„Maddie, komm bitte hier nach vorn neben Hazel!“

Maddie und Hazel wurden in der siebten Klasse nebeneinander gesetzt, weil Maddie im Unterricht zu laut und Hazel zu leise war. Damals wusste ihre Lehrerin Ms. Kraft nicht, was sie damit entfachen würde. Eine Freundschaft, die die beiden nur wenige Monate später als platonische Seelenverwandte beschreiben würden, wenn sie wild schreiend über den Schulhof rannten. Es dauerte nicht lange, bis aus Maddie und Hazel „Maddie und Hazel“ wurde. Die Eine war von der Anderen innerhalb von kürzester Zeit überhaupt nicht mehr wegzudenken.

„Ich war mir nicht sicher, ob Hawaii oder Funghi, hab dann beides bestellt.“

Hazel kratzte sich unsicher am Arm und sah Maddie an, die ihren Schalfsack auf dem Boden ausbreitete. Es war das erste Mal überhaupt, dass jemand bei Hazel übernachtete, und auch wenn Maddie das nicht wusste, konnte man die Aufregung, die in der Luft lag, mit einem Messer zerschneiden. Dass sie selbst ein hüpfender Flummi gewesen war, als ihr Vater sie vor einer halben Stunde zu Hazel gefahren war, musste diese ja nicht wissen. Deshalb griff Maddie so cool wie möglich in ihren Rucksack und zog zwei DVDs hervor, als wollte sie sagen: Ich konnte mich auch nicht entscheiden. 

Hazel grinste ein Grinsen, dass den ganzen Abend nicht mehr ihr Gesicht verlassen würde.

„Du musst auf dein Bauchgefühl hören, Maus.“

Hazel nickte und biss sich auf die Unterlippe, während sie auf ihren Laptop schaute. Das Licht schien grell in der Dunkelheit der Terrasse, als wollte es dafür sorgen, dass ihre Entscheidung noch unangenehmer wurde. Die Hand ihrer Mutter auf Hazels Schulter sollte beschützerisch wirken. Doch für sie fühlte sich die Hand nur genauso schwer an, wie der Druck, der auf ihr lastete.

Eigentlich wusste Hazel schon, wie sie sich entscheiden musste. Ein Stechen in ihrer Brust, gepaart mit einem Drücken in ihrem Hals, zeigten ihr ganz deutlich, wie sich richtige Entscheidungen anfühlten. Ein wenig Herzschmerz und jede Menge Aufregung.

Hazel hoffte nur, dass Maddie ihre Entscheidung auch verstehen würde.

(Tat sie nicht.)

„Beste Freundinnen bleiben auch mit Entfernung in Kontakt.“

Maddies Vater sagte es nur, um seiner Tochter wenigstens einen Ratschlag mit auf den Weg ins Erwachsensein zu geben. Er packte ihren letzten Rucksack ins Auto und ließ den Kofferraum mit einem lauten Knall zufallen.

Sie wusste das schon längst. Hazel und sie verstanden sich besser als der Rest der Welt. Sie brauchten keine Versicherung, dass ihre Freundschaft Kilometer überleben konnte. Das würde sie. Ganz sicher.

Maddie hatte es sich so oft vor dem Einschlafen eingeredet, dass kein Platz für Sorge darüber in ihrem Unterbewusstsein bleiben konnte.

Und Hazel war Hazel gewesen. Mit einem ausgeklügelten Plan voll von festgelegten wöchentlichen Anrufen. Eine normale Entwicklung von Leben ohne einander würde überhaupt nicht möglich sein. Hätte Maddie Hazel nicht von Haarspitze bis Zehennagel gekannt, hätte sie geglaubt, die Pläne wären dafür da, um Hazels schlechtes Gewissen zu beruhigen. Doch Maddie kannte Hazel: Die Pläne waren ihre Version der Freundschaftsarmbänder, die Maddie geknüpft hatte. Eine Erinnerung daran, wie viel sie einander bedeuteten.

17:26: „Ich finde sie sieht aus wie ein Thorsten.“

Es begann mit stetigen Nachrichten über die bedeutenden und unbedeutenden Dinge im Leben. Hazel, die Maddie von ihren frisch umgetopften Pflanzen berichtete und Maddie, die sich über das Video freute und der Monstera einen Namen gab.

