Oma Helenes Haus am Meer war seit ich mich erinnern konnte ein Teil unseres Lebens. Die Sommer am Strand beim Sandburgenbauen als wir Kinder waren oder die Winter an der eisigen Küste, später, als es schon mir gehörte und Mary und Daniel mich besuchten. Es hat uns geprägt, wie selten etwas anderes.
Sie nannten es Wolkenschloss.
Mary und Daniel nannten Oma Helenes Haus am Meer Wolkenschloss, weil sich der Himmel an Tagen voller Schäfchenwolken am Horizont mit dem Meer vereinte und man dann meinen konnte, vom Wintergarten aus in den Wolken zu treiben, auf einer kleinen ruhigen Insel mit Marmeladentoast, heißem Kaffee und einer Übermenge an weißen Orchideen.
Es hatte schon immer etwas Einzigartiges.
Als sie klein waren, haben Mary und Daniel die Autofahrten hin zum Haus am Meer immer mit Kartenspielen verbracht, während ich, so zumindest nach den Worten unserer Mutter, meistens mit meinen kugelrunden Babyaugen aus dem Fenster starrte oder friedlich schlief.
Aber manchmal hat Daniel auch Gameboy gespielt und dann war Mary immer stinksauer, da sie sich alleine beschäftigen musste.
Und dann gab es eine Zeit, in der war das Wolkenschloss kein Wolkenschloss mehr, sondern eine komische Holzhütte und Oma Helene eine komische alte Frau mit einem komischen Hang zu komischen Orchideen.
Denn Mary war mit vierzehn … vierzehn. Eine Teenagerin, die nur für sportliche Typen in Hoodies etwas übrighatte und abends manchmal dei Stunden lang mit ihrer besten Freundin telefonierte, sich wegen nichts und wieder nichts aufregen konnte und Musik auf 120% Lautstärke hörte, trotz Kopfhörern. Aber sonst war sie eigentlich ganz erträglich.
Als Mary vierzehn war, war Daniel fünfzehn. Sie trennten nur fünf Monate. Das hatte meinen Eltern immer gefallen. Daniel auch. Mary nicht und mir war es egal.
Ich war zehn und ich liebte Oma Helenes komisches Haus am Meer. Ich liebte alles Komische, alles was irgendwie anders war, was etwas Besonderes hatte. Regenschauer Ende Mai, die alte Stadtbibliothek, Gurken mit Ketchup. Ich liebte Orchideen, weil Oma Helene Orchideen liebte, ich liebte Gameboy spielen, weil Daniel Gameboy spielen liebte und ich versuchte Lippenstift zu lieben, weil Mary Lippenstift liebte, aber ich muss zugeben, das habe ich nie geschafft.
Mary war schon immer Mary. Meine große, vier Jahre ältere Schwester Mary.
Daniel war Daniel. Aber Daniel hatte eine besondere Reise hinter sich, als er mein Bruder wurde. Eigentlich sind meine Eltern nur seine Paten. Sein Dad konnte oder wollte nicht mehr für ihn sorgen. Er war als Kind ein kleiner Rebell und seine Mutter … Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, sie hatte die Familie verlassen, weil sie noch nicht bereit für ihn war. Daniel kam, als Mary und er fünf waren, ursprünglich nur für den Sommer, blieb dann aber. Ich denke Mum wollte ihn nicht wieder hergeben und Dad war froh, einen Jungen in der Familie zu haben. Für mich gibt es keine Zeit vor Daniel. Ich war zu jung, um mich daran zu erinnern und das ist auch gut so. Denke ich.
Sein Blick war starr nach vorn gerichtet, die Kiefer hatte er zusammengepresst und seine Augenbrauen, soweit ich es von dem Sofazweisitzer, auf dem ich mit dem Rücken zu ihm saß, erkennen konnte, bildeten eine buschige Linie.
Das Meer außerhalb, das seinen Blick mehr wert war, als die heiße Tasse Kaffee neben mir auf dem Couchtisch, war beinah grau mit einem Hauch von grün und kalter Wind bewegte die Wellen, in denen sich die Wolken spiegelten.
Es war Ende September. Und jeder, der Oma Helene einmal Ende September besucht hatte, wusste, wie das Meer zu dieser Zeit sein konnte.
Mit seinen fast zwei Metern ragte er bis an den Querbalken, unter dem er leicht gebeugt zuvor hindurch getaucht war und auch deutlich über die Köpfe der andern.
Dann das Klirren eines Löffels gegen Porzellan und nur widerwillig, eher gelenkt durch menschliche Neugier bei Geräuschen, als durch meinen Willen, richtete ich den Blick weg von Daniel hin zu Mary, die mit einer Tasse Tee in der Hand in den Wintergarten trat.
