Noah hielt wie erstarrt inne, bevor er auf mich zustürmte.
„Was fällt dir …“ Ehe er seinen Satz beenden konnte, schmiss ich ihm das Netz mit den Vorräten vor die Füße.
„Ich habe Lebensmittel, ist es nicht das, was du wolltest?“ Ich hob herausfordernd eine Augenbraue und fuhr fort. „Wenn du dachtest, ich hätte mich vor der Arbeit gedrückt, lass mich dich eines Besseren belehren: Es gibt Menschen, die noch selbständig denken können.“
Er regte sich nicht, doch seine Nasenflügel bebten vor unterdrückter Wut.
„Ich bin hier immer noch derjenige, der die Anweisungen gibt“, sagte er bedrohlich leise.
„Du hattest dich selbst aufgegeben. Erwarte dafür jetzt keine Loyalität meinerseits“, zischte ich.
Ich wusste im selben Moment, dass ich es bereuen würde. Ich sah es an seinen Augen, die schlagartig einige Nuancen dunkler wurden.
Allerdings konnte ich nicht zulassen, dass er sich weiter von sich selbst entfernte. Ich provozierte ihn und er nahm die Herausforderung an.
Mit einer fließenden Bewegung packte er mich am Oberarm und drückte mich gegen das Innere des Schiffes. Nieten bohrten sich in meinen Rücken.
Die vorderen dunklen Strähnen fielen ihm wirr ins Gesicht, als er sich zu mir herabbeugte, seine Stimme nur noch ein Knurren.
„Du bewegst dich auf dünnem Eis.“
„Vielmehr tanze ich auf deinem Grab, wenn du so weitermachst“, erwiderte ich zynisch.
Er zog seine Augenbrauen wütend zusammen.
„Wie lange willst du diese Fassade noch aufrecht erhalten?“ Sein Mundwinkel zuckte, als wollte er noch etwas hinzufügen, er beließ es aber dabei.
Meine Lippen öffneten sich einen Spalt breit, doch kein Wort kam über meine Lippen, denn alles schien zu bröckeln. „Gib dich auf“, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. „Wer bist du hier schon?“
„Ich kann Traum und Realität nicht mehr auseinanderhalten“, wisperte ich, kaum hörbar.
Er stützte beide Arme neben meinem Kopf ab und musterte mich nachdenklich.
Ich konnte ihm den Zwiespalt ansehen. In seinem Inneren musste der gleiche Kampf herrschen.
„Lass mich dir zeigen, wie man träumt und du hältst mich hier in der Realität.“ Sein Atem strich über meine Lippen. Er wartete, doch ich zögerte, kämpfte mit mir.
Ich würde mich in diesem Deal verlieren. Das wusste ich. In dieser Welt war das Pragmatische das Einzige, was ich nicht festhalten konnte. Er war mein Anker. Ich wollte uns nicht beide in dieser Welt verlieren. Wir tanzten beide schon viel zu lange auf diesem seidenen Faden.
Er krallte sich in mein Shirt und zog mich mit einem Ruck an sich. Seine Lippen drückten sich auf meine. Der Kuss war fordernd. Bevor ich zurückweichen konnte, hatte er mich schon gegen die Wand gepresst. Die anfängliche Zurückhaltung war verschwunden. Er hatte uns beide über die Klippe gestoßen. Schwer atmend löste er sich von mir, eine Hand unter der Cap in meinen Haaren vergraben.
„Ich habe dir nur die Wahl gelassen, weil ich dachte, du würdest die richtige Entscheidung treffen.“ Er riss mir die Cap runter und schmiss sie achtlos beiseite.
„Das wollte ich jeden verdammten Tag tun“, raunte er mir ins Ohr und das dunkle Timbre seiner Stimme hallte in meinem Körper wieder. Im nächsten Moment packte er mich am Arm und zog mich in die entgegengesetzte Richtung.
Meine Gedanken überschlugen sich, während ich beinahe über meine eigenen Füße stolperte. Ich spürte immer noch die Wärme seiner Lippen. Das leichte Prickeln, was mehr verheißen würde. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, ich würde immer noch in der warmfeuchten Luft des Dschungels verharren. Mein Atem kam stockend und mein Herz fing an zu rasen. Wärme breitete sich in meiner Magengegend aus.
„Lass dich fallen.“ Worte, die immer und immer wieder meine Gedanken eroberten.
Ich registrierte kaum, wie ich wieder in das Zimmer von heute Morgen geschoben wurde. Erst, als die schwere Tür hinter mir ins Schloss krachte, fokussierte mein Blick Noah‘s Brust, während er abwartend vor mir stand.
