Es begann mit einem harmlosen Rauschen. Sanft wie das Meer an einem fast windstillen Tag. Man hätte es für meditative Klänge halten können.

Aber als Sienna das Rauschen hörte, sprang sie auf. Ihr Bein stieß gegen den Glastisch, sie fluchte auf. Gab bestimmt einen blauen Fleck. Doch dafür war jetzt keine Zeit.

Sie sprintete ins Wohnzimmer, stoppte abrupt. Vor ihr in der Glasscheibe war ein Riss. Er zog sich von oben links quer über die ganze Scheibe bis ins untere rechte Eck. Oh Gott. Wie konnte das sein?

Sie wagte kaum zu atmen. Jede noch so kleine Vibration könnte das Glas zum Springen bringen. Wie war so etwas möglich? Die Scheibe war aus extra stabilen Material, um dem Druck standzuhalten. Sogar ein Statiker hatte alles überprüft. Und jetzt ein Riss durch das gesamte Glas?

Ihre Augen suchten das Wasser dahinter ab. 50 Kubikmeter Flüssigkeit kurz davor, ihre Wohnung zu überfluten.

Ihre Hand griff nach ihrem Handy. Panisch tippte sie die Notfallnummer ein, musste zweimal neu ansetzen, weil sie die falsche Taste erwischte. Zu sagen, ihre Finger zitterten, war eine maßlose Untertreibung.

Sie kniff die Augen zusammen. Wo war es? Das Wasser war völlig klar, aber stockfinster. Sie konnte unmöglich tief hineinschauen. Verdammt. Wenn hier alles auseinanderbrach, war ihre ganze Forschung der letzten Jahre verloren.

Endlich, nach dem dritten Klingeln, ein Knacken. »Hallo?«, meldete sich eine tiefe Männerstimme.

»Ich hab ein Problem.« Sie flüsterte, auch wenn es irrational war. Die Schallwellen, die von ihr ausgingen, hatten eine viel zu geringe Energie, um das Glas zum Bersten zu bringen.

»Die Scheibe ist kurz davor, zu brechen.«

Stille in der Leitung. Hatte er aufgelegt?

Aber dann nach einigen Sekunden ein Seufzen. »Wie kann das sein? Gab es ein Beben in deiner Region oder was ist los?«

Ihr Blick fiel auf die Sensoren an der Wand. Sie zeichneten die seismische Aktivität auf. Das war überlebenswichtig in diesen Gegenden. »Alles negativ. Kein Beben. Keine sonstigen Anomalien.«

»Was soll es sonst gewesen sein? So eine Scheibe kann nicht einfach so brechen, Sienna?«

»Weiß ich doch!« Sie schluckte, als diese Worte viel zu laut aus ihrem Mund kamen. Aber natürlich geschah gar nichts, auf die Physik war Verlass. »Ist mir auch scheiß egal gerade. Wenn das Glas bricht …« Sie wagte es nicht, den Satz zu Ende zu denken.

Was geschah, wenn 50 Kubikmeter Wasser diesen Raum fluteten?

»Ich schick ein U-Boot. Geh in den Saferaum.«

Es knackte erneut. Aufgelegt.

Er hatte recht. Eigentlich hätte sie sich sofort in den Saferaum begeben müssen, der einzige Raum, der vom restlichen System abgekoppelt und mit einem eigenen Lebenserhaltungssystem versehen war.

Sie wollte sich gerade umdrehen und auf den Weg dorthin machen, als sie einen schwarzen Flecken bemerken. Die Ränder waren ausgefranst, die Farbe nur ein wenig dunkler als das umgebene Wasser. Vorsichtig trat sie einen Schritt auf die Scheibe zu.

Bildete sie sich das nur ein?

Nein, der Fleck bewegte sich jetzt im Wasser. Schnelle, ruckartige Bewegungen und das Ding schwebte durch das Wasser. Wie war das möglich?

Am Tag zuvor sah es noch ganz anders aus. Plötzlich kam der Fleck aus der Dunkelheit angeschossen, näherte sich der Scheibe. Sie hielt den Atem an. Kurz davor, wenige Zentimeter vom Glas entfernt, stoppte das Wesen. Jetzt konnte man sehen, dass es sich um eine Qualle handelte.

Die Qualle, mit der sie seit Monaten experimentierte. Und die plötzlich über Nacht so riesig geworden war, dass sie nun die ganze Scheibe ausfüllte. Zehn mal drei Meter.

Sie starrte wie gebannt auf das Tier, konnte ihren Blick nicht davon lösen. Es besaß keine Augen, trotzdem hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Ein Schauer lief über ihren Körper, sie fröstelte mit einem Mal.

Ein Tentakel landete auf der Scheibe. Es knackte, Sienna zuckte zusammen. Doch die Scheibe hielt. Ein Zweiter landete direkt daneben.

