Noemis Augen waren wie gebannt auf den blinkenden weißen Punkt vor ihr gerichtet. Ihre Hände lagen entspannt auf der Steuerung, wie nach Protokoll. Eigentlich sollte sie jetzt etwas tun, sollte jetzt den Knopf drücken. Sie gab ihren Händen den Befehl, doch nichts geschah.

»Noemi?« Jacks Stimme drang zu ihr durch. Sie klang dumpf, übertönt von dem kreischenden Alarm der Schiffssirenen. »Noemi!«

Sie starrte noch immer auf den Punkt. Das Ziel war genau in ihrem Visier. Perfekt im Zentrum des Fadenkreuzes. Sie musste nur abdrücken. Warum fiel es ihr dann so schwer?

»Verdammt, Noemi! Was machst du? Drück ab!«

Ein dumpfes Dröhnen. Noemi wurden in ihren Sitz gepresst, während das Raumschiff ein Ausweichmanöver flog. Die Beschleunigung drückte ihr die Luft aus den Lungen, für einen Moment war da dieses Gefühl, zu ersticken.

Ihre Hand verkrampfte sich, ganz leicht, nur wenige Millimeter.

Der blinkende Punkt entfernte sich aus dem Zentrum des Fadenkreuzes. Ohne nachzudenken, schwenkte sie ihre linke Hand, korrigierte die Position. Wieso gelang ihr das?

»Noemi!« Jack, der mal wieder über den Lärm hinweg rief.

Sie schloss die Augen. Dann endlich überwand sie den Widerstand. Ihr Finger krümmte sich, sie drückte den Knopf tief in die Fassung hinein. Ein Beben erfasste das Schiff, der Boden unter ihren Füßen rumpelte.

Ein zweiter weißer Punkt erschien auf dem schwarzen Bildschirm. Er war kleiner als der Erste und blinkte viel schneller. Klar, seine Geschwindigkeit war deutlich größer.

Nach nur dreißig Sekunden erreichte der kleinere Punkt den größeren. Im nächsten Augenblick erloschen beide.

»Getroffen.« Ihre Stimme klang rau und fremd, so als würde nicht sie selber sprechen, sondern ein Geist, der von ihr Besitz ergriffen hatte. Im selben Moment verstummte das Kreischen der Sirenen auf dem Schiff.

Eine unheimliche Stille kehrte ein.

»Was sollte das?« Jack kam auf sie zu. Es war nicht schwer, seine Wut herauszuhören. »Deinetwegen sind wir beinahe draufgegangen!« Er baute sich vor ihr auf, sein Gesicht war völlig hart. »Du hattest nur eine Aufgabe. Abdrücken und den Feind eliminieren!«

Sie senkte den Kopf, wagte es nicht, ihrem Vorgesetzten in die Augen zu schauen.

»Es tut mir leid.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich habe versagt. Das wird nicht mehr vorkommen.«

»Nein, das wird es nicht«, sagte Jack. »Wir sind Soldaten im Krieg. Es dürfen keine Fehler gemacht werden! Du bist vorläufig suspendiert. Deine Position wird von jemand anderem übernommen.«

Sie sollte etwas fühlen. Vielleicht Enttäuschung. Schmerz oder Wut oder irgendetwas anderes. Aber stattdessen war es, als wäre ihr Körper taub. Wie wenn ein Finger erfriert und man gar nichts mehr spürt. Sie stand einfach auf, dann verließ sie ihren Posten. Ohne nochmal einen Blick zurückzuwenden, ohne eine Träne zu vergießen, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen.

Ziellos wanderte sie durch die Gänge des Schiffes. Was würde nun mit ihr geschehen? Man würde sie sicher vom Schiff schmeißen, sobald man den nächsten Raumhafen erreichte. Aber das konnte noch eine ganze Zeit dauern. Vielleicht sogar mehrere Monate.

Sie kam nicht dazu, den Gedanken weiterzuspinnen, denn in diesem Moment heulte erneut eine Sirene auf. »Alle auf Gefechtsstation!«, ertönte die Stimme des Kommandanten. »Wir haben soeben ein neues Ziel erhalten. Ein Kleinfrachter mit der Kennung VTR453E8 soll sich im nächsten Sternsystem versteckt halten.«

Ein Kleinfrachter? Warum sollten sie, einer der größten Schlachtkreuzer der Allianz, sich um so ein mickriges Schiff scheren? Mit einem Mal machte sie kehrt, schlug wie von selbst den Weg zu ihrer Kampfstation ein. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht.

»Alle auf Gefechtsstation und ihre Sitze einnehmen. Wir werden in zwei Minuten in die Beschleunigungsphase eintreten.«

Sie beschleunigte ihre Schritte. Neben ihr eilte ein junger Mann vorbei. Hektische Stimmen ertönten im Hintergrund. Sie musste sich beeilen. Wenn sie ihren Sitz nicht erreichte, dann ….

Darüber dachte sie besser nicht nach. Jeder kannte die Horrorgeschichten von Menschen, die in der Beschleunigungsphase eines grausamen Todes gestorben waren.

Der Alarm veränderte sich. Der Ton wurde höher. Das Signal dafür, dass das Schiff unter einer Minute in die Hypergravitationsphase eintreten würde.

Noemi hastete durch den Gang. Endlich! Sie erreichte ihre Besetzungsstation. Der Platz an der Konsole war besetzt, von irgendeinem Typen, den sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Daneben, an der Wand, war ein weiterer Sitz angebracht. Der Sitz für die Ersatzperson.

»Zehn Sekunden bis zum Eintritt.«

Sie zögerte keine Sekunde, sprintete durch den Raum. Jack warf ihr einen Blick zu, sagte aber nichts.

