Als man mir von Los Angeles erzählte, hatte ich sofort von Palmen gesäumte Straßen vor Augen.
Mit bemalten Wänden von Engelsflügeln, die fast jedes Insta-Profil zierten.
Wörter kamen einen in den Sinn, nie gesehen und doch überall verankert. Hollywood. Santa Monica Pier. Beverly Hills.
Doch mit Freude versuchte ich genau diese Orte zu meiden, während mich meine Schritte immer weiter nach Los Feliz trugen, ein am Hang gelegenes Viertel, was man vielleicht als erstes mit dem Griffith Observatory in Verbindung brachte.
Mein Ziel waren Orte, die man durch Zufall entdeckte, doch dafür fehlte die Zeit.
Die Straßen wirkten voll und während ich mich durch die wogende Masse schlängelte, schielte ich immer wieder gehetzt auf meine Armbanduhr.
Menschen wie ich versuchten schnell ihr Ziel zu erreichen, während die erkennbaren Touristen dauernd stehen blieben, um Fotos zu machen.
Immer noch fragte ich mich, warum ich mich zu diesem Trip hatte überreden lassen.
Eine Chance, wisperte eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf.
Vielleicht aber auch der Gedanke, schon viel zu viel vom Leben verpasst zu haben.
Ich verlangsamte gerade mein Tempo, als mich jemand grob von der Seite anrempelte.
Durch den harten Stoß fiel ich dem nächsten in die Seite.
Aus den Augenwinkeln registrierte ich die Kamera, die den Fingern entglitt.
Panisch taumelte ich nach vorne und griff reflexartig nach dem Haltegurt. Fast wäre meinen Lippen ein Jubelschrei entschlüpft.
Wäre da nicht die Schwerkraft gewesen, die mein Gesicht langsam Richtung Boden zog.
Ich kniff die Augen zusammen, als sich eine Hand hinten in mein Shirt krallte.
Langsam wurde ich wieder in die Senkrechte gezogen und sah mich anschließend einem prüfenden grünen Augenpaar gegenüber.
„Ich weiß nicht, ob meine Kamera eine gebrochene Nase wert gewesen wäre“, quittierte er mit einer hochgezogenen Augenbraue.
Ich strich mir verlegen eine braune Strähne hinters Ohr und richtete mein Shirt wieder, zuckte nur mit den Schultern und hielt ihm seine Kamera entgegen.
Er musterte mich noch einen Augenblick, bevor er lächelnd den Kopf schüttelte und in der Menge verschwand, ohne sich noch einmal umzublicken.
„Ein Danke hätte auch gereicht“, rief ich ihm noch hinterher, bevor ich mich orientierungslos auf dem Gehweg umblickte. In einem der nahegelegenen Schaufenster richtete ich nochmals meine Kleidung. Die schwarze Jeans schmiegte sich eng an meine breite Hüfte, während das rosa Shirt
einfach schon viel zu ausgeleiert war, doch ich liebte es. Froh darüber, meine Sonnenbrille bis jetzt im Etui verstaut gehabt zu haben, lächelte ich meinem Spiegelbild enthusiastisch zu. Nun war die Welt wieder in rosarotes Licht getaucht.
Genau jetzt musste ich auch wie eine typische Touristin aussehen.
Ich brauchte noch fünf Straßen und gefühlt 15 Minuten, bevor ich erleichtert ein unscheinbares Schild auf der anderen Straßenseite entdeckte.
Eine schmale Treppe, gesäumt von einem dunklen Messinggeländer, führte zum Eingang eines kleinen Cafés.
Nur am Rande nahm ich die Klingel über der Tür wahr. Als erstes fiel mein Blick auf die LaCimbali hinter der Theke.
Innerlich machte ich bereits Luftsprünge. Während ich mich der bereits gebildeten Schlange vor dem hölzernen Tresen anschloss, ließ ich den Blick durch den kleinen Raum schweifen. Sachte Grüntöne und ein Hauch von Lavendel. Abgesehen von dem dunklen Holz der Tische und den
dunklen Ledersesseln, die dem Ganzen noch die gewisse Note verliehen.
