Eleanor Lovebirds Abwesenheit im Spanischunterricht am Dienstagnachmittag fiel Señior Ajeno überhaupt nicht auf. Robin Fidelity allerdings bemerkte ihr Fehlen sehr wohl. Sie drehte sich mehrfach enttäuscht zu dem leeren Platz in der letzten Reihe, während ihr Lehrer damit beschäftigt war, dem Vorrundenaus der spanischen Nationalmannschaft in der Fußballweltmeisterschaft hinterherzutrauern.

Ihr Sitznachbar Josh Rock schob ihr einen Zettel zu, bevor er sich wie die anderen gelangweilten Schüler einer Runde Candy Crush auf seinem Handy widmete. Robin stopfte das Papier in ihre Hosentasche, ohne es zu lesen, weil sie sich schon vorstellen konnte, was darauf stand. Josh war nie sonderlich kreativ mit den Zetteln, die er schrieb.

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Zur gleichen Zeit saß Eleanor Lovebird auf der anderen Seite des Schulgebäudes in der Bibliothek. Sie war unbemerkt an den strengen Augen der Bibliothekarin Ms. Firm vorbeigeschlichen, um sich nicht auf eine Diskussion über die mehreren überfälligen Bücher einzulassen, die zu Hause auf ihrem Nachttisch lagen.

Eins davon hätte sie schon vor den Sommerferien zurückgeben sollen und inzwischen schien es eine schlauere Lösung zu sein, auf ihren Schulabschluss zu warten und zu hoffen, dass niemand sein Fehlen bemerkte, als die unverschämt hohe Summe an Gebühren zu bezahlen, die sicherlich auf sie wartete.

Dass Ms. Firm viel zu vertieft in mögliche Babynamen für den zweiten Nachwuchs von Kate und William war, konnte Eleanor nicht wissen, während sie sich auf den kratzigen Teppichboden zwischen den beiden Regalen voller Archäologiebüchern sinken ließ.

Es war eine unausgesprochene Regel, dass niemand je dort hinkam. Abgesehen von den vereinzelten Paaren, denen die Bücherei lieber war als die Ostwand des Schulgebäudes, um in Ruhe Speichel auszutauschen.

Eleanor drückte die Pause-Taste auf ihrem Handy, stoppte die leisen Gitarrenklänge von Ed Sheeran und schien aus einer anderen Welt aufzutauchen. Photograph gab ihr, egal wie oft sie es hörte, jedes Mal das prickelnde Gefühl, eine neue Person zu sein.

Auch wenn sie sich selbst für die Musik entschieden hatte, hieß sie nun die Abwesenheit von Lautstärke willkommen, die von dem kühlen Holzregal begleitet wurde, das sich unangenehm in ihren Hinterkopf bohrte. Es war eine angenehme Abwechslung zu dem Lärm, der sie dazu gedrängt hatte, die Kopfhörer überhaupt erst aufzusetzen.

Eleanor atmete lautstark aus, als würde sie etwas loslassen, an dem sie viel zu lange festgehalten hatte.

Alles andere schien egal zu sein. Wie die Gruppe an Jungs, die sich drei Regale weiter darüber unterhielten, welches Mädchen aus ihrem Jahrgang am besten im Bett war. Oder Ms. Firm, die inzwischen dazu übergegangen war Ein ganzes halbes Jahr auf Kosten der Schule zu bestellen, um zu sehen, ob es seinen Platz auf der Bestsellerliste verdient hatte.

Eleanor kramte ihr Notizbuch aus der Schultasche und es kam ihr wie Beton in ihren Händen vor, als würde das Öffnen bedeuten, dass sie all ihre Gedanken niederschreiben musste und sie real werden würden.

Der Regen prasselte gegen das Fenster der Bibliothek und er sollte auch noch ihre Jacke durchnässen, wenn sie in wenigen Stunden auf dem Weg nach Hause war.

Für einen Moment vergaß Eleanor, warum sie überhaupt hergekommen, dem Spanischunterricht entflohen war. Dabei war ihr Grund das genaue Gegenteil davon, warum Robin Fidelity sich jeden Dienstag auf ihn freute.

