Die Bücher sind nicht ausgerichtet. Das ist der erste Gedanke, den ich habe, als ich den Raum betrete. Sie stehen völlig schief. Wie kann man so etwas machen? Ich schlucke, muss mich zurückhalten, um nicht zum Regal zu rennen.
Ich sollte einfach nicht hinschauen. Ich richte meinen Blick absichtlich in die entgegengesetzte Richtung. Wo mich gleich das nächste Grauen erwartet. In der Ecke steht ein Schreibtisch. Mein Blick wird angezogen von den Stiften, die darauf liegen. Natürlich durcheinander. Nicht ausgerichtet.
Ich schließe die Augen, atme durch.
»Geht es Ihnen gut?« Neben mir taucht Pete auf.
Ich drehe mich zu ihm um, zwinge mich zu lächeln. »Alles ist gut. Hast du die Wohnung bereits durchsucht?« Ich will wieder zum Schreibtisch blicken, erwische mich im letzten Moment dabei.
Verdammt, ich kann es einfach nicht ertragen. Es ist, als ob jemand meine Luft abdrängt. Meine Atmung wird schwerer. Ich muss hier raus. Oder diese blöden Stifte ausrichten. Was ich natürlich nicht kann. Nicht, solange das hier ein Tatort ist.
»Wir sind fast durch. Die Tote hatte nicht viele persönliche Gegenstände. Vermutlich ist sie hier erst neu eingezogen.«
»Gibt es Hinweise auf einen Freund oder eine Freundin?« Statistisch gesehen sind das die wahrscheinlichsten Mörder.
»Nein, keinen Hinweis auf andere Personen. Bislang ist es uns auch nicht gelungen, eine verwandte Person auszumachen.«
Ich brumme nur als Antwort. Mein Herz schlägt viel zu schnell, meine Handflächen schwitzen. Mir wird immer heißer, als hätte ich mit einem Mal Fieber. »Würdest du mich entschuldigen, Pete?«
»Natürlich.«
Ich dränge mich an ihm vorbei. Die letzten Meter zur Tür renne ich förmlich.
Endlich! Ich bin draußen. Sofort kann ich freier durchatmen, das Gewicht auf meiner Brust fällt ab. Ich seufze. Wie lange will ich das noch machen? Es kann nicht ewig so weitergehen.
»Pete, Lust drauf, etwas Trinken zu gehen?« Ich räume meine Sachen in meiner Kiste zusammen. Akten, Tatortberichte, Fotos der Spurensicherung, die erste Einschätzung des Gerichtsmediziners. Ich verstaue einfach alles in meiner Kiste. Ein Problem für morgen.
»Klar«, sagt Pete.
Ich bin froh, dass ich immerhin nicht alleine gehen muss. »In fünf Minuten?«
Pete nickt. Ich nehme meinen Karton, trage ihn zu meinem Spind. Kaum habe ich ihn eingeschlossen, steht Pete auch schon neben mir.
Von der Wache aus dauert es zu Fuß keine fünf Minuten zur nächsten Bar. Irgend so ein abgeranzter Laden. Aber um ehrlich zu sein, ich mag ihn.
Als wir die Bar betreten, ist alles in Nebel gehüllt. Wofür die Nebelshow gut sein soll, werde ich nie verstehen. Vielleicht soll das eine bessere Atmosphäre schaffen. Der Hauptraum wird von Neonlichtern beleuchtet. Wir setzen uns an einen freien Tisch in der hinteren rechten Ecke.
Wir sitzen noch nicht mal, da kommt schon ein Roboter mit unseren Getränken angefahren. Hat auch etwas Gutes, wenn man so oft da ist.
Ich lasse mich auf die Bank plumpsen, ziehe mein Getränk zu mir. Pete sitzt mir gegenüber. Wenn ich ihn so im Neonlicht betrachte, sieht er ziemlich gut aus. Nicht, dass ich je etwas mit ihm anfangen würde.
»Und wie läufst bei dir im Leben?«
Pete schüttelt den Kopf, schaut auf sein Getränk. »Was soll schon sein?«
»Hast recht. Mein Leben neben der Arbeit ist nicht existent. Schlafen und arbeiten. Das ist unser Leben.« Ich hebe mein Glas, wir stoßen an. Ich schütte die Hälfte meines Getränkes herunter. Wenn mich Leute sehen würden, würden sie mich für einen Alkoholiker halten. Na ja, immerhin dieses Klischee erfülle ich nicht.
