Nach außen hin wirkte sie ruhig und gelassen, beinah mit sich selbst im Reinen. Aber ich wusste, dass das nur eine mehr oder weniger gute Fassade war. In all den Jahrzehnten, die ich sie nun bereits kannte, war sie stets immer auf der Suche gewesen und niemand konnte mir jetzt erzählen, dass das nicht mehr so war. Wer seine gesamte Existenz dazu nutzte, inneren Frieden zu finden, gab das so schnell nicht auf, gab sich nicht so schnell damit zufrieden jetzt ein Leben zu führen, das von anderen Dingen gelenkt wurde, als dem eigenen Drang nach Ruhe und Leichtigkeit. Erst recht nicht sie.
Ihre bunten Augen wanderten über das Blatt Papier in ihrer Hand. Sie schien es konzentriert zu analysieren. Ihre blonden Haare waren akkurat zurückgesteckt, ihre Schultern bewegten sich sanft auf und ab und ihre roséfarbene Bluse glänzte matt im morgendlichen Sonnenlicht, welches durch die Zweige des alten Kirschbaums drang, unter dem wir saßen und das versuchte, den vorangegangenen Sommertagen gerecht zu werden.
Die Kohleskizze, die ich ihr gereicht hatte, begann bereits ihre Fingerspitzen schwarz zu färben. Sie hielt sie vorsichtig in der linken Hand, während sie ihre rechte auf die Picknickdecke stützte.
Jetzt in diesem Moment schien sie nichts aus ihrer Fassung zu bringen, von der ich, auch wenn wir uns länger nicht gesehen hatten, wusste, dass sie sie über die letzten Wochen und Monate fast schon stupide aufgebaut und trainiert hatte. Ich war beinah stolz auf sie.
Im nächsten Moment drangen näherkommende Schritte an uns heran. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu sehen, wie seine schweren Stiefel das wilde trockene Sommergras plattdrückten, dass sich davon, so von der Sonne gelb gebrannt, wie es war, nie wieder erholen würde. Warum konnte er nicht wie wir den Weg nehmen?
Sie sah flüchtig auf. Ihre Augen erhellten und ein frischer Glanz blitzte über ihre sanften Züge. Ich mochte, wie man ihr sogleich ansehen konnte, wenn sie etwas erfreute, auch wenn er es war.
Sie biss sich auf die Lippe und reichte mir ohne mich anzusehen langsam die Kohlezeichnung, während er sich hinter ihr halb auf die Decke halb aufs Gras fallen ließ. Sein Blick hatte den ihren mittlerweile endgültig in seinen Bann gezogen und während ich vorsichtig nach der Skizze griff, beugte er sich zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Ich sah weg, richtete meinen Blick auf die Wiese vor uns, nicht auf das frisch verliebte Pärchen neben mir.
Doch ich konnte die Erinnerungen nicht unterdrücken, die in mir aufstiegen und einen Schwall an Emotionen mitbrachten, der mir Tränen in die Augen trieb.
Sie war die Liebe meines Lebens.
Jetzt und schon immer und ohne, dass ich es wollte, kamen mir leichtere Tage in den Sinn. Tage im Garten unter Pflaumenbäumen, das Haus am Meer mit ihr, wie wir jung und wild in den Wellen standen und uns geschworen hatten, für immer für einander da zu sein. Oder Oma Helenes 70er Geburtstag, als sie meine Hand genommen und gesagt hatte, dass niemand je wieder so wichtig für sie werden würde, wie ich.
Ich war so jung und dumm gewesen und wieso ich mich noch immer mit ihr traf, war mir unklar.
Ich sah noch einmal konzentriert auf das Kohleportrait, dass ich von ihr angefertigt hatte, bevor ich es in meine Handtasche gleiten ließ, die Tränen weg blinzelte und versuchte, wieder Herr der Lage zu werden.
„Ich wusste gar nicht, dass du zeichnest. Wie lang kennen wir uns jetzt schon? Und du hast nie etwas davon erzählt.“ Ihre Worte drangen an mich heran, doch wirklich aufnehmen konnte ich sie nicht. Erst als er zu lachen anfing, dreht ich mich wieder zu ihnen. Mittlerweile lag seine Hand an ihrer Hüfte und sie war nah an ihn heran gerutscht, als wäre er der einzige Fels in der Brandung. „Vielleicht ist es ja auch ein neues Hobby, Schatz. Und ihr habt euch ja auch lange nicht gesehen.“ Sie sah ihn grinsend an, nickte und küsste ihn. Ein Schmerz fuhr durch meine Seele, der seines gleichen suchte. Doch ich blieb ruhig, zählte meine Atmung, zwang mich hin zu sehen, sie anzusehen, wie sie ihn küsste. Oma hatte immer gesagt: „Was einen nicht tötet, macht einen stärker.“ Komisch nur, dass ich seit langen schon das Gefühl gehabt hatte, dass, wenn ich sie in seinen Armen sehen würde, ein Teil von mir zersplittert, wie ein Weinglas, das mit einem kräftigen Roten gefüllt, den Fliesenboden in Mamas Küche küsst.
Tia Bibra
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