Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, im Jahre 1865 erschienen, handelt von der Protagonistin Alice, wie sie, während ihre Schwester am Lesen ist, einschläft. In ihrem Traum verläuft sie sich im Wunderland, welches beraubt ist von jeglicher Logik und komplett aus ihrer Konvention fällt.
Träume stellen uns nicht nur in Fiktion Rätsel. Auch im echten Leben bleibt uns der Sinn hinter der bizarren Handlung unserer Träume vorenthalten. Zur Entschlüsselung von Träumen ist es wichtig, die Geschehnisse als Symbolik zu betrachten und sich die Frage zu stellen, welcher stellvertretende Sinn hinter dem Sinnlosen steht. Vor dem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Alice im Wunderland viel Fläche für Interpretation bietet, denn während des Handlungsverlaufes begegnen wir unzähliger Symbolik, die auf den ersten Blick bedeutungslos erscheinen, aber in der folgenden Interpretation wird aufgezeigt, dass Alice im Alter von sieben Jahren mit Themen wie dem Einstieg in die Sprache und ihrer Identität konfrontiert wird.

Um den Einstieg von Alice in die Sprache zu verstehen, müssen wir erst einmal die Sprache an sich verstehen. Ferdinand de Saussure, ein Schweizer Sprachwissenschaftler und Gründer der modernen Linguistik, unterscheidet zwischen Langue und Parole. Wobei Langue auf die Sprache als Satz von Regeln und einem abstrakten System verweist, also auf eine Sprache im Konkreten, bedeutet Parole der konkrete Sprachgebrauch an sich, also die tatsächliche Anwendung von Worten. Innerhalb eines Sprachsystems (=Langue) werden Signifikanten, also bezeichnende Symbole, also Wörter genutzt, um ein Signifikat zu bezeichnen. So ist das Lautbild, das Signifikant, B-A-U-M dafür zuständig, im Geiste das Konzept, das Signifikat, eines Baumes hervorzurufen. Auch, wenn sich Teilnehmer einer Sprache durch soziale Konvention über die Zeit hinweg darüber geeinigt haben, welches Lautbild worauf hindeutet, ist dennoch zu sagen, dass die tatsächliche mentale Repräsentation des Signifikats (z.B. des Baums) sich von Person zu Person unterscheidet. In jedem Falle aber ist weder das Symbol, noch das Konzept gleichzusetzen mit dem tatsächlichen Gegenstand.