Seine Finger umfassten mein Kinn, als er es grob anhob und mit seinem Daumen über meine Unterlippe strich.
„Lass los.“
Wörter, die ich so dringend brauchte. Ein Schauer lief mir über den Rücken, während meine Hände wie automatisch über seine Arme strichen, auf der Suche nach Halt. Ich ertastete die leichten Spuren, die der Schatten auch auf meiner Haut hinterlassen hatte. Leichte Vernarbungen, die sich wie Verbrennungen auf unserer Haut abzeichneten. Ein kleines Nervengeflecht, als Warnung.
In meinem Kopf legte sich ein Schalter um, als ich herausfordernd eine Augenbraue hob.
Ohne mich würde er hier nicht stehen. Sein Mundwinkel zuckte amüsiert. Er hielt meinem Blick stand, als er sich langsam vorbeugte, nur um sein Gesicht in meiner Halsbeuge zu vergraben.
Seine Lippen, immer noch geschwollen von dem Kuss, strichen sanft meinen Hals entlang, zu meinem Kinn. Sein Körper presste mich gegen die Tür, während mich seine Hand in meinem Nacken zu sich zog. Dem nächsten stürmischen Kuss entgegen. Gefangen zwischen diesen Gegensätzen begann meine Kontrolle, sich immer weiter aufzulösen.
Zwischen ihm und der Tür hatte ich keinerlei Bewegungsspielraum, doch noch immer war es mir nicht nah genug.
Fordernd biss ich ihm in die Unterlippe, dabei meine Hände unter sein Shirt schiebend. Mit einem Knurren eroberte er meinen Mund, seine Zunge strich dabei erkundend über meine Lippen. Es gab kein Zurück mehr, das hatte ich bereits in seinem Blick erkannt. Ich wollte es auch nicht mehr.
Der feste Griff um meine Hüfte dirigierte mich in die Mitte des Raumes, hinüber zum Bett. Er stand nun hinter mir, während er Küsse auf meinem Nacken verteilte und mit den Fingerspitzen langsam meine Arme hinabstrich. Federleichte Kreisel auf meinen Brüsten folgten. Dann umgriff er sie fest und der Raum, der sich bereits merklich abgekühlt hatte, verdeutlichte den Kontrast unserer erhitzten Haut zur eiskalten Luft. Ich war nach vorne übergebeugt, meine Hände in den Laken vergrabend, während seine Lippen meine Wirbelsäule entlangfuhren. Nicht da, wo ich sie brauchte.
Ich zog ihn mit mir aufs Bett und schlang meine Arme um seinen Nacken, wölbte mich ihm entgegen und genoss jede Berührung. Es hatte schon lange nichts mehr Sanftes an sich. Seine Hände gruben sich in meine Hüften. Viel zu oft hatten wir das Fass beinahe zum überlaufen gebracht, waren aneinander geraten.
Ein Stöhnen entwich mir, als er endlich aufhörte, mich zu necken und in den Wahnsinn zu treiben, was diese Welt, diese ganze Situation, schon viel zu lange tat.
Endlich hatten wir denselben Rhythmus unserer Körper gefunden, um in dieser Welt zu überstehen, um zu leben.
Als gäbe es kein Morgen mehr.
„Ein Traum? Doch wie erkennst du ihn?“
Die Worte formten sich nur wage in meinem Kopf, während mein Blick die Fingerspitzen verfolgte, die langsam über Noahs Haut strichen.
Hauchzart, doch ich spürte die Wärme, die von ihm ausging. Ich vergrub mein Gesicht an seinem Hals, nur um mir all meine Sinne von ihm vernebeln zu lassen.
Ich hatte das Spiel mit meinem Verstand noch nie so willkommen geheißen.
War das hier ein Traum, wollte ich nicht, dass er vorüberging.
Er sollte mich weiter der Realität entreißen.
Ich wandte mein Gesicht wieder der Decke zu und betrachtete unter halbgeschlossenen Lidern das wellenartige Farbenspiel in der Dunkelheit.
Es war ein blasses Leuchten, das nicht die silberne Farbe des Mondes besaß. Die Schläfrigkeit fiel mit einem Mal von mir ab und ich richtete mich langsam auf. Die Matratze quietschte unter mir, als ich aus dem Bullauge hinaus auf das schimmernde Meer sah.
Meine Augen weiteten sich.
Ohne Zeit zu verschwenden, zog ich mir Noahs Shirt über den Kopf und rannte aus der Kabine.
Draußen angekommen, lief ich barfuß über die Planke und konnte meine Augen nicht von dem Schauspiel abwenden.
Ehrfürchtig schaute ich den herannahenden Wellen zu, die beim Brechen blau aufleuchteten.
