er atmete aus.

„Ich bin hier oben.“ Seine Worte waren so leise, dass sie sie nur hätte hören können, wenn sie ganz neben ihm gestanden hätte. Er wusste das, doch konnte er sich kein lauteres Kommentar abringen, hätte es doch die Ruhe der Nacht nur noch weiter gestört.

„Ach, hier bist du.“ Er musste sich nicht umdrehen, um zu sehen, dass sie die Stufen hinaufgeklettert war und nun wirklich neben ihm stand. Dennoch löste er nicht den Blick, sah weiter mit einem zugekniffenen und einem weit geöffneten Auge in den klaren Nachthimmel zu einem weit entfernten, kleinen Punkt, den er vor wenigen Stunden während seiner Forschungen im Institut an einem der gigantischen Teleskope entdeckt hatte.

„Ich habe dir Tee gebracht.“ Sie sprach deutlich und … laut. Zu laut für seinen Geschmack. Doch besaß er die Courage nicht, ihr dies auch mitzuteilen.

„Warum bist du noch auf, Klara?“ Wieder flüsterte er.

„Wie gesagt … Tee.“

Er wollte es ignorieren. Sie sollte schon längst zu Hause und vermutlich im Bett sein. Schließlich bezahlte er keine Überstunden. Auch nicht die seiner langjährigen Assistentin Klara. Und dies wusste sie mit Sicherheit auch. Doch gab er sich, um wenigstens etwas Dankbarkeit für die Idee mit dem Tee zu zeigen und weil er merkte, dass er eigentlich wirklich gerne jenes Heißgetränk genießen würde, einen Ruck und löste sich von seinem Teleskop, sah flüchtig zur Seite in Richtung Klaras, um ihr den Tee abzunehmen und …

Seine Atmung stockte. Er blinzelte zweimal fest. Was zum …?

„Ä … “ Mehr bekam er nicht über die Lippen. Er rang nach Luft, fand sie schließlich und musste einmal kräftig Husten.

„Kl … Klara, w … was tragen Sie denn da?“

Seine Assistentin sah erschrocken an sich hinunter.

„Oh. Äm. Ist es nicht gut? Ich dachte, dass wäre für den Abend geeignet. Es hieß schließlich Ballkleidung.“

Er konnte seinen Blick nicht von ihr lösen und musste seine Lippen fest zusammenpressen, damit sein Mund nicht offenstand.

Sie trug ein wallendes, dunkelgrünes Abendkleid mit einem Ausschnitt … Himmel … So hatte er sie noch nie zuvor gesehen. In seiner Magengrube bebte es. Ein Zucken überkam ihn, ein Flattern? Wieder musste er schlucken.

„S … ind … Sie etwa ssooo … die die die Stufen hier hinaufgeklettert?  III … In einem Abendkleid?“

Klara sah erneut an sich hinunter und stellte die dampfende Tasse Tee, die sie immer noch in den Händen hielt, neben ihn auf ein erhöhtes Tischchen, auf dem eigentlich immer seine Aufzeichnungen Platz fanden.

„Äm, ja.“ Sie sah ihn an und über ihre Lippen huschte ein entschuldigendes Lächeln. „Scheint so.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich wollte noch einmal nach Ihnen sehen. Schließlich stehen Sie seit vier Stunde hier oben.“

„Aaa … Aber. In diesem Kleid. Warum?“

Erst jetzt schaffte er es seinen Blick von ihrem Outfit zu nehmen und nach dem Tee zu greifen, bevor er aufsah und … Himmel … Diese Augen!

Klara trug eigentlich immer eine dicke, umrahmte Brille, war nie stark geschminkt – was er sehr an ihr schätzte, denn er wollte nur mit Leuten arbeiten, die ihrer Arbeit alles gaben und dazu gehörte schlichtweg auch, dass man nicht alle zehn Minuten auf die Toilette rannte und sich neu Makeup auftrug – und außerdem war sie eine fleißige Lernerin. Aber jetzt … Ihre Augen glänzten im sachten Sternenlicht wie Perlen.

So hatte er sie noch nie gesehen. So glamourös, so … schön. So wunderschön … Himmel … Sie strahlte. Ihr Kleid, ihr Haar, ihr Teint. Alles schien auf einmal zu glänzen. Hell und wundervoll wie … wie die Sterne selbst. Er musste erneut schluckte.

