Sanft und warm brachen einzelne Strahlen Abendsonne in den Korridor und tauchten ihn so in warmes Kastanienbraun. Mit jedem zielstrebigen Schritt durchbrach ihr Körper die Stasis des Augenblicks, warf einen Schatten an die, den kleinen, hochgelegenen Fenstern gegenüberliegende, lange Flurwand. Doch galt ihr Interesse etwas anderem. Sie musste sich beeilen.

Ihr Tutor hatte die Stunde um einiges überzogen und so blieben Natalie nur noch wenige Minuten, um vom Politikgebäude durch die ebenerdigen Korridore zu den Ateliers zu gelangen.

Um 19 Uhr 30 würde sie bereits weg sein. Da war sie sich sicher. Der Bus 603 fuhr gegen fünf nach halb und man brauchte etwa 5 Minuten vom Kunstblock zur Haltestelle. Marleen wohnte nicht wie sie in einer Privatwohnung gegenüber der Universität, sondern irgendwo zwischen hier und der Endstation der Linie 603. Bis jetzt hatte sich Natalie nicht getraut, das genauer herauszufinden. Schließlich wollte sie unter keinen Umständen auffliegen oder gar als Stalker bezeichnet werden. Das würde vermutlich ihr Ansehen zunichtemachen und jegliche Jobchancen gleich mit.

Sie sah auf die Uhr. Ihre Apple-Watch zeigte 19:23. Natalie presste Luft durch die Nase und legte noch einmal einen Schritt zu, obwohl sie Bleistiftrock und Slingback Manolo-Blahnik-Schuhe trug. Sie durfte Marleen auf keinen Fall verpassen. Sie steckte schon viel zu tief drin, um auch nur eine Chance für einen Blick auf sie nicht zu ergreifen.

Als Natalie wenige Sekunden später die Treppen zu den Ateliers erreichte, strichen ihre Absätze auffällig laut über den alten Steinboden der Universität. Eigentlich gab sie sich stets Mühe, dass ihre Anwesenheit im Kunsttrakt so unbemerkt wie möglich blieb. Auf der Tatsache beruhend, dass sie Politikwissenschaften studierte und Unisprecherin war, kannten sie die meisten Studenten und wussten, dass es genaue Gründe dafür geben musste, warum ausgerechnet sie sich bei den Ateliers rumtrieb. Glücklicherweise trug der einzige Typ, der sich zu dieser vorangeschrittenen Stunde noch in der Ruheecke bei den roten Samtsofas aufhielt, Kopfhörer und steckte mit der Nase in einem Roman. Oben angekommen bog sie zielstrebig nach links und gleich darauf scharf nach rechts, bevor sie langsamer wurde und kurze Zeit später zum Stehen kam. Ihr Herz pochte. Sie holte unelegant mit offenem Mund Luft, schluckte und strich sich eine blonde Strähne hinters Ohr, die ihr zuvor aus der großen Klammer gerutscht war. Immer das Gleiche. Nie konnte dieser Idiot donnerstags pünktlich Schluss machen. Sie holte ein letztes Mal tief Luft, dann sah sie sich vorsichtig um.

Im letzten Glaskasten brannte Licht. Natalie entwich ein beruhigter Seufzer. Sie war tatsächlich noch rechtzeitig. Langsam streckte sie sich aufrecht, sah über ihre Schulter, um sicher zu gehen, dass auch wirklich niemand in ihre Richtung kam und streifte sich anschließend ihre Schuhe von den Füßen. Sie hatte einmal den Fehler begangen, mit Absätzen über den Flur zu gehen. Es hatten nur Augenblicke gefehlt und sie wäre aufgeflogen. Und das durfte auf keinen Fall passieren. Unter keinen Umständen durfte Marleen sie bemerken. Bei einer Konfrontation würde ihr Ego und auch ihr mühselig erarbeiteter Ruf der „kühlen Blonden, die nur mit angesagten Typen ausgeht“ dahin sein. Sie würde rot anlaufen oder gar auf die Knie fallen. Das konnte sie nicht zulassen.

Also gab sie sich einen Ruck und schlich langsam an das kleine Atelier. Je näher sie kam, umso kräftiger roch es nach nasser Acrylfarbe. Ein wirklich aufdringlicher Geruch, der in ihrem Geist aber schon längst mit Marleen verbunden war. Mittlerweile gefiel ihr er beinah noch besser als der von frischen Croissants am Morgen.

Sie brauchte nur wenige Schritte, bevor sie Marleens lange, dunkelrote Locken hinter der Glasscheibe ihres Ateliers ausmachen konnte. Natalie entwich ein kleiner Laut, Gänsehaut breitete sich über ihren Armen aus. Es fühlte sich so verboten an, dieser wunderschönen Frau beim Malen zuzusehen, wie sie ein Meisterwerk nach dem anderen fertigstellte. Sie war so talentiert, so frei, so …

Natalie war sich schon länger darüber im Klaren, dass sie sich in Marleen verliebt hatte. Sie hatte etliche schlaflose Nächte und viele stille Weinkrämpfe gebraucht, um zu akzeptieren, was sich eigentlich schon seit einiger Zeit in ihrem Herzen manifestiert hatte. Sie liebte Frauen. Und vor allem liebte sie Marleen.  