Sie trug ein schwarzes, langärmliges Kleid, das sich schon etwas über ihren kleinen Babybauch spannte und kurz über ihren Knöchelboots endete.
„Dein Tee, Fin.“ Sie war merkbar darauf bedacht, nicht zu laut zu reden. Ihre Augen glitten nur einmal kurz zu Daniel, der immer noch an den Fenstern stand und über die unruhige See starrte. Er hatte die Arme vor seinem Körper verschränkt und das mattschwarze Hemd, das er trug, war bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt.
„Daniel? Dein Kaffee.“ Ich war nicht darauf bedacht, leise zu sprechen. Ich hasste es, dass es ein ungeschriebenes Gesetz zu sein schien, auf Beerdigungen leise zu sein, leise zu sprechen, sich nicht schnell zu bewegen, sich am besten gar nicht zu bewegen und zu versuchen, nur unterdrückt zu heulen. Oma Helene war im stolzen Alter von 97 Jahren verstorben.
Das Haus am Meer gehörte aber schon einige Zeit lang mir. Sie hatte es, als sie zu meiner Überraschung freiwillig ins Altersheim gegangen war, auf mich übertragen. Ich sei die Einzige in der Familie, die es wertschätzen würde wie es war und nicht vor hätte, es abzureisen und ein neues modernes Haus hinzupflanzen, wie sie es immer betont hatte. Und das stimmte. Ich liebte das Haus und würde es nie ändern. Das stand fest.
Daniel regte sich nicht. Sein Kaffee dampfte noch einige Sekunden vor sich hin, bevor Mary ein paar bedachte Schritte in seine Richtung trat. Beinah genau so vorsichtig begann sie über seinen muskulösen Rücken zu streichen, von seinem rechten Schulterblatt bis hoch zu seinem Haaransatz.
Mary und Daniel waren wie Feuer und Wasser, auch wenn es diese Beschreibung nicht einmal ansatzweise gut genug traf. Sie schienen ohne einander nicht sein zu können. Sie waren sie, waren verworren miteinander, durch gleiche Erlebnisse, gleiche Gutenachtgeschichten, gleiche Schulklassen und Universitäten.
Im nächsten Moment kam eine Regung von ihm. Er löste seine verschränkten Arme und drehte sich zu ihr, sah sie mit seinen schwarzen Augen für eine Sekunde länger, als nötig gewesen wäre, an und trat dann neben das Sofa.
„Trifft es dich so sehr, dass sie nicht mehr da ist oder was geht dir durch den Kopf?“ Ich hatte meine Beine übereinandergeschlagen und sah mit der Teetasse in der Hand zu ihm hoch. „Ich dachte immer, du könntest sie nicht leiden.“ Ich zuckte während ich sprach, mit den Schultern, woraufhin er seine Arme auf die Sofalehne hinter mir stützte.
„Naja, dazu hatte ich auch allen Grund, mh.“ Seine tiefe Stimme kam an ihre sonst so einnehmende Freundlichkeit nicht mal ansatzweise heran. „Sie hat ein langes Leben gelebt und jetzt ist sie gestorben. So sind die Dinge. Auch wir sterben irgendwann.“ Er richtete sich wieder auf und griff nach der Kaffeetasse. „Wo ist dein Mann, Mary? Kriecht er wieder Dad in den Arsch oder hilft er Mum in der Küche bei den anderen alten Weibern?“
Mary schräg hinter uns schnaubte, woraufhin er sich auf das Sofa mir gegenüber fallen ließ, die Tasse hatte er in einem Zug geleert. „Du sollst nicht immer so scheiße zu ihm sein, Daniel.“ Marys Stimme war nun nicht mehr so zuvorkommend leise, obwohl sie sich sichtbar Mühe gab. Auch sie trat wieder zu der Sofagarnitur, setzte sich aber neben mich.
Sein Blick wanderte an ihr hinauf, wie er es immer tat, wenn er die richtigen oder eher die besten Worte suchte, seinen Missmut über Marys Mann an ihr auszulassen. Doch zu meiner Überraschung sagte er nichts, blieb nur mit den Augen an ihrem Viermonatsbäuchlein hängen.
Ich kannte dieses Spiel. Wir spielten es alle drei besser, als es je ein anderes Trio hätte spielen können, das in unserer Situation gewesen wäre. Jeder Atemzug, jede falsche Berührung oder gar jedes falsche Wort hätte Jahre an Arbeit zunichte gemacht.
Dann schlug er sich auf die Oberschenkel und stand auf. „Ich such mal deinen perfekten Mann. Mal sehen, ob er mich auch so einlullen kann wie Mum.“ Er nahm die Tasse in die eine Hand und steckte die andere in die Hosentasche. Dann drehte er sich um und ging aus dem Wintergarten, vorbei an unseren Eltern und den anderen Gästen, die im Wohnzimmer über Kaffee und Kuchen saßen und alten Zeiten mit und ohne Helene hinterherhingen. Natürlich leise und bedacht, wie es Mary versucht hatte und kläglich gescheitert war.
