Ein salziger Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus, als diese meine rissigen Lippen langsam befeuchtete. Wie in Trance strichen meine Finger über die von Meeresluft verkrustete Haut. Wie lange war ich dem Meer an Deck ausgeliefert gewesen? Sie erreichten meine Brüste, die sich von der Kälte immer noch fest anfühlten. Fingerspitzen über zarter Haut. Verwirrt riss ich die Augen auf. Ich bewegte nacheinander meine Gliedmaßen und richtete mich langsam auf. Ein Blick hinter mich aus dem kleinen Bullauge sagte mir alles, was ich wissen musste. Die direkte Aussicht auf den Pool, bei Tageslicht, schien mich zu verhöhnen. Mit einem Mal fühlte ich mich wieder lebendiger, als in der gesamten Zeit hier an Bord. Ich klaubte meine Sachen zusammen, bevor ich mit lautem Poltern Noahs Kabine verließ. Ich achtete darauf, dass mich niemand sah und verschmolz förmlich mit dem Schiff, als ich an den Wänden entlang schlich. Der Weg führte mich Richtung Messe, von der mir bereits lautes Stimmengewirr entgegenschlug. Noahs erhob sich über allen anderen und ich stoppte augenblicklich. Meine Muskeln spannten sich an, in der Erwartung, die Flucht zu ergreifen. Ich wollte mich gerade nicht mit ihm konfrontieren, brauchte frische Luft und ein paar ruhige Minuten für mich. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum, bis ich schnell in den nächstgelegenen Raum schlüpfte. Es war einer der Vorratsräume und ohne weiter zu überlegen, griff ich nach eine der Taschen, die wir aus alten Fischernetzen gebunden hatten.
Eine Wasserflasche landete neben einer kleinen Axt, bevor ich zurück in den Gang huschte.
Nur wenig später führten mich meine polternden Schritte über die Rampe runter vom Schiff und in den Dschungel.
Es war als würde ich eine Schwelle übertreten. Der erste Schritt verschluckte sämtliche Geräusche vom Strand. Wie in Trance war es zur Gewohnheit geworden, nochmal zurückzublicken und die tosenden Wellen zu beobachten, die versuchten den Strand zu erobern. Das Gefühl in einer Seifenblase zu sein, übermannte mich, ich schaute einem Film zu, der verstummt war.
Ein weiterer Schritt und Vogelgeschrei durchschnitt die Stille, gefolgt von raschelndem Laub und brechendem Unterholz.
Der Film lief weiter, ob mit oder ohne mich.
Ich folgte einem der wenigen platt getrampelten Pfade, obwohl mich immer wieder ein unsichtbarer Faden ins wilde Dickicht zog.
Es war ein Gefühl immer wieder über die Schulter gucken zu müssen, als würde man mit jedem weiteren Schritt verloren gehen.
Immer wieder glitt mein Blick umher, auf der Suche nach etwas Essbarem. Es war schwer, das, was wir aßen, als Obst oder Gemüse zu identifizieren, es hatte durchaus Ähnlichkeit damit, doch es ließ uns überleben.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ein kleiner Teich in Sichtweite kam und ich rastete. Der Schweiß perlte mir bereits über die Haut, die hohe Luftfeuchtigkeit gepaart mit der Hitze machte mir zu schaffen.
Mit zusammengezogenen Augen betrachtete ich einige Minuten die glatte Oberfläche, bevor ich mich auf der feuchten Erde niederließ und durchatmete. Meine Hand glitt abwesend ins Nass und ich beobachtete das Farbenspiel, was meine Bewegungen verursachten. Irgendwann hob ich den Finger an meine Lippen. Salzig.
Der schrille Schrei eines Vogels ließ mich zusammenzucken und ich betrachtete meine Umgebung genauer. Eine Blüte nicht weit entfernt erregte meine Aufmerksamkeit, sanft strich ich über die purpurfarbenen Blätter. Ich rieb den gelben Pollenstaub zwischen meinen Fingern. Zu realistisch, um ein Traum zu sein.
Seitdem wir hier gestrandet waren, hatte ich angefangen, die Dinge mit anderen Augen zu sehen.
Ich prägte mir jedes Detail ein und versuchte, alle Sinne zu gebrauchen, um mich nicht von der trügerischen Leinwand der Natur in den Wahnsinn treiben zu lassen.
Nachdem ich weitere Meter entfernt Obst gefunden hatte, machte ich mich wieder auf den Weg zurück. Die Zeit hier ließ sich nicht schätzen, da die Sonne jedoch noch relativ hoch stand, konnte es nicht allzu spät sein. Das Laub raschelte unter meinen Sohlen, als ich mich zügig durchs Gestrüpp kämpfte. Bis ich plötzlich innehielt. Ich hob meinen Fuß und ließ ihn abermals abrollen.
Zu ebenmäßig. Ich ging in die Hocke und tastete die Stelle mit meiner Hand ab. Unter einer Schicht aus Moos kamen kleine Backsteine zum Vorschein. Ein gepflasterter schmaler Weg, gesäumt von größeren Steinen. Ich erhob mich wieder und schaute nach rechts und links, trug wieder diesen innerlichen Kampf mit mir aus. Wieder spürte ich diesen seidenen Faden, der an mir zu ziehen schien. Nur wusste ich jetzt wohin.
Bevor ich noch weitere Zeit verstreichen ließ, setzte ich den ersten Fuß auf den Weg und versuchte mich vorwärts zu tasten. Mit langsamen bedächtigen Schritten konnte ich spüren, wo die Steine weitergingen und wo sie endeten.