Seit fast 8 Monaten spielte sie nun schon dieses gefährliche Spiel mit sich selbst. Anfangs war es ihr einfacher gefallen, nur mal „ab und zu“ donnerstagabends in das Kunstgebäude zu schleichen und Marleen beim Malen zuzusehen, aber mittlerweile war es ein Ritual geworden. Sie beobachtete die schönste Frau der Welt leise von der Ferne und begab sich dann einsam auf den Heimweg.

Ihren Freunden war nie etwas aufgefallen. Sie hatten zu viel mit sich selbst zutun, um zu bemerken, dass Natalie seit Monaten nicht mehr über irgendeinen heißen Typen fantasierte. Sie war allgemein ruhiger geworden, ging nur noch selten aus und verbrachte mehr Zeit allein. Sie musste um alles in der Welt verhindern, dass jemand von ihren Gefühlen für Marleen Wind bekam. Vermutlich würden ihre Freude und auch ihre Familie sie verstehen, sie nicht abweisen, nur weil sie eine Frau liebte, doch war sie für diesen großen Schritt noch nicht bereit. Zuerst musste sie sich mit sich selbst wohlfühlen. Die anderen kamen später.

Dann auf einmal nahm Marleen ihre Tasche und ehe sich Natalie versah, war sie dabei, sich diese über die Schulter zu werfen. Ohne zu zögern schlich sie, noch immer barfüßig, zurück Richtung Hauptkorridor. Zwei Minuten. Heute waren es nur zwei kurze Minuten gewesen, die sie Marleen hatte beobachten können. Irgendwann würde sie diese Heimlichtuerei noch umbringen. Nervlich zumindest. Doch welche Wahl hatte sie schon? Sie wusste rein gar nichts über Marleen, außer ihren Namen und dass sie eine der begnadetsten und talentiertesten Malerinnen war, die je an dieser Universität studiert hatten. Das zeigten nicht nur einige Fotos im Verwaltungsgebäude, sondern auch ihre Werke selbst. Eines davon hing bei einem deutschen Basketballspieler, der erst vor ein paar Jahren in den USA Karriere gemacht und ebenfalls an dieser Universität studiert hatte. Sie war schon jemand. Auch das zählte zu den Dingen, die Natalie so unglaublich beeindruckend an ihr fand, auch, weil sie ähnliche Ziele verfolgte. Auch sie wollte unbedingt jemand werden und dank ein paar gelungenen internationalen Repräsentationen der Universität war sie auch auf einem guten Weg dorthin. Sie musste nur dranbleiben.

Eifrig streifte sie sich ihre Manolo Blahniks wieder über die Füße und hastete die Stufen hinunter. Der Typ war mittlerweile von den Sofas verschwunden und mit einem letzten Blick hinter sich stieß Natalie eine der großen Türen des Seiteneingangs auf und trat in den warmen Sommerabend. Straßenlärm und ein milder Geruch von Rosen empfing sie. Sie ging einige Schritte, bevor sie anhielt, um Luft zu holen. Erneut strich sie sich die blonde Strähne aus dem Gesicht, doch rutschte dabei unabsichtlich ihre Handtasche von der Schulter. Natalie hatte Mühe, den dunkelblauen Aktenordner an seinem Platz zu halten. Mit einem beherzten, aber recht uneleganten Griff über ihren Ellenbogen konnte sie die Katastrophe gerade so noch abwenden, als …

„Warte. Ich helf’ dir.“ Eine melodische Frauenstimme erklomm ihren Geist. Warm und eindringend wie bei einem Hörbuch. Natalie blieb die Atmung im Hals stecken. Erschrocken fuhr sie ’rum, nur um noch im selben Augenblick in Marleens wiesengrüne Augen zu blicken, die sie im Kern ihrer Standhaftigkeit erschütterten. Und als ob das nicht genug gewesen wäre, rutschte die Akte aus ihren Fingern und fand mit einem dumpfen Aufprall ihren Weg auf die gegilbten Granitplatten des Unieingangs.

