Eisig wanderte die nächtliche Winterbriese über ihr Dekolleté, ihren Hals hinauf, liebkoste ihre rechte Wange, bevor der Windhauch dankend weiterzog. Ihre Atmung blieb flach, während sie im Türrahmen lehnte, der den großen privaten Balkon vom Kaminzimmer trennte. Eine dünne Schneeschicht hatte sich über die Steine und das Geländer gelegt, der Himmel, sternenklar, schien erst in weiter Ferne den immergrünen Tannenwald zu küssen, der trotz seiner vielen Wipfel dem Winter am Schloss keinen Einhalt geboten hatte. Doch das alles würde bald Geschichte sein.

Cerrilys tat einen behutsamen Wimpernschlag, bevor sich ihr Blick wieder wie die Minuten zuvor auf sein Ziel richtete, das in einem prunkvollen, hellblauen Abendkleid mit Handschuhen, die bis hoch zu den Schultern reichten, an einer Stelle den Schnee vom Geländer gefegt hatte und sich nun daran festhielt.

„Deine Magie gibt dir kein Recht, ohne zu fragen durch eine verschlossene Tür zu gehen.“

Malinas Worte glichen mehr dem Dunsthauch, der sich bei ihrer Aussprache in der Kälte bildete, als einem wirklich gesagten Wort. Die Adlige ließ seit einigen Minuten und wahrscheinlich auch schon einige Minuten länger, als dass es Lys mitbekommen hatte, ihren Blick über den Winterwald streifen. Aus ihrem weißen, hochgesteckten Haar hatte sich eine Strähne gelöst, die fast über ihren gesamten Rücken bis zur Taille hinunterfiel und die der jungen Zauberin hinter ihr im Türrahmen seit dem ersten Blick vor wenigen Augenblicken beinah die Konzentration raubte.

Man vermisst dich auf der Zusammenkunft. Die Herren veranstalten wohl einen Karaokeabend mit Stücken von Künstlern dieser Zeitrechnung.

Cerrilys´ Worte klangen mild und ruhig in Malinas Kopf nach. Sie liebte ihren Hang zum Wortwitz, obwohl sie sie noch nie hatte wirklich reden hören. Niemand hatte das. In vielen hundert Menschenjahren nicht. Die Zauberin war von schweigsamen Gemüt, nur der Gräfin gönnte sie zuweilen das ein oder andere gedachte Wort.

Malina richtete sich auf, streckte ihren Rücken. Die Hände noch immer am eisigen Geländer des versteckten Balkons, schloss sie die Augen.

„Es ist so unfassbar still. So still.“ Sie tat einen Atemzug. „Manchmal, wenn die Nacht klar ist und die Luft rein, da glaube ich beinah, ich könnte ihn hören. Den Krieg. Wie er sich Schritt für Schritt weiter aus dem Norden voran kämpft und Mann für Mann, Wesen für Wesen, ob unsere oder deren, bis in alle Ewigkeit niederstreckt.“

Mit einer unerwartet schnellen Bewegung, die den Schnee auf Geländer und Boden aufwirbelte, drehte sich Malina um.

„Cerrilys, ich denke wir haben bereits verloren. Alles was wir lieben, wird zu Grunde gehen.“ Zitternd traten ihr die Worte über die Lippen. Doch in ihren nebelweißen Augen fand sich keine Spur von Angst.

„Oben im Norden sterben unsere Männer und unten im Saal saufen und kotzen die Großen der Krone vor sich hin.“ Wort für Wort wurde ihre Stimmer fester und lauter. So laut, dass sie in den Räumlichkeiten jenseits des großen Türrahmens von den reichverzierten Wänden wieder hallte und Cerrilys im Kern ihres Denkens traf.

Die Zauberin handelte schnell. In weniger als einem Atemzug stand sie neben der Gräfin am Balkongeländer und hielt deren Hände vor ihre Brust. Letztere wollte vor Erstaunen einen Schritt zurückweichen, doch Cerrilys ließ das nicht zu. Eindringlich beobachtete sie, wie sich Malina daraufhin ohne viel Zutun wieder beruhigte, ihr Herz zu seinem gewohnten lieblichen Takt zurückkehrte und sich ihre Gesichtszüge entspannten.

Sie hatte gelernt, auf ihre Verbindung zu vertrauen. Die Gräfin und sie waren eins, wie es jeder Zauberer mit seinem Herrn war. Cerrilys selbst war bereits einigen Adligen, darunter sowohl Baronessen als auch Könige, über die letzten Jahrhunderte zur Seite gestellt worden, doch keinen hatte sie so in ihr Herz geschlossen wie die Gräfin von Étoilé.

„Ich muss Atoney zum Handeln bringen. Niemand sonst wird es tun.“

Und niemand sonst kann es schaffen.

Malinas Blick wurde wehmütig. Sanft zog sie ihre Hände aus Lys´ starken Griff, nur um wenig später ihre Finger über die linke Wange der Zauberin zu streichen.

„Was würde ich nur ohne dich tun, mh? Meine weiße Hexe. Ich bin dem Rat so dankbar, dass er mir dich geschickt hat. Du bist und warst mir stets treu und ich betrüge dich immer wieder.“

Jetzt war es Lys, die ihren Blick über den Wald weit unten zu ihren Füßen streifen ließ.

Wann nur war das alles so kompliziert geworden? Früher hatten ihr Herz und auch ihr Körper bereits viele Male geliebt, aber dennoch nichts zu sagen gehabt. Jetzt konnte sie den Gedanken, dass der König ihre Gräfin jede Nacht in sein Bett bat, nur schwerlich ertragen. Sie vertraute Malina, das Richtige zu tun. Die Welt stand vor dem Untergang und all ihre wichtigen, uralten Vorsätze hatte Lys bereits vor Tagen über den Haufen geworfen. Malina war ihre einzige Pflicht. Zumindest die Einzige, die übrig geblieben war, nach Jahrhunderten des Dienens und Geschehenlassens. Sie selbst war eine gefallene Königin, die verzaubert und als Spion missbraucht, schon so einige Kriege der Menschen hatte kommen und gehen sehen. Doch jetzt war es anders. Nicht nur der Gräfin wegen, nein, sie hatte auch andere ihrer Herren und Herrinnen schon geliebt …

Es war der Zukunft wegen.

Sie konnte sie nicht mehr sehen. Dunkelheit umschloss ihre Gedanken, sobald sie einen Blick wagte. Keine Ideen kamen ihr, keine Gerüche von Schlachtfeldern oder neuen grünen Wiesen stiegen in ihren Geist. Ihre Zukunftsvisionen waren stets ihr Ass im Ärmel gewesen, von dem nicht mal Malina etwas wusste, schließlich würde sie sie, so weh es ihr auch tat, um viele neue Zeitrechnungen überleben, doch jetzt war alles unklar geworden und mit zwei Sachen, so schien es zumindest, hatte die Gräfen der Sterne recht: Sie musste den König überzeugen, ob nackt in seinem Bett oder irgendwie anders, den Krieg im Norden aufzunehmen um den Feind zu besiegen. Doch ob das überhaupt noch etwas bringen würde, schien fraglich, denn so wie es die Tatsachen zeigten, hatten sie den Krieg und ihr Leben bereits verloren.

Tia Bibra