Ich hätte dich geholt. Und wenn ich nicht hätte gehen können, wäre ich zu dir gekrochen, und egal, wie kaputt wir gewesen wären, wir hätten uns den Weg gemeinsam hinaus erkämpft – mit gezückten Messern und glühenden Pistolen. Weil wir genau das tun. Wir hören nie auf zu kämpfen. – Kaz Brekker (Das Gold der Krähen)
Kürzlich landete der zweite Teil der Krähen-Dilogie von Leigh Bardugo ganz oben auf meinem Lesestapel: Krönender Abschluss oder generischer Fantasy-Kitsch?
„Das Gold der Krähen“ ist die Fortsetzung des erfolgreichen Romans „Das Lied der Krähen“ von der Autorin Leigh Bardugo und spielt in dem von ihr erdachten Grisha-Universum, einer Welt, in der manche Menschen mit besonderen Gaben auf die Welt kommen und beispielsweise Elemente beherrschen oder den menschlichen Körper verändern können. So weit, so gewöhnlich außergewöhnlich. Der erste Teil stand ein Jahr lang auf der Bestsellerliste der New York Times und wurde in 35 Ländern verkauft – Zahlen, die für sich sprechen. Aber kann die Fortsetzung mithalten?
Leigh Bardugo, geboren 1975 in Jerusalem, wuchs in Los Angeles auf und lebt und schreibt nun nach eigenen Angaben in Hollywood, nachdem sie als Journalistin und als Special-Effects-Designerin beim Film gearbeitet hat. So ist es nicht verwunderlich, dass es mittlerweile eine erfolgreiche Netflix-Serie gibt, welche die Geschehnisse aus den verschiedenen Büchern über das sogenannte „Grishaverse“ zeigt. So konnte diese Welt auch die Herzen von Fans erobern, die nicht gerne ein Buch zur Hand nehmen. Ist „Das Gold der Krähen“ also nur generischer Mainstream?
Ganz so sieht es nicht aus, denn Bardugos Worldbuilding ist äußerst komplex. Von solchen magischen Kräften hat man zwar schon des Öfteren gehört, doch in der Welt der Grisha basieren diese Zauberkräfte nicht auf reiner Magie, sondern sie finden ihre Wurzeln in der Wissenschaft. Deswegen, und weil die Welt aus verschiedenen Nationen mit den unterschiedlichsten Kulturen besteht, geht Bardugo in diesem Roman eigene, neue Wege im Bereich der High Fantasy. Es gibt keine typischen Völker wie Elfen oder Zwerge, die rein von Menschen bewohnten Länder sind unter anderem an Osteuropa oder Skandinavien angelehnt, durch ihre komplexen Regeln und Religionen doch wieder ganz anders und neuartig.
Mitten in dieser Welt aus verfeindeten Nationen leben die Protagonistinnen und Protagonisten der Geschichte, eine Gruppe von sechs Außenseitern, die sich in der zwar neutralen, aber durchaus dreckigen und von Abgründen durchzogenen Handelsstadt Ketterdam aufhalten. Im ersten Band ging es um einen gefährlichen Coup, nämlich dem Einbruch in ein Hochsicherheitsgefängnis und der Befreiung eines Insassen, dessen Wissen die ganze Welt ins Wanken bringen könnte. Jetzt in der Fortsetzung wird die Rache und die Suche nach Gerechtigkeit thematisiert, welche die sechs „Krähen“ nach den Ereignissen aus dem ersten Band nehmen und erreichen wollen. Dabei hat jede und jeder von ihnen besondere Fähig- und Fertigkeiten und alle haben ihr Päckchen zu tragen, seien es traumatische Kindheitserfahrungen, der Verkauf als Sklavin an ein Freudenhaus in jener Stadt oder um jemanden, der auf der Flucht vor seinen ehemaligen Vorgesetzten und Kameraden der Armee ist.
Diese Charaktere, welche auf den ersten Blick recht typisch wirken, besitzen durch umfangreiche Hintergrundgeschichten und komplexe Charakterzüge die nötige Tiefe, die gebraucht wird, um sich vollends in die Figuren und die Geschichte hineinzuversetzen. Da gibt es einmal den Anführer, ein berüchtigter Meisterdieb und Schmied der tollkühnsten Pläne, dann einen Scharfschützen mit einem starken Hang zum Glücksspiel, eine Akrobatin, die auf den Dächern Ketterdams zu Hause ist und jeden ausspionieren kann, eine emanzipierte Grisha, deren Kräfte Einfluss auf den menschlichen Körper nehmen und sie mit ihnen in den gefährlichen Gassen überlebt, einen ehemaligen Soldaten und Grishajäger mit großem Rachedurst sowie einen Sprengstoffexperten, der eigentlich aus der Oberschicht stammt, aber seinem Elternhaus entflohen ist. Der Antagonist ist intelligent und scheint oft einen Schritt voraus zu sein, seine Motive sind jedoch auch zum Ende hin nicht vollständig ersichtlich, was eine kleine Schwäche darstellt.