Hatte das Tier den Riss verursacht? Wenn es plötzlich so gewaltig angewachsen war, musste der Käfig viel zu klein sein. Wieso aber hatte sie die Qualle dann gerade nicht sehen könn–?

»Oh Gott«, entfuhr es ihr.

Wieder griffen ihre Hände nach ihrem Handy. Sie drückte auf die Monitoringapp, die darauf installiert war. Schon als sie sich öffnete, sprangen ihr förmlich rote Warnzeichen entgegen.

»Nein.« Sie tippte auf die Kontrolle des Käfigs und …

… erfror in der Bewegung.

»Nein.« Nur langsam drang die Erkenntnis vor, was das für sie bedeutete. In den Saferaum gehen, konnte sie sich sparen.

Wieder tippten ihre Finger die Notfallnummer ein.

»Hallo? Ist was passiert, Sienna?«

»Check die Außenkameras.«

»Was?«

»Mach einfach.« Noch immer hatte sie ihren Blick auf die Qualle gerichtet, verfolgte jede ihrer Bewegungen. Das Glas knackste erneut, bei jedem noch so kleinen Geräusch blieb ihr Herz beinahe stehen.

»Ach du Scheiße!«, kam es aus ihrem Handy. »Wie zum Henker ist das passiert? Die Scheiben vom Käfig waren aus Panzerglas mit Dreifachverglasung.«

»Ich kann es dir sagen.« Erneut warf sie einen Blick auf die roten Warnhinweise. Käfig durchbrochen. Keine Abriegelung zum Ozean vorhanden. »Es könnte vielleicht daran liegen, dass unsere Qualle jetzt plötzlich über zehn Meter lang geworden ist.«

Stille in der Leitung.

»Verdammt. Wie …?«

Wenn sie das nur wüsste.

»Das U-Boot ist auf dem Weg. Hoffen wir, dass das Glas durchhält …« Auch er wagte nicht, auszusprechen, was sonst geschehen würde.

50 Kubikmeter Wasser fasste der Käfig. Das wäre schon schlimm genug, aber die Station würde das aushalten. Dafür hatte man extra den Saferaum gebaut. Aber jetzt waren da keine 50 Kubikmeter mehr. Sondern der ganze Ozean. Mit nur dieser Scheibe als Schutz.

»Wie lange noch, bis sie da sind?«, fragte sie.

»Noch zwanzig Minuten etwa. Versuch vielleicht irgendwie, das Glas zu kleben. Irgendwo sollte Notfallharz sein …«

Der Rest seiner Worte ging unter, denn in diesem Moment krachte es. Sie zuckte zusammen. Ein weiterer Tentakel klebte an der Scheibe. Ein Knacken. Dann ein neuer Riss, der sich von oben ausbreitete. Wie in Zeitlupe kroch der Riss voran, zusammen mit einem hässlichen Knackgeräusch.

Instinktiv hielt sie den Atem an, starrte auf die Qualle. Noch ein weiterer Tentakel und die Scheibe würde bersten.

Plötzlich war da ein Geräusch. Tief und dumpf. Die Gegenstände auf dem Tisch vor ihr vibrierten. Mit jeder Faser ihres Körpers spürte sie die Schwingungen des Tons.

War das …? Kam das von der Qualle vor ihr?

Erneut ein Ton, tief und dumpf wie zuvor. Doch dieses Mal eindeutig höher.

Sprach die Qualle gerade?

Ohne darüber nachzudenken, tippte sie auf den Aufnehmenknopf auf ihrem Handy.

Eine weitere Reihe von Tönen. Unterschiedlich in der Höhe, aber alle im tiefen Bassbereich. Der ganze Raum begann zu vibrieren. Die größte Komponente musste im Infraschallbereich liegen, stellte sie fest.

Dann ein Grölen. Dieses Mal viel lauter als alles zuvor. So laut, dass sie sich die Ohren vor Schmerzen zuhalten musste. Der Raum schwankte.

Und dann zerbarst die Scheibe.

Es dauerte keine Sekunde, da hatte das Wasser den Raum geflutet.

Sie wurde umhergerissen von den Wassermassen, knallte gegen etwas. Pochen im Kopf, alles um sie herum war so kalt. Schwärze, nur Schwärze um sie. Sienna konnte sich nicht mehr bewegen.

Sie schlug um sich, wollte nach etwas greifen, aber da war nichts.

Plötzlich berührte sie etwas am Bein. Es fühlte sich weich an, so wie ein Seidentuch. Ein tiefer Ton, direkt neben ihr.

Die Qualle, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie hatte keine Zeit, ihre Forschung zu bereuen, keine Zeit, ihr Leben in den letzten Augenblicken zu reflektieren.

Wie aus dem Nichts wurde sie in eine Richtung gezogen. Doch da war kein Schmerz. Einfach nur …

… Frieden.

Und dann …

… Leere.