„Äm, Charles? Ist alles in Ordnung?“

Er konnte nicht mehr verhindern, dass sein Unterkiefer sich von dem oberen trennte.

„Für … Wo … Wo wollen Sie denn so hin?“

Er faltete seine Hände zitternd um die warme Tasse, als wäre sie das Einzige, an dem er sich festhalten konnte, als wäre sie sein einziger Anker.

„Na, zu den Filmfestspielen. Das hatte ich Ihnen doch heute Vormittag erzählt. Und gestern auch und ich glaube auch Montag schon.“

„Ah.“ Mehr brachte er noch immer nicht über die Lippen.

„Charles. Sie arbeiten zu viel und Sie müssten mir auch mal zuhören. Zumindest manchmal.“

Er wusste, dass er ein schlechter Zuhörer und komischer Kauz war. Das wusste er schon immer. Er machte sich nichts aus anderen Leuten und Interessen, immer schon hatte er nie einen Draht zu der Welt. In der Schule war er ein Außenseiter gewesen und hatte sich lieber mit seinen Büchern, der Mathematik und dem Weltraum beschäftig. Eigentlich wie jetzt auch. Aber vor allem Frauen waren ihm immer suspekt gewesen. Schöne, grazile, liebliche Wesen, die, warum auch immer, Muskeln stets einem wachen Geist vorzogen oder die Welt und Social Media der Realität in Bibliotheken oder Gartenlauben. Er konnte es sich nicht erklären und war sich sicher gewesen, dass er nie eine Dame finden würde, die bereit dazu gewesen wäre, mit ihm ein Leben zu führen, geschweige denn ihn vielleicht sogar etwas – ein bisschen zumindest – zu lieben.

Er war 37 und nie hatte er auf einer anderen Ebene als auf der, der professionellen Assistentin, über Klara nachgedacht. Wie lang war sie jetzt schon bei ihm? Drei, nein vier Jahre? Oder waren es sogar schon sieben? Oh, Himmel. Sieben Jahre und immer hatte er sie für eine Frau gehalten, die … nun ja … eben eine Frau war, wie jede andere. Aber sie war hier. Sieben Jahre schon rechnete sie jeden Tag mit ihm Formel und sah in die Sterne, erledigte seine Finanzen und Telefonate, schrieb E-mails und … und brachte ihm Tee.

Mit diesem Gedanken fand er sich blitzschnell wieder in der Realität ein. Wie hatte er all die Jahre nur so blind sein können. Und jetzt war es zu spät. Diese wunderschöne Frau ging sicher mit einem anderen Mann in diesem umwerfenden Kleid zu diesen …

„W wwer ist Ihre Begleitung heute Abend?“ Sein Mund fühlte sich auf einmal so unfassbar trocken an. Vermutlich hatte er ihn offen stehe gelassen. Immernoch zittrig brachte er seine Lippen an den Tee, trank einen kleinen Schluck.

Klara lehnte den Kopf schief.

„Äm. Also … ich treffe mich dort mit meiner besten Freundin und ihrem Mann. Falls Sie das meinen.

„Also … Sie haben keine persönliche Begleitung?“

„Nein.“ Das Wort klang so, wie sie es sagte, ungewohnt hohl aus ihrem Mund.

Er merkte sofort, dass er sie missmutig gestimmt haben musste.

„Verzeihung. Bitte. Das ist eine Frage, die … die gehört sich nicht. Entschuldigen Sie, Klara.“ Vorsichtig stellte er die Teetasse zurück auf die Erhöhung.

Er hatte sich in sich getäuscht. Er war nicht nur blind, sondern auch strotze hohl!

„Ach schon gut, ich …“ Sie wollte gerade zu einer beschwichtigenden Handbewegung ansetzen, da fiel er ihr, ungewohnt enthusiastisch, ins Wort, denn ihm kam eine wilde Idee.

„Ich habe etwas für Sie.“ Seine Stimme hatte Festigkeit gewonnen.

Klara musste mehrmals blinzeln.

„Ich möchte Ihnen etwas schenken. Weil … weil … Sie immer so zuvorkommend sind und … und mich schon so lange begleiten und mich Kauz aushalten müssen. Ich weiß ja, dass ich ein komplizierter Mitarbeiter bin und … und … es tut mir auch wirklich leid … aber … “ Er presste die Lippen aufeinander. Himmel! Er konnte nicht ertragen, wie er so viel Stuss zusammenstottern konnte.

