Ich habe sie verloren. Sie sitzt neben mir auf einer Bank im Café, sieht über den kleinen Tisch vor uns in die grün-belebte Straße und beginnt zu lächeln, als sie von ihrer Freundin erzählt. Sie wollen zusammenziehen, in eine größere Wohnung in der Stadt. Sie wollen in den Urlaub, mit ihren Mädels eine Rundfahrt durch Italien. Sie wollen vielleicht heiraten. Aber nur vielleicht. „Wenn es passt“, sagt sie und lächelt erneut.

Ich bin im Toiletten-Spiegel zwanzig Jahre gealtert als ich hineinsehe. Das gedimmte Licht gibt preis, was ich mit viel Makeup zu verdecken versucht habe. Stress jagt mir durch die Seele. Stress und eine altbekannte Angst, zu versagen. Ich habe schon oft versagt und jetzt gerade in diesem Augenblick tue ich es wieder. Ich atme ein. Tief. Sehe mich weitere zehn Jahre im Spiegel altern und träume für eine Millisekunde vom Haus am Meer mit ihr, das so nie existieren wird. Zumindest nicht für uns. Sie wird es vermutlich haben. Dieses Haus. Mit großen, weißen Fenstern und Veranda zum Meer. Nur nicht mit mir.

Ich hieve mich die Stufen hinauf, wieder neben sie. Am liebsten würde ich ihr meine Pläne verraten. Ich habe mir zwei Jahre gegeben. Zwei Jahre oder bis sie verheiratet ist. Eine einfache Rechnung, doch nicht weniger schmerzhaft. Ehrlich gesagt zerreißt es mich. Ich lächle sie an. Sie lächelt zurück, ihre Augen blitzen. Sie ist angekommen. Herrlich ungeniert glücklich. Und ich gebe mich geschlagen. Ihr Glück avanciert zu einem Maximum für mich. Am liebsten würde ich es ihr ins Gesicht schreien. „Sei glücklich! Heirate sie! Lache, wie nie zuvor! Lebe! Und bereue nichts.“ Ich muss innehalten, als ich an meinem kalten Cappuccino nippe. Was würde ich geben, um diese Augenblicke immer mit ihr zu haben, täglich mit ihr zu teilen? Was würde ich geben, ihre Hand nehmen zu können, sie auch nur berühren zu können, ohne dass sie sich für den sanften Streifer ihrerseits entschuldigt?

„Es ist gut, dass du so viel über dich rausgefunden hast.“ Sie sagt es in einem ernsten Tonfall. Sie meint, was sie sagt. Ich nicke. „Es war ein langer Weg.“ Und verschweige, dass das Akzeptieren ihrer Nicht-Freundschaft zu mir einen Großteil meiner Selbstfindung angefeuert hat. Ich wollte es ihr zeigen, wollte besser werden, damit sie mich in einem anderen Licht sieht, wenn wir uns wiedersehen. Ich wollte an mir arbeiten und an meiner Selbstironie, an meinen Fähigkeiten, geschickt Konversation zu führen und am Kochen. Meine Mutter ist der Meinung, ich koche sehr gut. Ein Kompliment. Doch um welchen Preis?

Ihr Nicken holt mich zurück. Sie akzeptiert lächelnd meine Ausführungen, warum ich denke, dass sie eine Bereicherung für mein Leben ist. Ich rede über meine Forschung und über meine weiteren geplanten Jahre an der Uni. Im Inneren weiß ich, dass es genau diese „Jahre“ sind, die mich von meinem Ziel immer weiter entfernen. Aber ich gebe mich zuversichtlich und realisiere, dass sie mich nie in einem anderen Licht sehen wird, dass ich niemals eine Chance bei ihr haben werde, weil ich für sie nie ein Licht war.

„Wir müssen uns öfter sehen“, sage ich und wage damit einen letzten Schritt in die Richtung, in die ich gehen muss. Auch an meinem Tatendrang habe ich gearbeitet. Es bleibt schlichtweg keine Zeit mehr. Das wird immer klarer, während sie sich einen Käsekuchen bestellt und ein Sprudelwasser. Sie wird ihre Freundin heiraten. Das „Vielleicht“ steht außer Frage. Sie ist glücklich mit ihr und das ist alles, was zählt. Im Inneren verneige ich mich vor der Person, die ihr Herz erobern konnte. Sie muss außergewöhnlich sein. Sie ist außergewöhnlich. Eine wage Erinnerung von einer sportlichen jungen Frau mit wilden, dunklen Locken, blauen Augen und Sommersprossen taucht vor meinem inneren Auge auf. Ein Instagrampost. Sicherlich.

Ich sehe sie von der Seite her an, sehe ihre Sommersprossen, ihre blonden Haarspitzen, sehe den leichten Hügel auf ihrer Nase und die sanften Lachfältchen neben ihren Augen. Der Klang ihrer Stimme ist ungewohnt für mich. So ungewohnt, dass in mir etwas erblüht und gleich darauf wieder stirbt, wenn sie spricht. Mit ihm geht auch der Traum vom Haus am Meer, der Wohnung in der Stadt, den Gartenpartys in bodenlangen Sommerkleidern, den Spaziergängen am Fluss und mein Mut. Da hilft auch mein kläglicher Versuch nicht, in ihrem Leben präsenter zu sein.

Und als wir zurück zum Auto gehen, begrabe ich meine Zukunft unter Ziegelsteinen. Ich habe sie verloren. Ganz. Doch zum tiefen Schmerz gesellt sich auch noch etwas anderes. Etwas, von dem ich nie dachte, es im Bezug auf sie je spüren zu können: Gelassenheit.

Sie geht ihren Weg. Sie geht ihn ohne mich, aber sie geht ihn. Und mein Herz platzt vor Stolz. Es ist mir eine Ehre, dass sie Teil von meinem Leben ist und es bleiben will. Ein letztes Mal atme ich tief ein, nehme ihr Parfüm in mir auf, halte ihren Duft in meiner Seele fest und fahre stumm und geerdet, aber zuversichtlich wenig später mit der Bahn davon. Soll kommen, was auch immer kommt.

Tia Bibra