Ein Lächeln, als Ausdruck von Freude, von Sympathie.
Tränen für die Traurigkeit und Zornesfalten für die Wut.
Für ein Kind so simpel. Für einen Erwachsenen so schwer.
Hibbelig und aufgeregt stand sie mit den anderen an der Haltestelle. Immer wieder rückte sie ihren knalligen Schulranzen zurecht und strich liebevoll über die pinken Schulterriemen. Ihre langen, geflochtenen Haare gingen ihr fast bis zur Hüfte. Die Luft war frisch und roch nach dem kommenden Sommer, trotzdem fröstelte sie nicht in ihrem Kleidchen und der dünnen Jacke. Sie ließ sich von der Kleiderwahl nicht abbringen. Schließlich würde es Mittags schon wärmer werden. Obwohl sie bereits seit mehreren Tagen eingeschult war, verspürte sie immer noch die Vorfreude, wie an jenem ersten Tag.
Neues entdecken. Mit Freunden spielen. Endlich ein Schulkind sein.
Immer den stolzen Blick ihrer Eltern vor Augen, wenn sie etwas über den Unterricht erzählte. Sie würde die Zeichen aus den Kinderbüchern, welche ihre Eltern ihr vorlasen, endlich verstehen. Vielleicht würde sie ihnen selbst etwas vorlesen. Sie musste nur üben.
Üben, üben, üben.
Und dafür war sie doch jetzt in der Schule.
Während sie auf den Bus wartete und dabei zusah, wie die Jungs sich gegenseitig jagten, ertönte ein Grölen nicht weit von ihr. Sie linste etwas zur Seite und begutachtete beinahe ehrfürchtig die älteren Schüler.
Sie standen immer etwas abseits in Grüppchen, bewegten sich kaum von der Stelle und schauten dauernd auf einen kleinen, schwarzen Kasten in ihren Händen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas zu erkennen. Es hatte eine leuchtende Scheibe, wie der Bildschirm, den ihr Vater Computer nannte. Für sie ergab das keinen Sinn. Warum sollte man seine Zeit damit verschwenden, wenn es doch genug Neues zu entdecken gab? Tagein und Tagaus taten diejenigen nichts anderes. Fiel ihnen denn nichts Besseres ein?
Sie runzelte die Stirn und betrachtete die anderen genauer. Sie alle hatten denselben stoischen Gesichtsausdruck und der Rucksack baumelte bei allen an einer Schulter herab.
Trug man das so, wenn man älter war?
Ihre Eltern rieten ihr immer, beide Riemen zu nutzen, es war besser für den Rücken. Daran würde sie sich halten. Eltern hatten immer recht.
Das Kreischen der Jungs riss sie wieder aus den Gedanken und sie ging ein Stück den Bürgersteig entlang, um vorne einsteigen zu können. Sie wollte unbedingt vorne sitzen und versuchte sich nicht vom Gedrängel der Jungs beiseiteschieben zu lassen. Man wollte ganz nach vorne und durch die Windschutzscheibe sehen, dem Busfahrer beim Lenken zusehen. Im Auto ging das nicht, nur hier durfte man vorne sitzen.
Dabei sah die Scheibe so riesig aus, als würde man in einem Kino sitzen.
Sie bekam ihren gewünschten Platz und machte es sich bequem. Jedoch konnte sie es sich nicht verkneifen, nach hinten in den Bus zu schauen. Komischerweise war bei den Älteren der Fall andersherum. Sie hatten ihren Stammplatz hinten in der letzten Reihe. Es schien ein ungeschriebenes Gesetz zu sein. Jeder wusste, wo sein Platz war.
Sie konnte sich nicht vorstellen, ihren Sitz jemals einzutauschen. Aber würde sie später vielleicht doch noch genauso werden?
Sie taten ihr leid. Wie immer trugen sie denselben Gesichtsausdruck, als würden sie nichts fühlen. Empfanden sie denn keine Freude oder Trauer?
Wenn sie nicht redeten, schauten sie teilnahmslos mit ihren Stöpseln im Ohr aus dem Fenster. Der ganze Bus vibrierte vor Leben, so laut war er. Erfüllt voller Spaß der anderen. Dies schien alles am hinteren Abteil vorbeizugehen. Wie schaffte man so etwas? Sie bewunderte es, doch gleichermaßen war es ihr auch suspekt.
Als sie merkte, wie der Bus anfuhr, drehte sie sich nach vorne und schaute gebannt durch die Windschutzscheibe. Sie hatte nicht mitbekommen, dass die Türen bereits geschlossen waren.
Was würde der Tag heute wohl für sie bereithalten? Sie stellte sich vor, die Strecke wäre eine Achterbahnfahrt, und lehnte sich in jede Kurve mit rein.
Genoss jede Bodenwelle, die ihren Magen hüpfen ließ, als würde er Schmetterlinge beherbergen.
Irgendwann kramte sie in ihrer Tasche nach dem Springseil. Heute würde sie mehr Sprünge als alle anderen schaffen. Mit dem Seil in der Hand und einem dicken Grinsen auf dem Gesicht drehte sie sich abermals kurz nach hinten. Dabei begegnete sie einem dieser stoischen Gesichter und sofort erlosch das Lächeln wieder. Wie trostlos musste das Leben von Erwachsenen sein, wenn sie ihre Fantasie verloren hatten.