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Robin sah auf ihr leeres Blatt und dachte an Sonnenblumenfelder, während Señior Ajeno ihnen erklärte, wie man auf Spanisch die Zukunft mit ir a und dem Infinitiv des Verbs ausdrücken konnte. Sich nicht darüber bewusst, dass die Hälfte seiner Schüler — wie Robin — mit allem beschäftigt war, nur nicht damit, ihm zuzuhören.

Josh Rock hingegen schrieb fleißig mit, zum Teil, weil er wusste, dass er Robin später seine Notizen ausleihen wollen würde.

Denn Robin war gedanklich auf dem Sonnenblumenfeld hinter Eleanors Haus, auf dem sie Eis essend lagen. Sie hatten sich über Menschen aufgeregt, die an der Ice Bucket Challenge teilnahmen, ohne zu spenden und #Sonnenuntergang auf Instragram posteten. Die Sonne kitzelte auf ihrer Haut und das Gras kratzte an ihren Beinen. Doch Eleanor streckte ihre Arme und Beine von sich, so dass sich ihr typisches rotes Flanell unter ihren Köpfen ausbreitete und Robin trug neben ihr das Sonnenblumenkleid, das ihrer Umgebung glich. Irgendwie machte das alles besser.

Bis Eleanor versehentlich Schokoladeneis auf das Kleid kleckerte. Robin wollte sauer auf sie sein, als der Fleck auch nach der Wäsche nicht aus dem Kleid herausging. Aber Eleanors große Augen und kleine Worte gaben ihr einen anderen Blickwinkel auf die Situation: „So hast du wenigstens immer was von mir, wenn du das Kleid trägst.“ 

Sie hatte recht gehabt.

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Eleanors Schuhe quietschten, als sie über den PVC-Boden der Schule lief. Die Gänge schienen wie leergefegt, weil alle anderen noch im Unterricht saßen. Eine unbelebte Schule war immer ein wenig gruselig, fand sie. Als würde im nächsten Moment der Strom ausfallen und ein Mörder würde die einzelnen dummen Schüler nach und nach erwischen, die sich aus den verschiedensten Gründen noch im Schulgebäude aufhielten.

Eleanor hatte nicht vorgehabt, die geschriebene Seite in den Spind zu legen. Nicht umsonst waren die Zeilen in ihr privates Notizbuch geschrieben worden. Das sonst nie jemand zu Gesicht bekam.

Doch als sie begonnen hatte zu schreiben, fühlte es sich auf einmal leicht und richtig an, als würde sie all die Seile lösen, die um ihr Herz geschlungen waren.

Und dann hatte sie sich von der Stille befreien wollen, während sie aus der Bibliothek schlich. Durch Zufall schallte Riptide über ihre Kopfhörer. Das Riptide, das sie den gesamten, vergangenen Sommer gesungen hatten. Dessen Text genauso viel Sinn ergab, wie sie selbst.

Und mit Riptide kamen all die Momente, die vor ihrem inneren Augen abliefen.

Eleanor hätte sich gewünscht, dass es etwas Poetischeres war, das sie dazu brachte. Wie der Wind, der durch die Bäume strich und sie ihre Taten bereuen ließ.

Doch es war Riptide, mit dem elendigen Beigeschmack, dass sie es nun auf die Liste der Dinge setzen musste, die sie nicht mehr hören, sehen oder sogar riechen konnte seit diesem Sommer.

Genau genommen seitdem Eleanor Lovebird Robin Fidelity Anfang des Sommers auf der Geburtstagsparty ihrer Schwester im Badezimmer geküsst hatte.

Wahrscheinlich würde sie Sonnenblumen nie wieder so ansehen, wie bevor sie dort zusammen Eis essend lagen. Eleanor wollte Robin küssen zwischen den Sonnenblumen, die sich so weit weg von jeglicher Zivilisation anfühlten. Aber Robin hatte den Kopf geschüttelt und mit der Stirn gerunzelt, als ein wenig Schokoladeneis auf ihr Kleid getropft war.

„Nicht hier“, hallte immer noch in Eleanors Ohren.

