Sie schaute auf das Buch hinunter, was zwischen ihren Beinen lag. Obwohl sie bereits zwei Kapitel gelesen hatte, war nichts als gähnende Leere in ihrem Kopf verblieben.

Sie lehnte sich zurück und versuchte, ihren Körper und vor allem ihren Kopf auf die bevorstehende Pause einzustellen. Legte ihr Kinn auf die Brust und ließ den Kopf kreisen, unterdrückte ein leises Aufstöhnen durch die Schmerzen. Der Nacken hatte sich bereits ordentlich verspannt.

Es musste wohl wieder Yoga zwischen den Lernsessions eingebaut werden, wäre da nur die richtige Motivation vorhanden.

Sie fühlte sich, als würde sie trotzdem noch angestrengt weiterlesen. Weiterlesen in ihren Gedanken, die die reinste Bibliothek waren für unnötige Lektüre. Jedenfalls unnötig für diesen Moment gerade.

Es war vergleichbar mit einem Internetverlauf, in dem mehrere Tabs gleichzeitig geöffnet waren. Es verbrauchte Zeit und alles lief viel langsamer, man kam zu keinem Ergebnis. Auch wenn man den Bildschirm auf Ruhepause umstellte, arbeitete alles weiterhin im Hintergrund. Es war gar nicht mehr daran zu denken, sich auf eine Sache zu konzentrieren, geschweige denn den Kopf einmal vollständig auszuschalten. Das Zimmer war vollgestopft, unnötiger dekorativer Kram, von dem man sich nicht trennen konnte, und jeder Menge Bücher. Man fand immer etwas neues zu entdecken. Zum Ablenken.

Prokrastination war das Wort.

Einzig und allein wenn sie schlafen ging bekam sie das Gefühl, der Realität ein Weilchen zu entfliehen und sich die Pause zu gönnen, die nötig war, um wieder gestärkt in den nächsten Tag zu starten.

Es hatte etwas von einer Überraschung, wo die nächste Nacht hinführen würde.

Es konnte noch so abstrakt sein, es zählte nur das, was geschah, und die Gefühle, die dabei zustande kamen.

Ihre Hand suchte nach der Packung Fruchtleder, die sich irgendwo auf dem Schreibtisch versteckte. Knalliges buntes Papier. Kaum zu übersehen. Kurz schloss sie genüsslich die Augen, während sie die letzten Schnecken aus der Tüte klaubte.

Erdbeeren.

Sie schmeckten nach Sonne.

Der Fuß kreiste von einer Seite zur anderen, sie konnte nicht ruhig sitzen, so sehr plagte sie die innere Unruhe .

Sie ließ ihren Blick zur Uhr wandern. In gut einer halben Stunde musste sie sich zur Uni aufmachen . Man konnte es nicht abwarten, einen Termin zu haben, und ehe man sichs versah, fällt auf, dass man eigentlich keine Lust darauf hat.

Würde man sich keine Termine oder Regeln setzen, so würde man wahrscheinlich gar nichts schaffen.

Menschen neigen dazu, Dinge vor sich herzuschieben, je unerfreulicher es war, desto weiter wurde es von sich geschoben.

Wann genau hatte sie angefangen über solche belanglosen Sachen nachzudenken?

Mittlerweile dachte sie automatisch so viel nach, dass das Handeln manchmal ganz auf der Strecke blieb.

Sie raffte sich auf, ihre Sachen zu packen, bevor sie sich noch ganz in ihrem Kopf verlieren würde. Mit entnervtem Blick schaute sie wenige Minuten später auf den vollgepackten Rucksack hinunter. Wenn sie es sich recht überlegte, brauchte sie den meisten Kram darin nicht, warum also alles mit herumschleppen?

Wenn man das auch nur mit Sorgen so rational sehen würde.

Die heutige gemeinsame Lernstunde würde wieder aus Kritzeleien in ihrem Block bestehen. Aus dem Übereinanderschlagen ihrer langen Beine, die Füße, die sie in Sandalen gesteckt hatte, obwohl sie der Sneaker Typ war. Bei der Hitze nicht anders zu erwarten. Da knickte jeder ein.

Was auch das leicht geblümte Kleid erklärte.

 Sie wusste nicht, ob sie sich darauf freuen sollte, dass sie den restlichen Tag nichts mehr von sich zu erwarten hatte, oder ob sie über die verschwendete Zeit deprimiert sein sollte.

Momentan lebte sie so vor sich hin, von einem Tag in den nächsten.

Es war, als würde sie auf der Stelle stehen, sie beobachtete, wie andere ihren Zielen Stückchen um Stückchen näher kamen, doch sie blieb, wo sie war.

Als wäre sie alleine in einer Zeitschleife. Nichts passierte.

Sehnsüchtig blickte sie auf den Laptop hinunter. Wie oft hatte sie auf das Weiß einer leeren Seite gestarrt? Sich gefühlt, als würde das Blatt beinahe den ganzen Bildschirm einnehmen, immer weiter wachsen und sämtliche Ideen verschlucken, ohne dass man sich an sie erinnerte.

Früher hatte sie oft geschrieben. Ihre Finger waren wie bei einem Klavierspiel über die Tastatur geflogen, als wäre sie bei einem Konzert. Dann schwebten die Hände nur noch dramatisch in der Luft. Dem Musiker fehlte die Muse.

Energisch klappte sie den Laptop zu.

Es gab Wichtigeres.

Bücher waren ihr Leben. Das Reich für Inspiration. Doch jedes Mal, wenn sie von einem Buch begeistert war, konnte sie sich nicht vorstellen, etwas derartiges selbst zu erschaffen.

