Die tote Frau hieß Sia’tha. Dass sie sterben musste, war lediglich auf einen unglücklichen Zufall zurückzuführen.

Clem stand vor einer abgeranzten Wohnung und rauchte. Diese Gegend hier stank erbärmlich. Nach Müll und Dreck, nach Schweiß und Gerüchen, von denen er gar nicht wissen wollte.

Er zog an seiner Zigarette. Ein Kran in der Nähe hob irgendwelche Baumaterialien hoch und setzte sie an einem anderen Ort ab. Jedes Mal, wenn er sie absetzte, krachte es.

Clem hasste diese Geräusche. Er hasste alles an diesem Ort.

Aber ihm blieb keine andere Wahl. Genauso wie er die Frau Sia’tha hatte töten müssen. Der Gotteshauch gab Befehle. Er führte sie lediglich aus.

Endlich näherten sich Schritte. Rechts von ihm, am anderen Ende der Straße, konnte er eine Silhouette ausmachen. Er umklammerte den Griff des Koffers fester. Hiervon hing nicht nur sein Leben ab.

Was er im Begriff war, zu tun, würde die Galaxis verändern. Für immer. Das war die Vision des Gottes.

Die Person näherte sich. Clem begann zu beten, so wie er es immer vor entscheidenenden Momenten tat . Er betete zu seinem Gott, dass er ihn beschützen möge.

Aus der Nähe konnte er die Person endlich erkennen. Es war ein kleiner, alter Mann. Weiße Haare, faltiges Gesicht. Eine Narbe zog sich über sein rechtes Auge, das offenbar durch ein biomechanisches ersetzt war.

»Du bist Clem?«, fragte er, als er ihn erreichte.

Clem nickte nur. Sein Puls schoss in die Höhe. Er umklammerte den Koffer, war bereit, ihn mit seinem Leben zu verteidigen. Seine Hände fühlten sich rutschig an. Hoffentlich würde ihm der Koffer nicht aus der Hand gleiten.

»Ein Jammer, das mit Sia’tha.« Es klang nicht so, als würde es der Mann wirklich bedauern. »Ihr Tod hat viel Aufsehen in der Stadt erregt.«

Der Mann spielte auf die Blockade an. Da war Clem sich sicher. »Ich habe getan, was man mir aufgetragen hat.«

Ein Lächeln blitzte auf dem Gesicht des Mannes hervor. Weiße Zähne, makellos und neu, wurden sichtbar. »Der Gotteshauch hat die Blockade vorhergesehen. Sie sind so vorhersehbar. Glauben sie wirklich, damit den Gott schlagen zu können.«

Clem entgegnete nichts. Es war besser, zu schweigen. Je weniger man preisgab, umso sicherer lebte man.

»Wie dem auch sei. Zeig mir den Koffer.«

Clem öffnete den Koffer. Er war biometrisch gesichert. Er hatte den Daumen der Frau abschneiden müssen, um ihn zu öffnen. »Hier«, sagte er, präsentierte den Inhalt.

Der Koffer war fast völlig leer, lediglich gefüllt mit schwarzem Schaumstoffmaterial. In der Mitte war ein kleines Fach eingelassen. Darin lag ein einziger Gegenstand. Eine fast durchsichtige Karte. Feine goldene Linien waren auf ihr aufgeprägt, aber das konnte man nur von nahem erkennen.

Der Alte nickte zufrieden. Clem schloss den Koffer.

»Der Gotteshauch ist sehr zufrieden mit deiner Arbeit«, sprach der Alte. Er holte ein altmodisches Gerät hervor, flach, nur einen Zentimeter dick. Ein Smartphone. So etwas gab es heute kaum mehr.

Schwarzes Rauschen auf dem Display. Dann erschien das Gesicht des Gotteshauches. Clem hielt den Atem an. Es waren Jahre vergangen, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Seitdem wirkte der Gotteshauch um keinen Tag gealtert. Sein Gesicht hatte noch immer keine Falte, keine einzige Unreinheit. Er sah aus wie ein Geist. Seine Augen bohrten sich förmlich durch den Bildschirm.

»Übergib den Koffer. Dann ist dein Auftrag erfüllt.« Die Stimme des Gotteshauchs klang verzerrt durch den Lautsprecher.

Clem reichte dem alten Mann den Koffer.

»Und was jetzt?«, fragte er.

Eine Antwort würde er nie erhalten.


Tullio rannte durch die Straßen. Sein Schuss hatte die Leute aufgeschreckt. Er musste hier weg, bevor die Leute den toten jungen Mann – sein Name war Clem gewesen – sahen.

Er hörte die Stimme des Gotteshauches noch immer. Wir haben zu viel Aufmerksamkeit erregt. Sia’tha musste deshalb sterben. Aber das reicht nicht. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie uns finden. Zerstöre alle Spuren. Vernichte alle Verknüpfungen zu uns.

Clem war die dritte Person, die er heute getötet hatte. Und es würde nicht die Letzte bleiben.

Plötzlich erfasste ihn ein Hustenkrampf. Er musste anhalten, beugte sich vor, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. Luft! Luft! Er gierte danach, sog mit all seiner Kraft.

Allmählich merke er, wie Luft in seine Lungen zurückströmte . Das Stechen in der Brust wurde schwächer.

Er musste dringend den Gotteshauch nach einer medizinischen Behandlung fragen. Aber wie würde er reagieren, besonders in diesen Zeiten?