»Hast du den neusten Scheiß aus der Stadt gehört? Sie planen jetzt ernsthaft neue Handelsabkommen. Mit diesen Drecksverbrechern aus dem Norden.« Erneut trinke ich. Manchmal wünschte ich, da wäre Alkohol drin. Bei all der Scheiße, die im Moment geschieht.
Pete nickt nur. Er äußert sich nie politisch. Aber er hört mir immer zu, deswegen erzähl ich ihm häufig von meinen Meinungen.
»Ist das mittlere Bild an der Wand da schief?« Es ist, als hätte mich plötzlich ein Blitz getroffen. Ich zeige auf das Bild. Ja, es hängt schief. Alle anderen sind gerade, aber das Bild …
Pete dreht sich um, zuckt mit den Schultern. »Kann sein.«
Ich warte keine Sekunde, springe auf. Mit wenigen Schritten durchquere ich den Raum, habe das Bild erreicht. Ein Paar hockt an dem Tisch darunter. Sie starren mich an, ihre Gesichter zu Grimassen verzogen. Haben sie Angst vor mir? Oder sind sie sauer, weil ich ihre romantische Stimmung zerstört habe?
»Entschuldigung«, murmele ich, greife nach dem Bild und richte es aus.
Sofort durchflutet Erleichterung meinen Körper. Mein Puls beruhigt sich, ich habe gar nicht gemerkt, dass er gestiegen ist.
Ich kehre an unseren Tisch zurück. Pete sitzt noch immer da, genießt seinen Drink. Er scheint nicht entsetzt zu sein. Als ich ankomme, verzieht er weder das Gesicht noch sagt er etwas.
Ich seufze. »Ich sollte nach Hause gehen. Es ist schon spät.«
Pete nickt. Ich nicke ihm zu, dann richte ich mich auf und verlasse die Bar.
Wieder stehe ich in einem kleinen, muffigen Raum. Dieses Mal ist es eine kleine Lagerhalle am Rande der Stadt. Abseits irgendwelcher Zeugen natürlich.
Ich muss husten. Es ist staubig hier drin. Und natürlich herrscht das blanke Chaos.
»Pete, gibt es etwas zum Opfer?«
»Wir konnten bislang nichts herausfinden. Kein Name, kein Wohnort. Keine Verwandten.«
Und werden auch nichts finden, ergänze ich im Kopf. Niemand hier braucht es auszusprechen, aber alle denken dasselbe. Ein weiterer Mord in der Stadt, der niemals aufgeklärt werden wird.
»Okay, dann alles zusammenpacken und die scheiß Berichte schreiben.« Ich klatsche die Hände zusammen und stürme förmlich aus dem Raum.
Ich bin gerade aus der Tür, als mir doch etwas ins Auge fällt. Abrupt erstarre ich. Langsam drehe ich mich um. Pete kommt gerade aus der Tür.
»Alles in Ordnung?«, fragt er, als er mein Gesicht erblickt.
Langsam bewege ich mich auf die Wand links neben der Tür zu. Dort, genau in der Mitte, steht etwas auf einem Regalbrett. Obwohl es düster im Raum ist, erkenne ich sie sofort wieder.
Die Spieluhr.
»Stand die da schon, als ihr gekommen seid?«, frage ich.
»Was?«
Wortlos zeige ich auf die Spieluhr.
»Ja, die war schon da, als wir gekommen sind. Sie sieht wertvoll aus. Passt hier nicht wirklich rein.«
Ich schlucke. Gänsehaut breitet sich über meinen Körper aus. Meine Hand greift wie von selbst nach der Spieluhr. Sie ist neu. Kein Staub auf ihrer Oberfläche, der Lack ist blank poliert. Mein Kopf ist völlig leergefegt.
»Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragt Pete. Seine Stimme klingt dumpf für mich.
Ich drehe mich um, zwinge mich zu einem Lächeln. »Packt alles zusammen, Leute. Heute machen wir früher Schluss. Das hier ist Zeitverschwendung.«
Ich verlasse den Raum, ohne mich ein weiteres Mal umzudrehen.
Jetzt weiß ich, warum die Frau umgebracht wurde und ich werde mich nicht in diese Angelegenheiten einmischen.
Das habe ich schon einmal getan.
niklasatw
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