Jahre später
Der Rucksack hing so niedrig, dass er bei jedem Schritt gegen die Hüfte schlug. Der andere Riemen war bereits abgerissen und baumelte reglos hinunter.
Wie jeden Morgen war es viel zu laut an der Haltestelle. Kinder konnten nicht leise sein, sie mussten immer rumschreien, als hätten sie zu viel Energie. Vielleicht war das auch so, vielleicht hatten sie heimlich morgens an der Kaffeetasse genippt.
Unerlaubterweise natürlich. Sie ließen sich nichts sagen und es war einfach nur nervig. Sie schienen keinen Respekt zu haben, als würde ihnen die Welt gehören. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Teilnahmslos steckte sie ihre Kopfhörer ins Ohr, stellte die Musik auf Laut und checkte noch kurz ihre Mails.
Die Müdigkeit übermannte sie beinahe und ihre Laune rutschte immer weiter in den Keller.
Die anderen registrierte sie kaum, sie gehörten nicht zu ihrer Clique, trotzdem setzte sie sich automatisch nach hinten in den Bus, als dieser anhielt.
Es interessierte sie nicht, was um sie herum geschah, mit ihrer stoischen Miene schaute sie aus dem Fenster. Sie musste gleich noch Hausaufgaben der dritten Stunde in Mathe erledigen. Und hatte sie ihre Sachen für Englisch dabei?
Innerlich zuckte sie mit den Schultern. Was soll‘s. Dann gab es eben einen Eintrag ins Klassenbuch, was machte das schon.
Immer wieder checkte sie ihre Mails und ärgerte sich. Wieder keine Antworten.
Plötzlich registrierte sie eine Bewegung neben sich.
Der Bus war mittlerweile so voll, dass sich die Kinder bis hinten in den Gang drängten. Ihr gegenüber saß auch ein Kind. Ob sie wussten, dass das hier nicht ihr Territorium war?
Die Lautstärke übertönte sogar die Musik. Und immer mehr Deo vermischte sich mit der eh schon stickigen Luft hinten. Es war mitten im Sommer, es war ein Wunder, das ihr nicht schon der Schweißgeruch in die Nase stieg.
Eins der Kinder setzte sich zu ihren Füßen auf den Boden. Sie spähte neben sich auf den Sitz, wo ihre Tasche lag, und zog sie widerwillig auf den Schoß. Einen breiten Schulranzen wollte sie nicht neben sich haben, aber gut erzogen war sie trotzdem. Das Kind schaute seitlich zu ihr hoch, als sie den freien Platz bemerkte.
Als sie den Blick der Kleinen erwiderte, dauerte es einige Sekunden, bevor sie wieder die Augen auf den Boden richtete.
Beim nächsten scheuen Blickkontakt schaute sie energisch auf den freien Platz neben ihr und dann wieder zurück. Musste sie es jetzt echt in Worte fassen, dass sie sich ruhig hinsetzen konnte?
Strahlte sie vielleicht etwas Furchterregendes aus?
Nach einigen Minuten, in denen man dem kleinen Mädchen förmlich ansah, wie es mit sich rang, drückte der Ranzen in ihre Schulter und sie bereute diese Entscheidung sofort wieder. Schloss für einen kurzen Moment genervt die Augen.
Als sie diese wieder öffnete, fing sie ihren Blick in der Scheibe ein. Sie musterte sich selbst mit ihren langen blonden Haaren, die ihr im Washed-Look über die Schultern fielen, und ihrem starren Blick. Sie erschrak vor sich selbst.
Ihr kamen die Gedanken in den Sinn, diese Skepsis, als sie genau solche Menschen beobachtet hatte.
Solch ein Mensch, wie sie selbst jetzt einer war.
Sie linste neben sich und schaute in den aufgeschlagenen Comic, was das kleine Mädchen neben ihr las.
Wie oft hatte sie selbst hier gesessen und wurde dafür nur ausgelacht? Es war ihr immer egal gewesen, sie hatte gelernt, keine Miene zu verziehen. Wenn keine Reaktion kam, würden sie einen in Ruhe lassen.
Verbittert stellte sie fest, dass sie genauso geworden war.
Alt. Fantasielos. Emotionslos.
Nein. Emotionen besaß sie. Sehr viele sogar, nur fiel es ihr schwer, ihnen Ausdruck zu verleihen. Bis sie irgendwann in einem Strudel aus Chaos hervorbrachen und alles verschlangen. Sodass man selbst nicht mehr wusste, wo Unten und Oben war. Wer man selbst war.
Sie focht mit sich einen Kampf aus, bevor sie sich mit einem Räuspern bemerkbar machte. Die Kleine zuckte zusammen und schaute mit großen Augen hoch.
„Was liest du denn da? Das sieht spannend aus.“ Ihr Lächeln war aufmunternd und gespannt. Sie wollte alles wissen.
Sie wollte Welten entdecken und ihrer Fantasie wieder neuen Zunder geben. Sie entflammen lassen und diese triste, in sich gekehrte Welt hinter sich lassen. Die Brücke überwinden.
Denn ob jung oder alt, alle besaßen Emotionen, die gezeigt werden konnten. Und alle besaßen Fantasie, wenn man sie nicht im Inneren verschließen würde. Verschließen würde, um sich der Norm anzupassen.
Weil mit der Zeit wichtiger wurde, was andere über einen dachten.
Und nicht, was man selbst dachte.
NARYA
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