Meine Arme schoben gerade einen riesigen Ast zur Seite, als ich abermals innehielt. Vor mir ragte ein großer Stein aus dem Boden, der mir bis zur Hüfte ging. Kein bisschen Grün hatte sich an ihm festgesetzt, als hätte selbst die Natur Respekt. Ich streckte meine Hand aus und strich über eine Gravur, die mit der Zeit bereits verblasst war. Doch meine Finger konnten die Schrift noch gut ertasten, auch wenn sie mit dem bloßen Auge kaum noch zu erkennen war.
An die Verlorenen und an die Wiederkehrenden.
Meine Hände strichen weiter über den Felsen und ertasten kreuz und quer weitere Kerben, unterschiedlich tief, als würden sie keinem bestimmten Muster folgen. Mir stockte der Atem, als ich vereinzelt einen Buchstaben ertastete.
Ich wusste nicht warum, doch mit einem Mal legte ich die Stirn an den Stein und atmete ruhig ein und aus. Ein Summen erreichte meine Ohren und wanderte durch meinen Körper, hinterließ einen leisen Nachhall. Ich fühlte mich verbunden mit der Umgebung. Ich war am richtigen Ort, auch wenn ich es vielleicht nicht wahrhaben wollte. Als wäre diese Insel die Kreuzung sämtlicher Wege. Wir hatten unseren nur noch nicht gefunden.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die Frage, wie viele vor mir schon hier gehockt haben mussten, ließ mich erschaudern. Es waren keine wahllosen Kerben und mein Herzschlag beschleunigte sich. Es war das Letzte, was von den Menschen zurückgeblieben war. Nichtmal mehr ihre Namen. Nur noch der letzte Strich, der das Ende für jeden einzelnen darstellte, als er aus dem Leben gestrichen wurde.
Ich hielt mir die Hand vor den Mund, weil ich das Gefühl hatte, mich übergeben zu müssen. Schwankend kam ich wieder auf die Beine und rannte auf den Weg zurück, um so schnell wie möglich von hier wegzukommen.
Als meine Stiefel wieder das Metall des Schiffes betraten, verursachten sie knirschende Geräusche vom Sand unter den Sohlen. Viele Leute waren noch auf Deck unterwegs und nickten mir zu, als ich an ihnen vorbeiging. Mir entgingen jedoch nicht ihre Blicke, die mir folgten, bis ich außer Sichtweite war.
Jene Blicke, die nicht verstanden, wie ich des Lebens müde alleine in den Dschungel gehen konnte. Nach dem Spaziergang heute fragte ich mich das jedoch selbst. Ich stand komplett neben mir, als ich im Inneren des Schiffes die Gänge entlanglief. Zweimal verlief ich mich und musste wieder umkehren. Ich biss mir auf die Lippe und versuchte wieder klar im Kopf zu werden, doch immer wieder tauchte dieser Felsen vor meinem inneren Auge auf.
Worte von Adam kamen mir wieder in den Sinn. Er hatte neben mir an der Reling gestanden und mit leerem Blick aufs Meer hinausgeschaut.
Er verglich diesen ganzen Ort mit einer Schneekugel. Mit jedem Tag wurde die Luft dicker. Der Wahnsinn und die Angst wirbelten uns immer wieder auf. Wir waren die Schneeflocken, die nicht zur Ruhe kamen. Je mehr Informationen ich über diesen Ort zutage förderte, desto angespannter wurde ich. Was sollte ich damit anfangen? Würde Noah rational bleiben, wenn ich mich ihm anvertraute? Es kam wohl darauf an, in welcher Stimmungslage ich ihn vorfand. Wir waren mittlerweile alle unberechenbar geworden. Man sah und hörte Dinge, von deren Existenz man sich nicht sicher war. Schuldzuweisungen nahmen zu, je mehr Menschen verschwanden. Es schien, als würde uns die Zeit davonlaufen. Das Schiff wurde mit jedem Tag mehr verschlungen. Wir wurden regelrecht zur Kante der Klippe gedrängt, doch es gab immer noch einige, die sich dagegen stemmten.
Ich bog gerade in den Gang zur Messe ein, als ich bei der Geräuschkulisse, die sich mir bot, wie angewurzelt stehen blieb. Es krachte und ich hörte Geschirr, was wohl nun in Scherben am Boden liegen würde.
Danach folgte lautes Geschrei und mehrere verließen fluchtartig die Messe. Ich stand unentschlossen im Gang und wusste nicht, wohin mit mir. Zweifelnd schaute ich auf die Vorräte in meinen Händen und dann auf die Tür vor mir, die den Lagerraum verschloss. Mit einem weiteren Quietschen wurde die Schwingtür aufgerissen und eine große Gestalt trat auf den Flur hinaus, auch aus dieser Entfernung konnte ich sehen, wie schwer er atmete. Ich hielt die Luft an, in der Hoffnung, dass ich mich dadurch in Luft auflösen würde. Bis seine Augen meine fanden. Ich schüttelte fast unmerklich den Kopf, wir waren beide nicht wir selbst. Das würde nicht gut enden. Mir juckte es bereits in den Fingern, den nächsten Streit vom Zaun zu brechen, nur weil ich mich in die Ecke gedrängt fühlte, von allem und jedem. Mein Kopf platzte bereits, so viel lag mir auf der Zunge. Und die nächste Konfrontation nahm ihren Lauf.
NARYA
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