Gerade noch rechtzeitig erreichte sie den Sitz. Es dauerte nur zwei Sekunden, da hatte sie alle Sicherheitsgurte angelegt und die Routine gestartet. Eine Nadel stach in ihre Haut, sie spürte, wie Flüssigkeit in sie floss.

Im nächsten Moment beschleunigte das Raumschiff. Kein Mensch hätte diese Art von Beschleunigung ohne die Routine überlebt. Noemi wurde in den Sitz gepresst, so heftig, als würde sie gegen einen Felsbrocken krachen. Die Luft entwich aus ihren Lungen. Hätte sie keinen Sauerstoff durch die Lösung gehabt, wäre sie vermutlich sofort gestorben.

Wenige Minuten lastete der Druck auf ihrer Brust, dann, als hätte jemand den unsichtbaren Felsbrocken wieder entfernt, verschwand die Kraft ohne Vorwarnung. Sie hatten die Endgeschwindigkeit erreicht. Automatisch löste sich der Gurt.

»Alle zusammen«, ertönte die Stimme des Kommandanten. »Wir haben Glück, dass wir uns nicht weit vor dem Sternsystem befinden. In genau fünfzehn Minuten werden wir in die Abbremsphase eintreten. Alle Posten sollten sich auf höchster Wachsamkeitsstunde befinden. Wir erwarten Komplikationen, wenn wir in das Sternensystem eindringen.« Für einen Moment knackste der Lautsprecher. »Wir sind die ersten Stunden auf uns alleine gestellt. Die Donyoti und Tigerya werden erst in einigen Stunden zu uns stoßen.«

Hatte sie richtig gehört? Für einen Moment herrschte Stille, plötzlich begann im ganzen Raum Gemurmel. Das waren die beiden besten Schlachtkreuzer der Allianz. Warum so viel Aufwand für einen kleinen Frachter?

»Wir befinden uns im Krieg! Es ist unsere Aufgabe, als Soldaten alles zu tun, unser Leben zu geben, um die Mission zu erfüllen. Nicht weniger als das erwarte ich. Von Ihnen allen.«

Was sollte diese Ansprache? War die Lage wirklich so ernst? Noemi blickte zu Jack. Doch auch in seinem Gesicht sah sie lediglich Verwirrung. Er hatte so wenig Ahnung wie sie alle in diesem Raum.

»Mission ist es, das Frachtschiff zu bergen! Ich wiederhole: Es geht darum, dass Frachtschiff in unseren Besitz zu bringen. Auf keinen Fall darf das Schiff von einer unserer Raketen zerstört werden! Alle anderen Schiffe, die sich in dem System befinden, sind zu zerstören.«

Wieder herrschte Stille. Es knackte erneut, eine weitere Stimme ertönte. »Was ist mit zivilen Schiffen?«

Der Kommandant zögerte keine Sekunde. »Ich sagte, alle weiteren Schiffe in dem System sind zu zerstören. Das schließt auch zivile Schiffe ein.«

Sie schluckte. Das Gemurmel schwoll an, entwickelte sich regelrecht zu einer lebendigen Diskussion.

»Ruhe alle zusammen!«, schrie Jack. Sofort verstimmte der Chor an Stimmen.

»Diese Mission ist für einige für Sie vielleicht die erste Mission«, sagte der Kommandant nun. »Freuen Sie sich. Wenn wir erfolgreich sind, werden wir die Helden der Galaxie sein. Der Krieg wird beendet werden.«

Etwas neben ihr krachte. Noemi drehte sich um. Der Typ, der noch eben an ihrem Platz gesessen hatte, lag leblos auf dem Boden. Sie starrte ihn an, unfähig sich zu bewegen.

»Was ist passiert?« Jack erreichte den Mann vor ihr.

»Er ist … einfach runtergefallen.«

Er war tot. Keine Frage. Kein Puls mehr, keine Atmung. Aber so wirklich wusste sie es, als sie seine Arme betrachtete. Blaue Flecken übersäten ihn.

»Seine Venen sind geplatzt.« Die Feststellung rutschte ihr einfach aus dem Mund.

»Hat er … hat er die Flüssigkeit nicht injiziert bekommen?«

Es hatte keinen Sinn, zu spekulieren. Der Mann war tot, so viel stand fest. Und es gab keinen Ersatz. Außer sie natürlich.

Jack knurrte, dann warf er ihr einen drohenden Blick zu. »Ran an die Steuerung.« Er kam näher, nur noch Zentimeter trennten ihre Gesichter. Sie konnte seinen beißenden Mundgeruch riechen.

»Dieses Mal versagt du nicht.«

Nur wenige Lichtminuten entfernt flog ein kleines Frachtschiff mit der Kennung VTR453E8 durch ein Sternensystem, das viele Jahre später den Namen Fortuna erhalten sollte.

Es war nicht zufällig hier. Der Gott hatte befohlen, hierher, ins völlige Nirgendwo, zu kommen. Weit entfernt von den besten Schlachtkreuzern der Allianz.

Zwei Stunden, nachdem das Frachtschiff in das System eingetreten war, traten zwei weitere Schiffe in das Sternsystem. Beide Schiffe nutzten eine bis dahin selbst der Allianz unbekannte Tarntechnik. Zu spät erst bemerkte sie der Schlachtkreuzer der Allianz auf dem Radar.

Zehn Minuten später trat auch der Schlachtkreuzer der Allianz in das Sternsystem.

Die zwei unbekannten Schiffe eröffneten sofort das Feuer.

Der Krieg hatte begonnen.

niklasatw