„Oh, entschuldige!“ Marleen bückte sich rasch, um den Ordner aufzuheben. „Ich hab’ es schlimmer gemacht. Mist.“ Ein amüsierter Laut entfuhr ihr, als sie Natalie die Akte entgegenhielt. Doch die machte keine Anstalten, sie ihr abzunehmen. Natalie war im Begriff, einen Krieg mit sich selbst auszutragen. Dabei stand alles zwischen „Ich liebe dich“ und „Danke“ zur Debatte. Ein kalter Schauer jagte ihren Rücken hinunter. Sie konnte nur stumm beobachten, wie Marleens Augenbrauen immer höher wanderten, bis sie beinahe ihren Haaransatz streiften. Die roten Locken umrahmten ihr herzförmiges Gesicht wie ein Blumenreigen einen Torbogen und ihre Sommersprossen glitzerten im Abendlicht mit den Fensterscheiben der Aula im Hintergrund um die Wette. Nur ein einziger Gedanke huschte durch Natalies Geist: Wie konnte man so schön sein?

Marleens Gesichtsausdruck wechselte über die nächsten Sekunden hin zu schierer Überforderung, bis sie schlussendlich die Initiative ergriff und den Ordner Natalie einfach in die Arme drückte. Dann nickte sie.

„Lass ihn nicht wieder fallen, okay? Kann ihn nicht nochmal aufheben. Muss zum Bus.“ Dann trat sie an Natalie vorbei und eilte schnellen Schrittes zu den Bushaltestellen. Natalie sah der Rothaarigen nicht nach, hörte nur ihre Turnschuhe über den Boden wandern. Erst als ihr Handy „Indigo Girl“ von Watershed in unangenehmer Lautstärke aus ihrer Tasche trällerte, schaffte sie es, sich erneut zu bewegen. Verloren kramte sie einige Sekunden in den Tiefen ihrer Birkin, bevor sie den Anruf annahm. Es war Hannah.

„Kommst du? Zu Marcel? Wir stehen am Restaurant gegenüber den Büros.“

„Äm.“ Natalie atmete stoßartig, ihre Gedanken fanden nur sehr langsam in ihre kühle, blonde Hülle zurück. Hannah hatte die Angewohnheit, alles, wirklich alles, für selbstverständlich zu nehmen. Sie war hilfsbereit und süß, aber manche Dinge verstand sie einfach nicht.

„Ich kann nicht. Ich bin echt fertig. Der Kurs war ätzend.“ Natalie schluckte und bedachte ihre Worte mit einer weitläufigen Tragik.

„Heavy, wie wenig du zur Zeit mitmachst, Girl. Uni is nicht alles. Is’ dir klar, oder?“ Hannahs Worte stachen wie Nadeln in Natalies Geist. Natürlich wusste sie es. Natürlich sah sie, wie sie sich veränderte, seit … seit … Sie presste den Kiefer zusammen. Sie musste besser aufpassen, verdammt.

„Easy, Schönheit.“ Ihre Worte klangen hohl, als sie sie ins Telefon feuerte. „Diese Treffen sind nun mal notwendig. Ohne bekomm ich nicht die Punktzahl, die ich für meinen Schnitt brauche. Ohne mich läuft die Bude doch gegen die Wand. Ich repräsentiere. Das ist mein Job.“

Sie musste von ihren eigenen Worten beinahe brechen. Zu sehr klang sie wie ihr Vater. Dieser Tonfall, diese Undankbarkeit kroch ihr die Kehle hinauf. Sie war kurz davor, Feuer zu fangen. Hannah am anderen Ende musste lachen.

„Ja, schon klar, Eisprinzessin. Kühl dich ab, nehm eine Dusche oder such dir ’nen Typen. Wir sehen uns morgen. Dann hoffentlich entspannter.“ Sie legte auf.

Natalie atmete. Etwas anderes konnte sie in diesem Augenblick nicht. In den letzten Monaten hatte ihr Ego an Schwäche gewonnen. Schwäche? War es wirklich Schwäche? Sie ließ ihr Handy zurück in ihre Handtasche gleiten. Nein. Sie war nur … unkonzentriert. Verdammt! Marleen hatte es geschafft, dass sie sich bis auf die Knochen hinterfragte. Sie wollte unbedingt jemand werden. Genau wie Marleen es auch schon geschafft hatte, aber so abgelenkt war das vollkommen unmöglich. Fokus. Sie brauchte ihren alten Fokus! Natalies Fingernägel drückten scharf in ihre Handflächen. Sie musste wieder vorsichtiger werden.

„Keine Besuche mehr.“ Sie flüsterte es so leise, dass nur sie es hören konnte. Obwohl es eh egal gewesen wäre, schließlich stand niemand mehr in ihrer nahen Umgebung. Sie war vollkommen allein auf dem Vorplatz der Uni. In der nächsten Sekunde setzte sie sich, angespornt durch einen einnehmenden Willen, in Bewegung. Schnellen Schrittes jagte sie über die Granitplatten und über den Bürgersteig zum Zebrastreifen. Zwanzig Meter und sie wäre an ihrer Privatwohnung. Zwanzig Meter und sie könnte bei einem guten Rotwein darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte. Zwanzig Meter und sie könnte endlich schreien.

Tia Bibra