Darauf folgten endlose Zugfahrten nach Hause. Hazel überbrückte die ermüdenden Stunden nur mit Handyspielen und dem Wissen, dass Maddie genauso lange im Auto saß. Verabredete Videoanrufe, um Serien zu schauen. Oder spontanes Nummerwählen, weil Maddie nicht anders konnte, als Hazel von dem süßen Kellner in ihrem neuen Lieblingscafé zu erzählen.

Bis sich schließlich Zeit und Entfernung heimlich zusammentaten und nicht vorhandene Befürchtungen Realität werden ließen: Die Nachrichten wurden weniger. Die Besuche nach Hause mühseliger. Das Mitteilungsbedürfnis schien überflüssiger.

Letztendlich wandelten sie sich von jedem kleinsten Gedanken zum gelegentlichen ‚Na, wie gehts dir?‘ und höflichen ‚Happy Birthday’s‘.

*

„Geht schon mal vor, ich hole mir noch eben was zu essen.“

Vermutlich hätte Hazel Maddies Stimme überall erkannt. Und vermutlich hätte Hazel damit rechnen müssen, sie hier zu treffen. Umgeben von Menschen war Maddies natürliches Habitat. Dennoch kam es ihr so surreal vor, sie hier zu sehen. Das letzte Mal hatte Hazel von ihr an ihrem Geburtstag im Januar gehört (13:22 Happy Birthday, Hazel! Schönen Tag wünsche ich dir!) und sie plante Maddie eine ähnliche Nachricht im September zu schicken.

Ein weiteres Treffen davor war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Hazel verfluchte die blödsinnige Idee auf den Jahrmarkt zu gehen und die unsinnigen Sorgen ihrer Mutter gleich mit („Mom, ich hab zu tun.“ „Maus, du lernst abends doch sowieso nicht mehr.“ „Vielleicht hab‘ ich ja auch einfach keine Lust.“ „Du solltest echt mal wieder unter Leute kommen. Nicht-“ „MOM!“ „Ich will doch nur nicht, dass du mir vereinsamst.“). Denn Maddie fröstelnd neben einem Crêpe-Stand, der wahre französische Qualität versprach, obwohl vermutlich nichts an diesem Stand überhaupt schon einmal in Frankreich gewesen war, stand nicht auf Hazels Plan für den Abend.

Doch jetzt stand Maddie wenige Meter neben ihr. Umgeben von der nervigen Lautstärke der Attraktionen betrunkenen Jahrmarktbesuchern. Schwarze Sandalen, eine kurze Jeans und ein übergroßes weißes Hemd. So selbstbewusst, dass sie überhaupt nicht darüber nachzudenken schien, ob ihr neongrüner BH-Träger zu sehen war. (War er.)

Hazel wusste nicht, wie sie sich bei ihrem Anblick fühlen sollte. Maddie rief eine komische Nostalgie in ihr hervor, von der sie nicht geglaubt hatte, dass sie sie bei Maddie je fühlen würde. Eine Mischung aus selbstgemachten Freundschaftsbändern und ewigen Filmabenden.

Am liebsten wäre Hazel gerannt, um dem Ziehen in ihrem Magen zu entkommen. Und gleichzeitig tat es unglaublich weh, dass Maddie anzusprechen ihr unmöglich vorkam.

Dabei war sie doch einmal ein Zuhause für Hazel gewesen. Ein Mensch, bei dem sie sich immer so gefühlt hatte wie an faulen Sonntagen, die man im Bett gekuschelt mit einer Serie und einer Tasse Kakao verbrachte.

Hazels Mutter würde der Ausrede, dass ich keine Jacke dabei gehabt hatte, klarkommen müssen.

Doch bevor sie sich tatsächlich umdrehen konnte, wurde ihr die Entscheidung aus der Hand genommen:

„Hazel, wild, deine Haare sind ja anders!“

Sie konnte nicht wie früher heraushören, ob Maddie sich freute. Sie klang so. Oberflächlich. Aber es verpasste Hazel einen Stich, weil es für Maddie so einfach schien, mit ihr zu reden.

Unbewusst strich sie sich durch die Haare. Schon eine Weile trug sie sie jetzt kinnlang. Und nicht ein Mal war es Hazel in den Sinn gekommen, dass Maddie das nicht wusste. Aber sie hatte recht. Hazel war erst beim Friseur gewesen, als der Kontakt zwischen ihnen schon aus nicht mehr bestand, als einem gelegentlichen ‚Was geht bei dir so?‘.