Er räusperte sich und sah ihr fest in die wunderschönen, blauen Augen.

„Hier.“ Er drehte das Teleskop in ihre Richtung, sodass sie hineingucken konnte.

„Sie wissen doch sicher, dass ich heute Vormittag einen Asteroiden gefunden habe. Er ist noch nicht verzeichnet.“

Sie hob leicht eine Braue und griff nach dem Teleskop, führte es langsam zu ihrem Auge und schwenkte es hin und her, um den Himmel nach dem Asteroiden abzusuchen bis sie hingefunden hatte.

„Wunderschön“, flüsterte sie. „Beeindruckend.“

„Ja, in der Tat“, flüsterte nun er, doch galt sein Blick das erste Mal seit einer Ewigkeit bei diesen Worten nicht dem Himmel, sondern ihr. Er ließ seine Augen erneut über sie schweifen. Er war wirklich blind gewesen und sogleich spannte sich eine tiefe Traurigkeit über seinen Geist. War er ein so schlechter Mensch?

Doch schon in der nächsten Sekunde rissen ihn Klaras Worte aus den negativen Gedanken.

„Und was wollten Sie mir jetzt schenken?“

Er griff langsam nach dem Teleskop, richtete es wieder ordnungsgemäß aus und trat einen Schritt auf sie zu.

„Klara, ich möchte Ihnen für all die Jahre der Zusammenarbeit danken und mich für mein mürrisches Verhalten ordnungsgemäß bei Ihnen entschuldigen. Ich bin ein simpler Mann, das weiß ich, und ich habe keine Ahnung, was Sie mögen und was nicht und vor allem nicht, was man schenken sollte und was lieber nicht, aber … ich werde ihn nach Ihnen benennen.“

Klaras Blick wurde bei seinen Worten in Sekundenschnelle trüb. Sie hatte sofort verstanden. In ihrem Augenwinkel bildete sich eine kleine Träne, rollte ihre rechte Wange hinunter.

Sogleich griff er in seine Hosentasche, zog ein Stofftaschentuch draus hervor und reichte es ihr.

„Charles … ich … ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.“

„Was halten Sie von Klara33? Sie … sind doch 33 oder?“

Sie nickte knapp, schien zu Worten nicht fähig, tupfte sich nur die Tränen von den Wangen.

„Sind Sie in einem Zustand, in dem ich Sie noch etwas fragen kann, Klara?“

Bei seiner Wortwahl musste sie unweigerlich grinsen. Ihr entwich sogar ein kleiner Seufzer.

„Ja.“

„Darf ich mich als Ihre Begleitung heute Abend anbieten?“

Ihre Augen wurden auf einmal groß und eine frische Welle Fröhlichkeit glitt über ihre Züge.

„Aber natürlich! Haben Sie denn einen Smoking?“

Er nickte langsam. „Ja, von den Konferenzen. Er war recht teuer, aber er ist sehr bequem. Sogar um die Schultern.“

Wieder musste sie grinsen, diesmal breiter.

„Ich weiß. Ich habe ihn Ihnen gekauft, schon vergessen? Aber ja, der sollte passen.“

Er trat vor und hielt ihr seinen Arm hin, damit er ihr die Stufen zurück in seine Dachgeschosswohnung hinunterhelfen konnte. Schließlich trug sie ein wunderschönes, weites Kleid und außerdem hohe Schuhe.

„Und welchen Film schauen wir?“

Klara hakte sich bei ihm ein und sah ihn zufrieden lächelnd an.

„Einen Klassiker. Vielleicht gefällt er Ihnen sogar, obwohl es nicht um Sterne oder andere Himmelskörper geht. Es handelt sich um den Lieblingsfilm meiner Mutter.“

Sie sah ihn nun voll an, während er seine Augenbrauen neugierig in die Höhe zog.

„Er ist aus den 60ern“ Ihr Lachen wurde breiter „Darling, Darling“ von Lorenz Brian. Wollen Sie wissen, mit wem er damals verheiratet war als der Film rauskam?“ In Klaras Augen blitzte Vorfreude auf, die ihn ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Er nickte langsam, als er nach ihr die ersten Stufen nahm.

„Mit der schönsten Frau des 20. Jahrhunderts! Ruby Moore!“

Tia Bibra