Der Roman bedient sich einem personalen Erzähler, doch die Erzählperspektive wechselt mit jedem Kapitel, sodass jede Figur beleuchtet und den Lesenden nahgebracht wird. Dabei ist die Sprache leicht verständlich, aber nicht schlicht, wie das schnell der Fall sein kann, sondern detailliert und von vielen Vergleichen sowie vielschichtigen Gedankenzügen der Protagonistinnen und Protagonisten durchzogen. Zunächst sind die vielen neuen Begrifflichkeiten, etwa der Städte, der Nationen, der Gottheiten oder der Bezeichnungen für die verschiedenen Grisha, verwirrend und man muss aufmerksam und am Ball bleiben, um den Überblick zu bewahren und das Werk genießen zu können. Trotz der Einführung in die neue Welt bleibt es stets spannend und man will einfach weiterlesen, wenn die Hauptfiguren mal wieder in der Klemme stecken und sich durch eine neue List oder eine unerwartete Wendung retten müssen. Der Roman schafft es dabei, immer wieder zu überraschen, und gerade, wenn man denkt, alles verstanden zu haben, kommt es doch ganz anders.
Nicht nur die Handlung ist fesselnd, eine große Stärke von „Das Gold der Krähen“ liegt in den Beziehungen zwischen den Charakteren. Diese Gruppe, die erst richtig zusammenfinden muss, in der manche schon ewig befreundet sind und andere noch warm werden müssen, wo romantische Verhältnisse auftauchen oder vielleicht auch nicht: Man schließt sie ins Herz und fiebert mit ihnen mit, wenn man sich darauf einlässt. Leider liegt hier auch eine Schwäche verborgen, denn die Liebe zwischen Grisha und Grishajäger, also den auf den Tod verfeindeten Seiten, ist doch klischeehaft und hat man gefühlt schon tausendmal gelesen. Trotzdem wirkt es selten kitschig, denn die Charaktere sind rau und die Beziehung äußerst kompliziert, statt schmachtender Romeo und Julia wird eher eine Beziehung zwischen Katz und Maus beschrieben, was zuweilen sehr unterhaltsam ist.
Ebenfalls eine große Stärke ist die Diversität, welche sich auf natürliche, unaufgeregte Weise durch den Roman zieht. So kommen infolge der vielfältigen Nationen unterschiedliche Hautfarben vor, es werden verschiedenste Religionen und Lebensweisen präsentiert und auch die Sexualitäten entsprechen nicht dem bloßen heteronormativen Weltbild, sondern werden bunt repräsentiert, ohne dass es konkret zum Thema gemacht wird. Diese Mannigfaltigkeit ist einfach normal und akzeptiert, woran sich einige Werke ein Beispiel nehmen könnten, denn nicht selten wirkt Diversität erzwungen und nicht angemessen durchdacht, sodass jenes diverse Merkmal der Figur ihre einzige Eigenschaft darstellt. Leigh Bardugo macht genau diesen Fehler nicht und zeigt, wie es richtig funktionieren kann.
Das heißt aber nicht, dass in der Welt der Grisha alles akzeptiert und toleriert wird. Die Kulturen sind zum Teil bis aufs Blut verfeindet und die Grisha werden von manchen Nationen gejagt und hingerichtet, was man allegorisch zu Themen wie etwa der Homosexualität interpretieren kann. Auch gibt es weitaus fortschrittlichere Kulturen, wo Frauen ebenfalls kämpfen und vor allem ein Stimmrecht und eine Meinung haben dürfen, während bei jenen Grishajägern die Frauen zu Hause bleiben und die Kinder großziehen müssen, da kämpfende Frauen „widernatürlich“ seien. Durch die Beziehung zwischen Jäger und Gejagter werden diese Missstände jedoch aufgezeigt und behandelt, ohne dabei mahnend den Finger zu heben. Es geschieht auf natürliche und argumentative Weise.
Insgesamt kann ich für Leigh Bardugos „Das Gold der Krähen“ eine klare Empfehlung aussprechen, auch Fantasy-Neulinge können durch die mitreißende Geschichte auf ihre Kosten kommen. Man muss aber die Bereitschaft mitbringen, sich auf die komplexe Welt einzulassen, da die vielen Begriffe zunächst etwas verwirrend sind. Zudem lässt sich das Buch zwar unabhängig von den anderen Büchern des Grisha-Universums lesen, jedoch nicht ohne den Vorgängerband „Das Lied der Krähen“. Durch das Lesen des ersten Bandes sollten allerdings auch die Verständnisprobleme nicht mehr auftreten. Die Handlung bleibt spannend bis zum Schluss und die Charaktere wachsen einem ans Herz, es kommen liebevolle Beziehungen vor, die trotz mancher Klischees nie in Kitsch abdriften und ebenso wenig erzwungen erscheinen. Die Sprache ist gerade so anspruchsvoll, dass das Lesen abwechslungsreich und tiefergehend gestaltet wird, jedoch auf einem Niveau, welches vielen Menschen die Möglichkeit bietet, in diese Welt einzutauchen. Man sollte keinen Fantasy-Epos á la „Der Herr der Ringe“ erwarten, dennoch wird man mit dieser fantastischen Version eines Heist-Romans gut unterhalten, weshalb ich 6 von 7 Sternen vergeben möchte.
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