Um die Brücke zu Alice im Wunderland zu schlagen, ist die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat zu klären, denn sie stehen in einer Arbiträren, also willkürlichen Beziehung zueinander. Gibt man denn die Etymologie eines Wortes an, so stellt sich heraus, dass in jedem Fall der absolute Ursprung einer Symbolisierung darin besteht, dass eine Gruppe von Menschen festgelegt hat, dass ein Wort einen Gegenstand oder ein abstraktes Konzept signalisiert.
Unter diesem Aspekt ist das Wunderland in der Erzählung verständlich, denn Alice fällt als kleines Kind in die Welt der Sprache hinein und wird mit der willkürlichen Natur der Sprache konfrontiert. Schon zu Beginn der Erzählung zeigt Alice eine Abneigung gegen Bücher, welche keine Konversationen oder Bilder beinhalten. Hinzu kommt, dass sie auch schon kurz nachdem sie dem weißen Hasen in seinen Kaninchenbau folgt anfängt, Wörter zu erfinden, die es nicht gibt („curiouser“, S.5) und sich auch selber bewusst wird, dass sie nur Schwachsinn redet („Oh dear, what nonsense I’m talking!“, S.13). Über das ganze Werk hinweg rezitiert sie auch Gedichte und Lieder falsch, verwechselt Wörter oder ganze Passagen und wird auch von den Figuren in Wunderland wegen homophoner Wörter missverstanden. So spricht sie beispielsweise von einer Achse (engl. axis), aber die Figuren denken, sie würde von einer Axt (engl. axe) reden (vgl. S. 51). Dies verdeutlicht weiterhin die Verwirrung, die entsteht, sobald man in eine Sprache eingeführt wird, da Signifikanten, die gleich klingen, mit ihrem entsprechenden Signifikat verwechselt werden.
Später in der Erzählung verirrt sich Alice in einem Wald und möchte irgendwo hin, es sei ihr egal wohin, woraufhin die Grinsekatze ihr antwortet, dass es ja egal sei, wohin sie laufe, wenn es ihr egal ist, wo sie ankomme (S.54). Daraufhin begegnet ihr ein Deck an Karten, wobei die Herz-Königin und der Herz-König als Monarchen die Zahlenkarten beherrschen und vor allem die Königin sich als tyrannisch entpuppt, da sie ständig Figuren köpfen möchte, sobald sie wütend wird. An dieser Stelle der Erzählung fängt Alice allmählich an, Kontrolle und Macht über die Sprache und damit über die Figuren Wunderlands auszuüben. Die Königin nämlich fordert Alice zu einem Cricket-Spiel heraus mit einem Flamingo als Schläger und einem Igel als Ball (S. 72). Sie schafft es nicht, den Igel mit dem Flamingo-Schläger zu spielen und in dem Moment taucht der Kopf der Grinsekatze im Himmel auf und Alice beginnt sich darüber zu beschweren, dass das Spiel unfair sei, da es an Regeln fehle. Hierdurch wird die regelsetzende Instanz der Grammatik im Zusammenspiel der Signifikanten in einem Satz durch die Grinsekatze im Himmel symbolisiert.
Der Konflikt bleibt ungelöst, aber Alice zeigt immer mehr Macht über die streitenden Signifikanten. Denn im darauffolgenden Gerichtsverfahren, in dem der Herz-Bube angezeigt wird, die Torten der Herz-Dame gestohlen zu haben, kritisiert sie immer häufiger die Unlogik des Verfahrens und der Argumentation der Dame. Und als ihre Körpergröße wächst und der Herz-König sie deshalb verurteilt, sagt sie zu sich selbst „you are nothing but a pack of cards“ (S. 108) und bezeugt damit ihre Kontrolle über die Symbole, die Signifikanten, welche sie zuvor vollkommen verwirrt haben. Zum Schluss wacht sie auf.

Der zweite Aspekt der Erzählung ist Alice´ Identität. Über das komplette Werk hinweg wird Alice mit Problemen um ihre Körpergröße konfrontiert. Zuerst ist sie zu groß, um durch die Türe in das Wunderland zu gelangen und nach dem Essen von einem Keks schrumpft sie so klein, dass sie den Schlüssel zur Türe nicht erreichen kann (S. 8). Diese Problematik um Alice´ Unwohlsein in ihrem Körper zieht sich durch das komplette Werk und stellt damit die Selbstwertprobleme um den eigenen Körper bei Kindern da. Mal ist sie zu groß und ein anderes Mal ist sie zu klein und jedes Mal wird die Unzufriedenheit über den eigenen Körper durch Essen und Trinken verursacht. So wächst Alice, wenn sie Süßwaren isst und wird einst sogar so groß, dass sie nicht mehr in ein Haus passt (S. 30).
Den Höhepunkt des Konflikts erreicht Alice, als sie von der rauchenden Raupe gefragt wird, wer sie sei, und Alice antwortet, sie wisse es nicht. Sie habe sich allein seit dem Morgen schon mehrfach verändert und sie sei nicht sie selbst. Dadurch wird aufgezeigt, wie sich das Selbstbild von Kindern nicht nur um den Körper, sondern auch im inneren Erleben nicht kontinuierlich hält, sondern ständig wandelt und in dem Fall Alice verwirrt. Jedoch dient am Ende das Abenteuer durch Wunderland als Bestätigung für Alice, um ihre große Schwester als Vorbild zu sehen und sie nimmt sich vor, ihre eigenen Kinder irgendwann mit Geschichten von Wunderland zu inspirieren und schafft es so, die verwirrende Erfahrung in Wunderland in ihr Ich zu integrieren und dadurch zu einem stabileren Selbstbild zu kommen.

Schlussendlich kann man sagen, dass Alice im Wunderland von Carroll zwar auf den ersten Blick als unlogisch und verwirrend erscheint, aber bei genauerem Hinsehen faszinierende Tiefe aufweist. Durch kryptische Symbolik bietet das Werk viele unbewusste Möglichkeiten, sich mit der Entwicklung des Kindes auseinanderzusetzen, um die formbaren Jahre des Menschen besser verstehen zu können. Daher ist der weitreichende Erfolg dieser Kinderliteratur nicht verwunderlich.


Harun