Text zur April-Challenge: Wolkenschloss, Realism
Dieser Text beinhaltet für einige Menschen sensible Themen.
»Yori?« Die Stimme meines Lehrers reißt mich aus meinen Gedanken. Ich blicke von meinem Tisch auf, blicke in sein Gesicht. Sein Blick ist milde wie immer, vielleicht hat er auch einfach nur Mitleid mit mir. Alle haben das.
»Geht es dir gut?«, fragt er. »Möchtest du an die frische Luft?«
Ich schüttele nur den Kopf. Die ganze Klasse starrt mich an, jeder blickt mit dieser furchtbaren Mitleidsmiene. Ich blicke lieber wieder auf meinen Tisch, vergrabe meinen Kopf hinter einem Buch.
Meine Lehrer stört es nicht, wenn ich mitten im Unterricht lese. Oder zumindest so tue. Ehrlich gesagt, sie interessieren sich eigentlich gar nicht dafür, was ich mache. Ich könnte das halbe Klassenzimmer abbrennen und sie würden mich wahrscheinlich trotzdem nur mitfühlend anschauen, den Kopf schütteln und im Weggehen flüstern: »Die Arme.«
Ja, ich höre das. Ich bin ja nicht taub. Auch wenn das wohl alle annehmen.
Der Lehrer fährt mit den Unterricht fort, stellt irgendwelche Fragen zu einem Text, den wir hätten lesen sollen. Habe ich ihn gelesen?
Ist das überhaupt eine Frage? Ich glaube, niemand in der ganzen Klasse hat ihn gelesen, alle labern einfach irgendetwas. Aber ich muss keine Angst haben, ich werde sowieso nicht aufgerufen.
Ich blende die Stimmen um mich herum aus, atme vier Sekunden ein, sieben Sekunden aus. Dann nochmal. Und nochmal.
Nach weiteren fünf Mal bin ich wieder da. Ich stehe auf der grünen Wiese. Über mir ist der Himmel strahlend blau. Einige Schäfchenwolken ziehen vorbei.
In der Mitte der Wiese steht ein Baum. Er ist alt. Sein Stamm ist so dick, dass meine Arme ihn nicht umschließen können. Seine Baumkrone größer als die Fläche eines Hauses.
Und unter dem Baum, im Schatten, sitzt er. Ich komme auf ihn zu. Er lächelt mir von Weitem zu.
Mit jedem Schritt pocht mein Herz schneller. Meine Füße schweben über den Boden, die letzten Meter fliege ich förmlich.
Ich liege in seinen Armen, rieche seinen Duft. Wie diese tollen Blumen aus dem Park, die ich so gerne mag. Aber vielleicht mag ich sie auch erst, seit ich ihn kennengelernt habe.
Ein Blatt fällt auf seine Nase, wir kichern. Er spielt damit herum, pustet es davon und dann fliegt das Blatt, fliegt durch die Luft. Auftrieb erfasst das Blatt, es steigt, immer höher, bis hoch zu den Wolken.
Ich lächele ihn an. Unsere Gesichter kommen sich näher. Mein Herz rast. Und dann treffen sich unsere Lippen. Für einen Moment bleibt die Welt stehen. Seine Lippen sind warm und weich. Wir versinken in unserem Kuss.
»Yori?«
Eine Stimme reißt mich ohne Vorwarnung von ihm weg, ich werde kilometerweit zurückkatapultiert. Ich öffne meine Augen, sehe in das Gesicht meines Lehrers. Seine Augen sind weit geöffnet, er sieht besorgt aus.
Ich blicke mich um. Alle meine Klassenkameraden sind längst verschwunden.
»Yori, du wirkst in letzter Zeit sehr abwesend. Ich weiß, dass die Situation momentan sehr …«, er sucht nach den richtigen Worten, »belastend ist. Ich mache mir ehrlich gesagt Sorgen.«
Wut flammt in mir auf. Aha, jetzt machen sie sich also Sorgen. War ja klar. Monatelang haben alle mich ausgelacht, mich als verrückt bezeichnet. Niemand hat mich ernst genommen. Jeder hat es gesehen und keiner hat etwas unternommen.
Am liebsten würde ich ihm meine ganze Wut entgegenspucken, ihm das Gesicht zerkratzen oder was auch immer. Aber stattdessen lächele ich nur. »Mir geht es gut.«
Er nickt. »Ich denke nur, es ist nicht gut, wenn du dir ein Wolkenschloss baust.« Dann geht er.
Wolkenschloss.
Ich weiß nicht warum, aber dieses eine Wort bricht mich. Tränen laufen aus meinen Augen, über mein ganzes Gesicht. Ich wische mit meiner Hand darüber, aber das bringt überhaupt nichts.
Ich würde für dich ein Wolkenschloss bauen, wenn ich könnte.
Mit dir würde ich überall hingehen.
Ich weiß, Yori.
Bitte verlass mich nie. Ich komme mir dir, egal wohin.
Ich werde immer bei dir sein.
Ich habe Angst vor dem, was nun kommen wird. Die Bilder spielen sich vor meinem Auge ab. Ich kneife die Augen zusammen, mit aller Kraft wehre ich mich gegen die Bilder. Aber ich kann sie nicht aufhalten. Es läuft ab wie ein Film, den man nicht unterbrechen kann.
Ich bin machtlos.
Der See taucht vor mir auf. Nebel hängt über dem Wasser. Es ist kühl. Die Oberfläche ist so klar, man kann sein eigenes Spiegelbild darin erkennen. Wir gehen Hand in Hand am Ufer entlang, zu seiner Lieblingsstelle.