„Oh ja, danke“, Hazel lächelte und fragte sich unwillkürlich, ob es so schwer sein sollte, seine ehemals beste Freundin so anzulächeln.

‚Anders‘ war nicht einmal ein Kompliment, fiel ihr erst Sekunden später auf. Am liebsten hätte sie sich die Hand vor die Stirn gehauen. Wenn Maddie es ebenfalls bemerkt hatte, zeigte sie es Hazel nicht. Was nicht heißen sollte, dass sie nicht probierte es in Maddies Gesichtsausdruck zu lesen. Ihr Nichtgelingen fühlte sich wie der letzte Nagel im Sarg ihrer Freundschaft an.

„Was machst du hier?“, fragte Maddie und Hazel fragte sich das auch.

Die Schlange vor dem Crêpe-Stand bewegte sich ein wenig nach vorn. Und Hazel wusste nicht, ob sie das mochte oder nicht. Wollte sie — jetzt, wo sie schon mit Maddie sprach — noch eine längere Unterhaltung mit ihr führen? Oder wollte sie diese Begegnung möglichst schnell abhaken, nur um sie wieder und wieder zu analysieren, bis sie es schließlich nach ihrer Abreise verdrängen konnte? Irgendwie beides.

„Ach, ich dachte, ich schau mal vorbei.“ Alles in ihr schrie danach ihr eine bessere Antwort zu geben. Aber es war, als hätte jemand ihr Hirn ausgewischt und damit auch alle Worte, die sich darin befanden.

Maddie nickte, wirkte aber so, als hätte Hazel ihr gerade erzählt, demnächst den Mount Everest besteigen zu wollen.

„Cool, ich denk, ich muss dann auch mal los. Tommy wartet safe schon.“ Maddie deutete in Richtung eines großen Jungens, der einige Meter entfernt stand. Um ihn herum unterhielten sich mehrere Menschen, von denen Hazel ein paar aus der Schule erkannte. Tommy lachte laut. 

Mit ihnen konnte Maddie also Kontakt halten. Aber mit Hazel schien es das Schwierigste auf der Welt zu sein. Sie wollte Maddie fragen, warum sie sie nicht auch eingeladen hatte, mitzukommen. Obwohl sie die Antwort kannte. (Und Hazel hätte sich selbst nicht gefragt, wenn sie Maddie gewesen wäre.)

Aber Hazel traute sich nicht.

„Dein Freund?“

Maddie nickte und Hazel nickte auch, noch während Maddie aus der Schlange verschwand. Nicht mal auf ihren Crêpe hatte sie noch gewartet, so schlimm fand sie es wohl, mit Hazel zu sprechen.

*

„Ich will da vorn nur kurz was schauen.“

Maddies Stimme hörte sich an wie die eines Fremden in ihren eignen Ohren. Kieselsteine verfingen sich in ihren Sandalen, während sie sich mit schnellen Schritten vom Trubel des Jahrmarkts entfernte.

Sie wollte nicht, dass Tommy ihr nachkam. Sie brauchte sein Mitleid nicht, wenn sie ihm von Hazel erzählen würde und davon, wie sie nicht mehr ihre Freundin war. Sie musste nicht hören, wie er sagte ‚Das ist normal, Baby‘, um sie zu trösten und damit der Begegnung die Bedeutung nahm.

Maddie war es reichlich egal, ob es normal war. Für sie war das ganz und gar nicht normal. Noch vor ein paar Jahren hätte Hazel über jedes Detail ihres Lebens Bescheid gewusst. Und jetzt schafften sie es nicht einmal, mehr als sieben Sätze miteinander zu wechseln. Und das ohne irgendeinen Grund. Einfach, weil sie sich auseinander gelebt hatten.

Der Weg war nur spärlich beleuchtet und vermutlich hätte Maddie in der Dunkelheit verschwinden können, wenn sie sich gegen einen Baum lehnte. So dass niemand sie finden würde, bis sie gefunden werden wollte. Aber dann, wenn sie sich sicher war allein zu sein, würden die heißen Tränen, die in ihren Augen brannten, den Weg auf ihre Wangen finden.

Und das wollte sie nicht. Damit, ihr Verschwinden zu begründen, hatte sie schon genug zu kämpfen.

Da musste sie nicht auch noch Weinen erklären.