Manche Wände zierten das ein oder andere Vintage Foto von Los Angeles und die Ventilatoren verübten brummend ihren Dienst, immer wieder abgelöst vom stetigen Lärm der Kaffemaschine.
Bis mich ein genervtes Seufzen aus den Gedanken riss.
Ich starrte auf den braunen Hinterkopf vor mir, die letzte Person also, zwischen mir und einem Kaffee.
Ich linste an ihm vorbei und fixierte die Dame hinter der Kasse.
„Kann ich bitte einfach …“, erklang nochmals die Stimme des Wartenden vor mir.
„Bist du häufig hier in der Gegend?“, unterbrach ihn die junge Frau und lehnte sich nach vorne, den Kopf auf der Hand abgestützt.
Sie schaute interessiert zu ihm hoch.
Das sollte wohl kokett aussehen, doch im Angesicht der Situation schlug das völlig fehl.
Es sah nicht so aus, als würde sie in der nächsten Zeit noch Kaffee verkaufen.
Ich schaute wieder auf die Uhr.
Die Mädels hatten mir gerade mal zwei Stunden gegeben, ehe sie mich in die nächste Touristenfalle schleppen würden.
Ich räusperte mich „ Soll man sich den Kaffee lieber selbst machen?“ Meine Frage triefte nur so vor Sarkasmus, doch das schien sie wenig zu tangieren.
Sichtlich genervt von meiner Störung blickte sie nun zu mir hoch. „ Kannst dein Glück gerne versuchen“, erwiderte sie nur zuckersüß.
Dann hatte sie mich auch schon wieder vergessen, während sie eine ihrer roten Strähnen gekonnt um ihren Finger wickelte.
Ohne zu zögern ging ich an ihr vorbei hinter den Tresen.
In einer fließenden Bewegung entnahm ich einen der Siebträger und entleerte ihn, bevor ich ihn unter der Kaffeemühle neu befüllte und den ersten Espresso rausließ.
Wie selbstverständlich stellte ich zwei Untertassen bereit und angelte zwei Löffel an der verdutzten Dame vorbei. Der Geruch nach frisch gebrühtem Kaffee erfüllte die Luft.
Alle Handgriffe saßen nach jahrelanger Erfahrung und wenige Minuten später goss ich die aufgeschäumte Milch in die vorgesehenen Tassen.
Schnell griff ich in meine Tasche und legte einen Schein auf den Tresen.
„Der Rest ist für Sie.“
Mit diesen Worten hob ich den Blick und starrte in ein mir bereits bekanntes Gesicht. Markante Züge, volle Lippen und vereinzelt Sommersprossen über der Nase verteilt.
Für einen kurzen Augenblick erstarrte ich, fing mich aber relativ schnell wieder und schob ihm lächelnd die Tasse zu.
„Der geht auf mich. Ein Danke genügt.“
Damit schnappte ich mir meinen Cappuccino und suchte mir einen Tisch in der hintersten Ecke.
Ich verschwendete keinen Blick mehr an die Bedienung. Ich ließ mich in einen der Sessel fallen und kramte in meiner Tasche nach einem Buch. Wenigstens ein paar Minuten diesem Wahnsinn entfliehen.
Eine weitere Tasse wurde über den Tisch geschoben und ich schaute wieder hoch.
„Mit einem Lächeln wären Sie einnehmender“, warf ich ihm entgegen, als er sich mir gegenüber niederließ.
„Verfolgst du mich?“
Verwirrt blinzelte ich, bevor sich meine Augenbrauen verärgert zusammenzogen.
„Bei dem Ärger mit dir hätte ich es lieber lassen sollen.“
Zwei Grübchen bildeten sich mit einem breiten Lächeln. Die Sonne fiel hinter uns durchs Fenster und erst jetzt merkte ich, das seine braunen Haare einen rötlichen Schimmer besaßen.
Ich linste wieder auf die Uhr.
„Ist das eine Bucket List?“ Ungeniert fischten seine Finger das Stück Papier aus meinem Buch, noch bevor ich reagieren konnte. „Und anstatt sie abzuarbeiten, sitzt du hier?“
„Gegen einen guten Cappuccino war noch nie was einzuwenden“, erwiderte ich leicht verärgert und zog das Papier über den Tisch wieder an meine Seite.