Er greift nach einem Stein, wirft ihn auf das Wasser. Drei Mal springt der Stein, dann versinkt er in den Tiefen. Ich blicke in sein Gesicht, sehe da wieder diese Sehnsucht aufblitzen, als er dem Stein hinterherblickt.
Das bringt mich zum Weinen. Ich schluchze, er legt seinen Arm um mich.
»Bitte, lass mich nicht allein.«
Er lächelt. Nur so flüchtig und trotzdem versetzt es meinem Herzen einen Stich. Jedes Mal, jedes verdammte Mal, wenn er auch nur seinen Mund verzieht, keimt diese Hoffnung in mir auf. Dass er die Dunkelheit in sich besiegen kann.
Doch so schnell, wie sein Lächeln auftaucht, ist es wieder verflogen.
»Ich lass dich nicht allein«, sagt er, schaut mich mit diesem Blick an, mit dem er mich schon seit einigen Monaten anschaut. Ich kann ehrlicherweise gar nicht sagen, wann das angefangen hat, jedenfalls war es, kurz nachdem wir uns kennengelernt haben.
Ich berühre ihn mit der Hand an der Wange. Er dreht den Kopf leicht zu mir. Ich ziehe ihn heran, küsse ihn. Viel zu schnell lösen wir uns. Sein Gesicht ist ausdruckslos, er starrt in die Ferne, auf die kleine Insel inmitten des Sees. Ein altes Gebäude steht darauf, es sieht ein bisschen aus wie ein heruntergekommenes Schloss.
Am Anfang haben wir uns vorgestellt, wie es wäre, in einem wunderschönen Schloss zu leben. Uns unser eigenes Wolkenschloss zu bauen, das Unmögliche zu realisieren.
Unser Schloss ist jetzt wie die verfallene Burg auf der Insel. Eine Ruine.
Ein Auto fährt im Hintergrund vorbei, hupt. Ich springe auf.
»Ich muss nach Hause. Bis morgen«, sage ich und zwinge mich, zu lächeln, auch wenn mir gar nicht danach ist.
Noch einmal lächelt er, wieder dieser Stich durch mein Herz. Ich drehe mich um. Erst nach hundert Metern lasse ich meinen Tränen freien Lauf.
Ich bin schon fast am Auto, als ich merke, dass ich mein Geschenk vergessen habe, zu übergeben. Zu unserem Jahrestag. Ich greife danach, vergewissere mich, dass es noch da ist.
Es ist ein Foto mit uns beiden. Wir liegen verschlungen unter einem alten, mächtigen Baum. Der Baum steht allein auf einer grünen Wiese. Die Sonne scheint, der Himmel ist strahlend blau, einige Schäfchenwolken ziehen vorbei. Und wir lachen, liegen uns in den Armen.
Mit schnellen Schritten eile ich zum See, mein Herz pocht wieder.
Als ich ankomme, ist er nicht mehr da. Ich blicke mich um, suche das ganze Ufer ab, aber er ist nirgends zu sehen. In meinem Magen beginnt es, zu rumoren, Schmerzen ziehen durch meinen Bauch, mir wird übel.
Und dann sehe ich ihn.
Er liegt im Wasser, mit dem Kopf nach unten. Alles strahlt so eine Ruhe, als wäre das hier ein Foto, das ich betrachte.
Ich starre minutenlang einfach nur auf die Stelle, an der er liegt. So ruhig. So bewegungslos. Selbst der See ist völlig still geworden.
Und dann falle ich. Ich heule, ich schreie, ich schluchze. Das Foto gleitet mir aus der Hand. Unser Foto. In diesem Moment kommt ein Windstoß, er packt das Foto. Ich will danach greifen, aber es ist zu spät. Der Wind wirbelt das Foto weiter, mitten auf den See.
Ich stolpere vorwärts zu seinem Körper. Dann berühre ich seine Stirn. Er ist völlig kalt. Seine Augen sind leblos, sie starren in die Ferne.
Und dann murmele ich seine Namen. Immer wieder. So lange, bis ich ihn aus mir herausschreie.
Und der Wind trägt ihn fort, in die ganze Welt.
Mit einem Mal verschwindet alles vor meinen Augen und ich bin wieder da. In meinem Wolkenschloss. Auf der Wiese mit dem alten Baum.
Er lächelt mir aus der Ferne zu. Aber ich … ich kann nicht zurücklächeln. Denn ich weiß, dass er nicht wirklich hier ist.
Ich schreie laut, halte mir die Hände vors Gesicht und dann werde ich wieder kilometerweit zurückgeworfen, zurück in die graue Realität.
Jemand schaut durch die offene Tür ins Klassenzimmer. Als er mich sieht, zieht er seinen Kopf zurück. Schritte entfernen sich.
Ich weine, obwohl gar keine Tränen mehr kommen, obwohl meine Augen völlig ausgetrocknet sind.
»Mit dir würde ich überall hingehen«, murmele ich.
Ich frage mich, wie er sich so kurz vor dem Ende gefühlt hat. Ich hab gedacht, dass ich vielleicht glücklich sein werde. Aber jetzt fühle ich mich einfach nur scheiße.
Ich denke zurück an unser Wolkenschloss. An sein Lächeln. An unseren Kuss unter dem alten Baum. Ich denke an den See. An seinen leblosen Körper, der im Wasser schwimmt.
Dann verdränge ich alle Gedanken.
Ich komme mit dir, egal wohin.
niklasatw
Mögliche Trigger-Themen:
- Suizid
Schreibe einen Kommentar