Oder sich tatsächlich damit auseinandersetzen, dass Hazel einfach weiterhin neben dem Crêpe-Stand blieb. Und ihr Leben weiterlebte. Wahrscheinlich war sie schon weiter zum Autoscooter gegangen und schaute jetzt Menschen dabei zu, wie sie sich gegenseitig rammten.

Vielleicht fuhr sie ja sogar eine Runde Autoscooter.

Die Hazel, die Maddie kannte, würde sich vermutlich lieber in einen Vulkan stürzen, aber die wäre auch niemals freiwillig auf einem Jahrmarkt gewesen. Die Wahrheit schlich sich erkenntlich schmerzlich in Maddies Hinterkopf: Sie kannte Hazel nicht mehr.

Aber sie rannte sicherlich nicht von ihrem Freund weg, wie vor den Problemen, denen sie aus dem Weg gehen wollte, weil Maddie sie so aus der Bahn geworfen hatte.

Ihre Schritte vermischten sich mit dem Rauschen von Blut in ihren Ohren und es schien wie eine gelungene Ablenkung zu dem elenden Lärm der Krimis zu sein, der dumpf zu ihr herüberdrang.

Maddie hätte sich früher bei ihr melden können. Hätte mehr hinterher sein müssen, sich mit ihr zu treffen, als sie bemerkt hatte, dass sie weniger Kontakt hatten. Bevor es dafür zu spät gewesen war.

Aber — und Maddie wusste bis heute nicht, ob das eine Ausrede oder die Wahrheit war — das Leben kam dazwischen. Andere Freunde gewannen mehr an Priorität, waren einfacher Up to date zu halten. Und viel mehr als ‚Das Übliche. Nicht viel.‘ hatte Hazel auch nicht auf die Nachrichten geantwortet.

Strähnen ihrer Haare fielen Maddie ins Gesicht und sie wünschte sich, einen Zopf getragen zu haben, weil sie so nur noch weniger sah, als sowieso schon. Sie hätte schreien können. Irgendwann war die Hemmung Hazel eine Nachricht größer geworden und der Drang danach gleichzeitig verschwunden.

Hätte sie jemand mit dreizehn gefragt, ob Hazel und sie je keine Freunde mehr sein würden, hätte sie gelacht und der Person dann vermutlich gegen das Schienbein getreten. Sie hätte sich gar nicht vorstellen können, wie jemand es wagen konnte, so etwas überhaupt nur zu behaupten.

Jetzt wollte Maddie sich gern selbst gegen das Schienbein treten, weil sie es nicht geschafft hatte, eine Freundschaft aufrechtzuerhalten.

Die achtzehnjährige Maddie wäre vermutlich weniger naiv an die Frage herangegangen. Hätte von Veränderungen gefaselt und davon, dass sie sich einfach weniger sehen würden. Aber niemals hätte es sich angefühlt, als wäre Hazel unerreichbar auf einem anderen Planeten so wie gerade.

Maddie schmeckte Salz und es dauerte einige Sekunden bis sie realisierte, dass sie weinte. Sie wollte nicht weinen, hatte noch nicht einmal wegen Hazel geweint. (Wenn man das Mal nicht mitzählte, an dem Hazel ihr davon erzählte, dass sie in einer anderen Stadt als Maddie studieren würde. Aber Maddie hatte das so tief in ihren Erinnerungen vergraben, dass sie manchmal vergaß, dass es passiert war.).

Vermutlich gab es eine Paralleldimension, in denen Maddie und Hazel jetzt noch Freunde waren und in diesem Moment wünschte sich Maddie nichts weiter als zu wissen, wie es dort möglich war, hier aber nicht. Jedes Wort, das in den letzten Minuten zwischen ihnen gesprochen wurde, hing in Maddies Hals, als wollten sie sie davon abhalten, je wieder etwas zu sagen. Verzweifelt versuchte sie einen Weg zu finden, der die Unterhaltung am Leben gehalten hätte? Aber was hätte Maddie noch sagen sollen? ‚Schau mal, mein neuer Boyfriend, von dem ich dir noch überhaupt nichts erzählt habe, weil wir ja nicht mehr wirklich miteinander reden‘, kam Maddie nicht passend vor. Auch wenn es die Wahrheit war.

Erschöpft blieb sie stehen und presste die Hände auf die Knie.

Es brachte nichts, davor davonzurennen:

Hazel und Maddie waren keine Freunde mehr. Inzwischen waren sie sogar nichts weiter als Fremde füreinander.

Gastbeitrag von Anna-Lisa