„Stars und Ruhm?“
„Auf die Art und Weise will ich Hollywood nicht sehen.“
Er schaute mich nachdenklich an.
„Und deswegen meidest du sämtliche Standardvergnügungen hier in LA?“
Ich nahm meine Tasse und prostete ihm zu, bevor ich endlich meinen ersten wohlverdienten Schluck Kaffee genoss.
Er schaute nun aus dem Fenster und mein Blick fiel auf seine langen schlanken Finger, die die Tasse umschlossen.
Große Hände, sehnige Unterarme, die, wie es schien, in kräftigen Oberarmen endeten.
Das grüne Shirt ließ seine Augen nur noch mehr leuchten.
Immer mehr Getuschel drang an meine Ohren und ich ließ den Blick durch den Raum schweifen.
Mittlerweile hatte sich der Laden etwas gefüllt und die Rothaarige hatte sich wieder ihrer Arbeit gewidmet, obwohl ihre Augen immer wieder beiläufig unseren Tisch streiften.
„Lass uns gehen.“ Ich wirkte etwas verwirrt, denn er nahm sich wie selbstverständlich meine Liste und steckte sie in seine Jackentasche.
„Wir arbeiten jetzt an deiner Liste. Liam übrigens.“ Mit diesen Worten erhob er sich und brachte unsere Tassen zurück zur Theke. Die Klingel schellte bereits über seinem Kopf, als ich aufsprang und hinter ihm her stolperte, während ich es gerade noch schaffte, meinen Mädels den neuen Stand der Dinge mitzuteilen.
Der Geruch von Amber und Regen stieg mir in die Nase, gepaart mit etwas leicht herbem, als ich neben ihm auf die Straße trat.
„Hast du ein Notizbuch dabei, Clark?“ Fragte er mit einem schiefen Lächeln, während ich mich innerlich dafür verfluchte, noch immer auf alles meinen Namen zu schreiben.

Meine Sinne waren überladen.
Ich fühlte mich regelrecht überfordert.
Liam packte mich sanft am Arm und führte mich an dem ganzen Trubel vorbei, weiter ins Innere.
Wir passierten eine Halle, in der laute Rufe zu hören waren. Anweisungen. Direkt und laut. Sie duldeten keinen Wiederspruch.
Meine Augen mussten sich erst an das gedimmte Licht gewöhnen, bevor ich eine freie Fläche, umringt von Kameras und Requisiten erkannte.
Ich hielt für einen kurzen Moment den Atem an. Die Zeit schien still zu stehen und wie in einer Seifenblase schaute ich Liam dabei zu, wie er jemandem auf den Rücken klopfte und dann fest umarmte. Ich war auf der Stelle festgefroren. Traute mich nicht einen Schritt weiter, aus Angst diese Blase würde mit einem Mal platzen und ich landete wieder in der Realität.
„So still kenn ich dich gar nicht.“
„Dein Charme hat halt nicht gereicht“, flüsterte ich und ging einige Schritte weiter in den Raum.
Sein kehliges Lachen erklang, bevor er mich dem Regisseur vorstellte, den er vorher begrüßt hatte und anschließend den Kameraleuten. Meine anfängliche Starre hatte sich vollkommen verabschiedet, während ich meinen Notizblock zückte und die Fragen nur so sprudelten.
Selten hatte ich so viel Freude am Lernen verspürt.
Ich wusste nicht, wie lange meine Fragen noch geduldet wurden, doch noch schien niemand die Flucht zu ergreifen und wir unterhielten uns angeregt. Vielmehr schien es den Anwesenden Spaß zu machen, über ihre Arbeit zu
reden. Immer wieder hielt ich nach Liam Ausschau, welcher mich mit einem warmen Blick zu beobachten schien.
Ich strahlte ihn an und ließ den Stift dann weiter über das Papier fliegen.
In der Halle war nicht klar zu erkennen, wie viel Zeit bereits vergangen war, doch als wir einige Zeit später hinaustraten, dämmerte es bereits.
Ich ließ den Kopf in den Nacken fallen und atmete tief durch. Genoss den kurzen Augenblick der Stille in meinem Kopf, nachdem das Adrenalin nachließ.