Andererseits … im Moment befand er sich im Besitz des wichtigsten Gegenstands in der Galaxis. Seine Situation war nie besser gewesen. Der Gotteshauch musste ihn gut behandeln, wenn er keinen Überläufer produzieren wollte. So wäre es schon beinahe mit Sia’tha gewesen …

Ein letzter Mord stand heute noch bevor. Ein Informant, den sie bei der örtlichen Polizei eingeschleust hatten. Sein Name lautete Frank. Ein eigentlich netter Typ. Sehr gläubig. Es war leicht gewesen, ihm die Augen zu öffnen für die neue Welt.

Er lebte nicht weit entfernt von dieser heruntergekommenen Gegend.

Tullio erreichte Franks Wohnung nach zehn Minuten Fußmarsch. Sie befand sich auf der zweiten Ebene. Der Aufzug ratterte beim Hochfahren so laut , dass Tullio sich an den Wänden aus Gitterstäben festkrallte. Jeden Moment rechnete er damit, dass das Scheißteil abstürzte, doch nichts geschah.

Die Franks Wohnungstür stand offen. Tullio hatte seinen Besuch angekündigt. Kaum trat er durch die Tür, stand Frank schon neben ihm.

»Irgendetwas ist gerade am Laufen . Mein Vorgesetzter, Charles, hat ein persönliches Gespräch mit Mr Hayden gehabt. Es hat irgendetwas mit dem Mord an dieser Frau zu tun. Waren wir das?«

Tullio gähnte. »Wir haben uns bereits um Detective Charles gekümmert.«

Mit einem Mal wich alle Farbe aus Franks Gesicht. Es war der Moment, in dem er begriff, was der wahre Grund für Tullios Erscheinen war. Es ging hier nicht um Informationen.

Noch bevor er sich bewegen konnte, hatte Tullio die Pistole gezogen. Er gab nur zwei Schüsse ab. Beide in den Kopf. Blut bespritzte die Wände und Tullios Jacke. Er würde sich eine Neue besorgen.

Frank lag am Boden, röchelt ein letztes Mal. Seine Augen waren aufgerissen, starrten Tullio ungläubig an.

»Alle Spuren beseitigen«, murmelte Tullio.

Er verließ Franks Wohnung. Die meisten Nachbarn waren nicht vor Ort oder interessierten sich nicht für den Lärm. So kam es, dass der einzige Zeuge ein kleiner Junge war.

Er hatte keinen Namen und keine Eltern. Sein Unterschlupf lag zufälligerweise genau vor Franks Haustür. Natürlich hörte er die Schüsse. Und so sah er mit an, wie Tullio blutbespritzt aus der Wohnung lief, hinüber zum Aufzug.

Der Junge zögerte keine Sekunde. Er packte seine Sachen und kam nie wieder zu diesem Ort zurück. Wie hätte es die Geschichte verändert, wenn er der Polizei von dem erzählt hätte, was er gesehen hatte?

Tullio bemerkte den Jungen nicht. Er fuhr mit dem Aufzug herunter, verließ das Viertel. Auf dem Weg schmiss er seine Jacke auf einen Müllberg.

Die Polizei würde sie niemals finden.


In einer abgelegenen Gegend am Rande der Stadt wartete ein Frachter. Er war unscheinbar klein. Maximal drei Personen passten in das Raumschiff. Normalerweise transportierte es Erz, das auf Asteroiden abgebaut wurde.

Es hatte keinen offiziellen Namen. Lediglich eine Kennung.

Viele Jahre später würde diese Kennung berühmt werden. Jeder Bewohner in der Galaxis würde diese Nummer auswendig wissen.

VTR453E8

Die Folge an Zahlen und Buchstaben hatte keine tiefere Bedeutung. Die Vorbesitzer hatten einfach die erstbeste genommen, die man ihnen angeboten hatte. Ihre Leichen schwebten jetzt im All, auf einer langen Reise, bis sie irgendwann von einem Gravitationsfeld eingefangen und in der Atmosphäre eines Planeten verbrennen würden.

In dem Raumschiff saßen bislang zwei Personen. Sie warteten auf die Ankunft des dritten Reisenden. Beide waren ehemalige Soldaten der Allianz. Beides Ex-Piloten. Ausgebildet, um die besten militärischen Blockaden zu durchbrechen. Genau das war auch nun ihr Auftrag.

Tullio erreichte den Treffpunkt fünf Minuten zu spät. Das machte nichts. Die beiden Piloten hatten den Auftrag, zu warten, bis er eintreffen würde. Und da sie gläubige Krieger waren, hinterfragten sie diesen Befehl nicht.

Genau sieben Minuten und zwanzig Sekunden zu spät verließ das Raumschiff mit der Kennung VTR453E8 den Orbit der Weltraumstadt. Die Piloten wussten, was sie taten, sodass ihr Verschwinden der Raumsicherheit unbemerkt blieb.

Einen Tag später hatte das Raumschiff die Blockade durchbrochen. Bis heute ist unbekannt, wie genau den beiden Piloten gelang, das Schiff unbemerkt durch die Blockade zu schleusen. Manche vermuten, dass sie Komplizen innerhalb der Allianz hatten.

Direkt nachdem es die Blockade hinter sich gelassen hatte, setzte das Raumschiff mit der Kennung VTR453E8 den Kurs auf ein namenloses Sternensystem.

An Bord: der mächtigste Gegenstand der Galaxis.

Die Waffe, die den Krieg entscheiden würde.

niklasatw