Zaghaft berührten meine Füße den Sand, als könnte ich die Magie zerstören, die meine Schritte rhythmisch leuchten ließen. Mein Blick glitt über das Wasser und die Felsen, die in der Nähe aus den Wellen ragten. Unter der Wasseroberfläche schienen sie zu schimmern, als wären die Pflanzen in ihnen zum Leben erwacht.
Ich schaute dabei zu, wie das Wasser meine Füße umspülte, verfolgte den Horizont, der bei dem klaren Himmel mit dem Meer um die Wette strahlte, während ich meine Zehen im Sand vergrub. Diese fluoreszierende Schönheit.
Ich wollte dieses Bild in mein Gedächtnis brennen, es wie eine schöne Erinnerung, in einer Truhe meines Unterbewusstseins aufbewahren, um es in schlechten Momenten wieder hervorzuholen.
Behutsam verschränkten sich Finger mit meinen und ich schaute in Noahs dunkle Augen, in denen sich das Meer spiegelte. Er zog mich an seine Brust und bettete sein Kinn auf meiner Schulter. Zusammen beobachteten wir die Welt, die sich uns zu Füßen legte.
Es war dieser Augenblick, der uns in einer sicheren Blase hielt.
Wir rührten uns auch nicht, als aus der Ferne das laute Knarren des Schiffes ertönte. Das Geräusch vom brechendem Metall. Der Boden unter unseren Füßen vibrierte und wurde sogleich wieder von den Wellen geglättet.
Es war, als würden die drei Monde über uns größer werden und unsere Schatten länger. Die Welt schien zu schrumpfen.
Würden wir dem Wahnsinn nun gemeinsam die Hand reichen?
Jetzt, wo wir zusammen über die Klippe gesprungen waren?
Noahs Lippen strichen über mein Ohr, während er mich fester an sich zog.
„Ich möchte weiter träumen“, flüsterte ich, als ein weiteres Beben über den Strand zog.
„Mit dir könnte ich mich weiter in der Realität verlieren“, erwiderte er und seine Stimme verursachte mir eine Gänsehaut.
Ich schloss für einen Moment die Augen und horchte auf die langsam verstummenden Geräusche um uns herum. Auch die Schreie verklangen langsam und hinter meinen Augenlidern funkelte immer noch das Meer. Sandelholz und Salz vernebelten mir die Sinne, während ich mit aller Macht versuchte, diese Wirklichkeit für uns festzuhalten. Uns festzuhalten.
Ich riss die Augen auf und schnappte panisch nach Luft. Kalte Leere grub sich in meinen Rücken, dort wo mir gerade Noahs Wärme noch so nah war und mir den Rücken gestärkt hatte. Ich starrte an eine weiße Decke und versuchte, meine Atmung zu beruhigen, sie in Einklang mit dem monotonen Piepen zu bringen, welches stetig rechts neben meinem Ohr ertönte.
Nach und nach begann ich, die Umgebung zu realisieren. Hob schwerfällig den Kopf und schaute auf die Schläuche, die in meiner Haut verschwanden. Puzzelteile setzten sich zusammen. Ich musste den Raum nicht weiter erkunden, um zu wissen, wo ich mich befand.
Ich seufzte erleichtert, nur um daraufhin festzustellen, das sich meine Augen mit Tränen füllten.
Sein Gesicht verblasste bereits. Auch wenn ich mich mit all meinen Sinnen, an den Traum erinnern konnte, war seine Gestalt nur noch grauer Nebel, den der Wind beständig fortwehte.
Ein heiseres Räuspern erklang neben mir und ich erstarrte.
Sekunden vergingen, bevor ich langsam den Kopf zur Seite drehte und mein Herz für einen kurzen Moment aussetzte.
Durchdringende braune Augen bohrten sich in meine.
Ich zog scharf die Luft ein und verkrampfte meine Hände in den Laken.
Minuten verstrichen, in denen wir unseren Blick verankert hielten, bis er zögernd eine Hand nach mir ausstreckte. Unsere Finger verschränkten sich miteinander, während mich das vertraute Gefühl überrollte. Ich war ewig gerannt, in der Hoffnung, dass mich jemanden einfangen würde.
Wage drängte sich meine Vergangenheit wieder in den Vordergrund. Nur das Gefühl, eine Entscheidung getroffen zu haben, war beständig.
Wir waren der Beweis dafür.
Wir.
Unsere Erinnerungen.
Und die Hände, die wir uns gegenseitig gereicht hatten, um einander festzuhalten.
Auf dem schmalen Grad der Dämmerung.
An dem Traum und Realität sich begegneten.
NARYA
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