Mary neben mir sah ihm nach. Bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war, dann stand auch sie auf und stellte sich auf seinen Platz am Fenster. Typisch Mary. Egal, wo Spuren von Daniel waren, da waren auch immer Spuren von ihr. Genau wie früher, als Mary nicht mehr Daniel als Vorbild hatte, sondern andere Dinge im Kopf. Da war Daniel trotzdem immer da wo Mary war. Naja. Zumindest in der Nähe. Im Sommer, als sie neunzehn wurden, wohnten sie für ein paar Wochen hier am Meer. Sie hatten von Oma Helene den Auftrag bekommen, solange sie in der Reha war auf die Orchideen aufzupassen. Gemeinsam. Aber das schafften sie natürlich nicht. Also opferte ich einen Teil meiner wohlverdienten Sommerferien und fuhr mit dem Zug ins Wolkenschloss.
Sommer und Häuser am Meer hatten schon immer ihren Reiz und für Mary und Daniel reichten ein paar Schäfchenwolkennachmittage aus. Mir hatte damals ein Blick gereicht, so wie mir auch heute nur ein Blick reichte und ich hatte verstanden. Wenn ich etwas in meinen vierundzwanzig Lebensjahren erreicht hatte, dann war es genau das.
Ich wusste es und war sogleich verdammt, das Kartenhaus aufrecht zu erhalten, mitzuspielen, zu lügen und als Ausrede zu dienen.
Und zwischen meiner Erkenntnis, dass ich auf Frauen stand und eben jenem, hatte ich mich emporgehoben wie ein Adler aus der Asche, hatte ich bemerkt, gelernt, verstanden und gewusst. Und immer geschwiegen.
Eigentlich hätte man meinen können, es würde jetzt sogar noch einfacher werden. Helene hatte es gewusst, sie hatte es jenen Sommer mitbekommen, als sie verfrüht durch die Haustür trat. Doch jetzt war sie tot, konnte Mary keine eisigen Blicke mehr zuwerfen oder Daniel mit Verachtung strafen. Das Haus gehörte mir. Wir waren erwachsen. Mehr oder weniger. Aber natürlich spielt das Leben selten mit dem Plan und ein Risiko immer mit. Ich sah auf ihren Bauch. „Ich denke, lange hält er es nicht mehr aus. Es macht ihn fertig, Mary.“ Mary befand sich meines Erachtens in einer dummen, zu jung und aus reinem Frust wegen Daniels vielen Liebhaberinnen geschlossenen Ehe. Und Daniel? Daniel verbrachte seine freie Zeit zumeist in seinem Büro oder in irgendwelchen Bars. Seinen Zorn ersäufen.
Sie sah zu mir. Ihr Blick glitt über mein Gesicht hin zu der Tasse Tee und dann zu unseren Händen in ihrem Schoß.
„Ich weiß. Aber was soll ich tun? Wir haben darüber gesprochen und er war einverstanden. Er fand, es wäre das Beste.“
„Das würde er doch immer sagen. Daniel liebt dich und außerdem ist er wie wir. Er hat keine Lust, dass es jemandem scheiße geht. Da leidet er lieber selbst.“
Sie schüttelte leicht den Kopf.
„Ach Finnie. Es sind nicht immer alle Dinge Wolkenschlösser. Es war doch nie einfach ‚einfach‘ zwischen ihm und mir. Es ist passiert. Und Jonas … Er geht in der Vaterrolle auf. Jetzt schon, dabei dauert es noch so lange, bis es soweit ist. Das freut mich wirklich. Den Rest kann man nicht mehr ändern.“
Ich zog die Augenbrauen zusammen und presste die Kiefer aufeinander.
„Scheiße ey, seid ihr beide zahm geworden. Ihr versteckt euch vor euch selbst. Er versteckt sich hinter Brandyflaschen und du hinter deiner Ehe. Früher hätte man Bücher schreiben können über euch, eure Lust, euer Leben. Jetzt sitzt ihr nur noch nebeneinander, schaut euch nicht an, redet nicht und wenn, dann nur bissig. Das Kind wird es irgendwann herausfinden. So oder so. Und ihr werdet an euren Gefühlen füreinander zugrunde gehen und ich darf dann schön alle Scherben unter den Teppich kehren. Wie immer.“
Ich stand auf, warf noch einen letzten Blick auf die stürmischen Wellen und jagte an den anderen Gästen vorbei ins Freie.
Es hätte alles so einfach sein können. All die Jahre ging es gut. Doch wo waren wir falsch abgebogen? Wo waren sie falsch abgebogen und wo zum Teufel fuhren wir hin?
Tia Bibra
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