Es war zu einer innerlichen Verzweiflung geworden.

Ihre Gedanken krallten sich an alle Ideen, ließen nichts entkommen und speicherten alles ab.

Für später.

Wenn es ihr besser ging.

Wenn sie motiviert war.

Aber war es nicht das Schreiben selbst, was sie früher motiviert hatte? Wo war ihre Liebe zum Detail geblieben?

Die Verarbeitung ihrer Gefühle. Ihre ganze Seele steckte in den Worten. Den ungesagten Worten. Denn schon lange hatte sie diese nicht mehr ausdrücken können.

Die Nachbartür knallte zu und sie zuckte heftig zusammen. Herausgerissen aus den trübsinnigen Gedanken.

Jene Überlegungen, die sie immer wieder verschluckten.

Hinabzogen ins Noema.

Die Sonne hatte sich bereits am Horizont verabschiedet, die Hitze jedoch blieb. Das offen stehende Fenster spendete etwas frische Luft, reichte jedoch nicht aus, um sich wohl zu fühlen. Resigniert und panisch kramte sie in alten Unterlagen.

Immer wieder pustete sie sich Strähnen aus dem Gesicht, die Hände konnte sie nicht entbehren, sonst würde ihr alles entgegen kommen. Der alte Eichenschrank war bis oben hin vollgestopft mit altem Zeug.

Sie wusste, so wichtige Unterlagen würde sie nicht wegschmeißen. Es steckte so viel Arbeit in den Prüfungsvorbereitungen. Immer wieder griff sie nach Stapeln oder zog andere zur Seite. Ein kurzer schneidender Schmerz, aus Reflex steckte sie sich direkt den Finger in den Mund. Der Geschmack von Eisen auf ihrer Zunge. Die fehlende Hand bescherte ihr einen Stapel Zettel, der mit einem Rascheln zu Boden segelte. Als sie sich sicher war, keine roten Fingerabdrücke zu hinterlassen, suchte sie weiter.

Sie ertastete das kühle Plastik einer Mappe und zog freudig daran, nur um Sekunden später fluchend zurückzuspringen. Der Rest des Inhalts folgte.

Sämtliche Unterlagen ergossen sich auf den Boden. Der Schrank schien sich allen unnötigen Ballasts entledigen zu wollen. Wie eine Lawine, die nicht mehr zu stoppen war.

Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie auf das Chaos hinunter und kniff sich gespielt theatralisch in den Nasenrücken.

Auch das noch.

Sie hockte sich auf den Boden und verharrte eine Weile. Es wurde ihr alles zu viel.

Zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf.

Ein starker Wind zog durchs Fenster und schob ein paar Blätter vor sich her. Schnell schlug sie die Hände drauf, um noch mehr Chaos zu verhindert. Es gab ein lautes Klatschen, bei dem sie fast selbst erschrocken wäre.

Ihr Blick blieb an einem karierten verdreckten Stück Papier hängen. Warum bewahrte sie so etwas auf? 

Sie holte es hervor, strich es ein wenig glatt. Krakelige Schrift war zu erkennen, an manchen Stellen fleckig und ausgeblichen.

Als sie anfing zu lesen, flog ihr Blick nur so über die karierten Kästchen.

Jedes Wort sog sie in sich auf. Die Augen konnten das Geschriebene nicht schnell genug erfassen.

Sie tauchte vollkommen ab in die Szene, die sich ihr eröffnete.

Wort für Wort, eine neue Welt.

Sie kannte diesen Text nicht und doch war es ihre Schrift.

Sie erkannte ihre Begeisterung, die hinter jedem Wort steckte. Sie senkte das Blatt und ihre Augen suchten den Berg an Papier ab.

Nach und nach klaubte sie alle handgeschriebenen Zettel hervor. Es war ihr egal, das sie nur noch mehr Chaos verursachte.

Sie verschlang alles, jeden einzelnen Text. Gefühle überschlugen sich in ihrem Inneren.

Jahre musste es her sein, das sie diese Szenen aufs Papier gebracht hatte.

Träume nach dem aufstehen. So wild.

So unrealistisch.

Und doch waren sie hier.

Wie ging es weiter? Was hatte sie sich dabei gedacht? Ihre Texte.

Ihre Worte.

Ihre Seele.

Auf einem Stück Papier.

Sie spürte wieder diesen Drang, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Nach und nach setzte ihr Kopf die Szenen miteinander in Verbindung. Spann die Gedanken weiter, bis sie eine Geschichte ergaben. Wie in Trance hatte sie nach dem metallischen Etui gegriffen, das einzig glänzende bei dem ganzen stumpfen weiß. Der alte Kugelschreiber darin, altes Gehäuse, zierende Ranken aus angelaufenem Silber. Sie erinnerte sich, dass sie ihn zum Geburtstag bekommen hatte. Sie liebte das altmodische Schreiben. Schwarz auf Weiß.

Sie sprang auf und wollte zum Schreibtisch, rutschte fast auf den Stapeln aus und fing sich gerade noch.

Ihre Hände griffen nach dem Laptop und öffneten eine neue Datei.

Eine neue leere Seite.

Doch hier herrschte keine gähnende Leere, es machte ihr keine Angst. Vor ihrem inneren Auge war diese Leere etwas, das sie füllen wollte. Eine weiße Leinwand, die es zu bemalen galt.

In ihrem Kopf war die Seite schon beschrieben.

Und es würden weitere folgen.

Seiten um Seiten.

Bis diese Geschichte erzählt war.

Eine neue Welt, ihren Anfang nehmend, auf einem Stück Papier.

NARYA