Ich spürte die Körperwärme von Liam, als er hinter mich trat und seinen Kopf auf meine Schulter legte.
Sein Atem strich über meinen Nacken. „Wenn du jetzt zurückblickst, wie hätte dein Tag wohl ohne den Ärger mit mir ausgesehen?“
Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln.
Ich drehte meinen Kopf ein wenig, sodass sich unsere Wangen berührten.
„Der Ärger war es wert.“
Ich konnte spüren wie er die Lippen verzog. Ein Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus, während ich mich langsam von ihm löste. Als wir uns in die Augen schauten, legte er seine Hand sanft an meine Wange.
„Zeig mir einen Ort, an dem sich Himmel und Erde berühren“, flüsterte er.
Ich griff nach seiner Hand und verschränkte seine Finger mit meinen.
„Wie weit bist du bereit zu gehen?“


Das Boot lag am Ende des Stegs, die polternden Schritte über das morsche Holz durchschnitten die Stille.
Die Oberfläche des Sees war ebenmäßig, als würde er schlafen. Strahlend blauer Himmel und windstill. Keine einzige Wolke zeichnete sich ab.
Ich band das Seil los und stieg in das Boot, was trotz der Vorsicht bedrohlich schaukelte. Seine Hand legte sich stützend auf meine Schulter, während er sich vor mich setzte.
Neugierig schaute er sich um. Ich stieß uns vom Ufer ab und begann zu rudern. Lange war ich nicht mehr hier gewesen. Von weitem war bereits die kleine Hütte am Ufer auszumachen und Vorfreude breitete sich in mir aus.
Kurz bevor wir das Ufer erreichten, schmiss ich die Schuhe zu Boden und ließ mich ins Wasser gleiten, was mir bis zu den Waden reichte. Kleine Kiesel bohrten sich in meine Fußsohlen, abgelöst durch das Kitzeln der Algen.
Das kühle Nass ließ mich schaudern, doch ich nahm zügig das Seil wieder auf und befestigte es am nächsten großen Felsen.
„Wo bleibst du?“, rief ich über die Schulter und trat an Land. Ich bewunderte den Flieder, der in voller Blüte stand und die kleine Hütte säumte. Bäume ragten dahinter auf und bildeten eine satte grüne Grenze zum Grau des Wettersteingebirges.
Der Ort schien verlassen zu sein und doch klingelten vereinzelt Windspiele in den Baumkronen.
Stark genug für Melodien, jedoch zu schwach, um auf dem Wasser Wellen zu erzeugen.
Langsam schritt ich auf den Vorgarten zu und strich gedankenverloren über die maroonfarbene Platte des Tisches. Die Sonne war ein wenig weitergewandert und mit ihr auch vereinzelt Wolken.
Welche sich in das dunkle Rot der Tischplatte schmiegten.
Selbst die leicht verstaubten Stühle spiegelten den Himmel wieder, als wären sie ein Portal.
Überall in dem Geäst hingen Spiegel, in welchen sich das Sonnenlicht fing.
Dieser Ort war unbewohnt und doch sah man in jeder polierten Oberfläche, dass er geliebt wurde.
Er faszinierte und gab mehr zurück, als er nahm.
Liam hatte kein Wort gesagt, seitdem er die kleine Insel betreten hatte. Von der es hier auf dem Eibsee einige gab. Ich ergriff sanft seinen Arm und führte ihn seitlich zu einer Ansammlung von Felsen, die durch eine Erhöhung den Strand säumten. Hier brauchte man keine Worte. Hier hörte man einfach nur zu. Er zog mich an sich und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren.
Ich hatte aufgehört zu zählen, wie viele Stunden vergangen waren, als seine Kamera in meine Hände gelangte. Ich formte die Hände zu einem Rechteck, doch auch ein Foto hätte dieses gewaltige Bild nicht festhalten können.
Schweigend schauten wir auf den See hinaus, der so klar vor uns lag, dass es schien, als würde die Zugspitze aus ihm emporsteigen.
Gestochen scharf spiegelte das Wasser die Landschaft.

Als würde dieser Ort keine Grenzen kennen.

Als würde er den Himmel berühren.

NARYA