Der Fleck war nie aus ihrem Kleid rausgegangen. Auch, wenn Robin sauer gewesen war, mochte Eleanor den Gedanken jetzt noch, dass Robin immer an sie denken musste, wenn sie das Kleid in ihrem Schrank hängen sah.

Damit hatte Eleanor wenigstens eine Sache für Robin ruiniert, während ihre eigene Liste täglich länger wurde.

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Es klingelte und Josh Rock lief neben Robin über den Schulgang. Seiner Meinung nach lief Robin heute besonders langsam. Doch sie beabsichtigte das gar nicht, sondern war gedanklich noch nicht wieder in der Realität angekommen. Sie hing am Anfang des Sommers.

Im Badezimmer ihre Schwester, als Eleanor in der Badewanne gesessen hatte und es ihr so vorkam, als würden sie sich ewig kennen,  obwohl Robin noch Minuten vorher überhaupt nicht wusste, wer Eleanor Lovebird war.

Manch einer hätte den Kuss vielleicht als plötzlich und überraschend beschrieben, aber für Robin war er genau das gewesen, was sie wollte, was in diesem Moment passierte. Sie hatten sich angesehen und Robin hatte sich direkt gewünscht, Eleanor zu küssen.

Die Schulflure überfluteten vor Schülern und Robin wusste, dass sie angeschaut wurde, während sie über den Gang schritt. Die zerrissenen Skinny Jeans, die sie trug, setzten ihre Beine gut in Szene. Aber ihre Mutter hatte ihr beigebracht, nicht zu zeigen, dass sie sich darüber bewusst war.

Denn sie liebte es, angeschaut zu werden. Und besonders liebte sie es, von Eleanor angeschaut zu werden, mit der sie kein Wort gewechselt hatte, seit die Schule wieder begonnen hatte.

Doch sie bemerkte ihren Blick immer, wenn sie in der Nähe war. Eine ihrer besten Eigenschaften, wie Robin fand. Wenn Eleanor einem ihre Aufmerksamkeit schenkte, dann immer zu 100%. Alles, was Eleanor tat, tat sie mit 100%. 100% Gefühl. 100% Leidenschaft. 100% Eleanor.

Auch in dem Moment, in dem Robin an ihrem Spind ankam, spürte sie Eleanors Blick auf sich. Trotzdem schien sie nirgends zu sein, wie Robin nach kurzem Umschauen feststellte.

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Eleanor stand an eine Reihe von Spinds gepresst außer Sichtweite von Robin. Zumindest im Gang voll von Schülern, die sie mit verwirrten Blicken betrachteten.

Doch ihren Spind konnte sie trotzdem gut sehen. Er schien so unscheinbar zwischen all den anderen. Dennoch wusste sie genau, welcher Robins war. Nicht, weil sie ihn jeden Morgen stundenlang aus der Ferne anstarrte, sondern weil sie seit je her einen großen Bogen um ihn machte. Eleanor wollte nicht sehen, wie Robin dort mit ihren Freunden stand. Und vor allem mit den Menschen, von denen sie geglaubt hatte, dass sie schon lange nicht mehr ihre Freunde waren.

„Es ist so dumm“, murmelte sie zu sich selbst, während sie sich näher an die Spindwand drückte und Riptide erneut startete. Es war dumm, dass sie all diese Dinge gedankenlos an jemanden fesselte, in dem Glauben, sie würden immer fröhlich in Erinnerung bleiben. Die gleiche dumme Teenagernaivität war es gewesen, die Eleanor an den Tag gelegt hatte, als sie vollkommen unüberlegt Robin geküsst hatte.

Aber sie sah so schön aus in ihrem weißen Croptop und den Skinny Jeans, dass Eleanor gar nicht anderes konnte als dumm und naiv zu sein.

Und wahrscheinlich war es genauso dumm und naiv den Zettel in ihren Spind zu schieben und nun zu beobachten, wie sie ihn las.

Es würde ihr mehr Schmerz als Erleichterung bereiten.

Aber sie war ein Teenager. Wann sonst hatte sie die Erlaubnis, dumm und naiv zu sein?

***

Der Zettel fiel Robin entgegen und sie wusste, von wem er war, bevor sie überhaupt die geschwungene Handschrift sah, in der ihr Name geschrieben war.

Ein Lächeln bildete sich unweigerlich auf ihren Lippen, auch wenn sie nicht verhindern konnte, dass sich etwas Bitteres daruntermischte.

Robin hatte geglaubt, sie würde am Ende des Sommers einen ähnlich magischen Moment erleben, wie bei ihrem ersten Kuss im Badezimmer.

Auf Tipsy Elwalds Party zum Anfang des Schuljahres, als sie sich extra überschwänglich ins obere Badezimmer verabschiedet hatte. Robins Augen waren auf Eleanor geheftet, wie sie im kurzen schwarzen Rock und dem Hard Rock Café  Shirt in der Ecke stand und sie mit ähnlichen Blicken löcherte.

Sie war sich fast sicher gewesen, dass sich ihr blaues Croptop, welches ihre Haut so gut zur Geltung brachte, gelohnt hatte, als sie Josh Rock abwimmelte, der den ganzen Abend nicht von ihrer Seite weichen wollte.

Und dann hatte Robin gewartet. Sie wusste nicht, wie lange sie auf der Badewanne saß. Aber Eleanor war nie gekommen.

Darauf bedacht, dass niemand anders es lesen konnte, faltete sie den Zettel auf. Die Zeilen würden zu privat sein, damit irgendjemand anders sie lesen sollte. So wie Eleanor auch viel zu privat war, als dass jemand anders von ihr wissen konnte:

Ich wollte dich küssen in der Sekunde, als du mit dem blauen Top durch die Tür geschritten bist wie eine verdammte Königin, die niemand stürzen kann.

Ich wollte dich küssen wie ich dich geküsst habe in deinem Bett, auf deiner Couch und mitten im Sonnenblumenfeld. Wo niemand uns gesehen hat.

Nur das alle uns sehen.

Ich wollte dich küssen, bis kein Zweifel mehr besteht, dass deine Lippen auf meine gehören.

Und dann hast du ihn geküsst.

Robin musste die Zeilen wieder und wieder lesen. Und wieder. Bis sie jedes letzte Wort in sich aufgesogen hatte und alles Sinn ergab.

Doch der schwere Arm, der sich um ihre Schulter legte, unterbrach sie. Sie hatte ganz vergessen, dass er da war.

„Na Baby“, Josh Rock küsste sie auf den Scheitel, als wäre sie ein kleines Kind. „Was hast du da?“

Robin musste sich zusammenreißen, um bei seinem britischen Akzent, den er sich angeblich bei seiner Reise im Sommer angeeignet hatte, nicht die Augen zu verdrehen. Sie bezweifelte, dass man in sechs Wochen London einen Akzent entwickeln konnte.

Anstatt ihm zu antworten, zuckte Robin mit den Schultern, während sie den Zettel schnell zusammenfaltete und ihn zurück in ihren Spind packte.

„Ach nichts, Josh“, murmelte sie und sah zu ihm nach oben.

Josh Rock runzelte die Stirn. Er wusste, dass etwas nicht stimmte und wollte sie fragen, warum sie nicht mit ihm sprach. Dann aber schüttelte er kurz den Kopf und beschloss, es nicht jetzt anzusprechen.

„Hast du meinen Zettel gelesen?“, fragte er und ein leichter Rotstich zog sich über seine Wangen.

Robin hatte den Zettel ganz vergessen. Sie zog ihn aus der Hosentasche und es strahlten ihr zwei schlecht gemalte Lamas entgegen, als sie ihn auseinanderfaltete.

Sie konnte sich den schlechten Wortwitz schon vorstellen, bevor sie ihn sah: I lama you.

Alles Gute zum dreijährigen, Baby!“

***

Eleanor beobachtete, wie Josh Rock Robin einen Kuss auf den Scheitel drückte, wie Robin ihn anlächelte und ihre Worte achtlos den Weg zurück in den Spind fanden. Als wären sie nicht mehr als eine Partie Galgenmännchen.

Doch für Robin waren sie das vermutlich auch. Genauso, wie für sie der Sommer 2014 wohl auch nur ein Sommer war.

Gastbeitrag von Anna-Lisa