Sirenengeheule. Herumrennende Menschen. Zischen von Treibstofftanks. Das Dröhnen von startenden Raumschiffen.
Vincent war ein einfacher Hafenarbeiter. All diese Geräusche waren ihm vertraut. Seine Tage verbrachte er damit, Raumschiffe zu warten, sie mit neuem Treibstoff zu befüllen und den Raumhafen in Schuss zu halten. Eine einfache Arbeit eben.
Er war jetzt neunzig Jahre alt, kurz vor seiner Pensionierung. Im Weltraum konnte man länger arbeiten als im Gravitationsfeld von Planeten. Doch in all den Jahren, in denen er diesen Job schon machte, hatte er noch nie so etwas erlebt.
Normalerweise verließen um die hundert Raumschiffe pro Minute den Hafen der Weltraumstadt Siderius. Doch heute … heute wollten alle von hier weg. Zweitausend Schiffe in der letzten Stunde. Und es wurde nur noch schlimmer.
Aufgeregte Schreie. Getrampel. Von seiner Position aus konnte er nicht sehen, was da vor sich ging. Vermutlich eine Massenpanik.
Die flimmernden Holoprojektionen am Hafen zeigten dasselbe wie jede einzelne in der Stadt. Die sofortige Evakuierungsaufforderung.
»Ist doch absurd«, murmelte er.
»Das ist die Hoffnung.« Claudio, sein Kollege, lachte. Auch er war schon alt, ein paar Jahre weniger als Vincent, aber was machte das schon aus. »Am Ende entkommt niemand dem Gotteshauch.«
Vincent brummte. Auf den Projektionen, ganz unten, sah man die Zeit, die ihnen verblieb. 20 Stunden. Der Gotteshauch kam mit Hyperbeschleunigung auf sie zu. »Die können nicht fliehen«, sagte er. Die meisten der ablegenden Schiffe waren kleine Frachter. Von denen konnte keiner in die Hypergravitationsphase gehen. Die neue Waffe des GOTTES würde sie alle vernichten.
»Alle haben sie es gesehen«, murmelte Claudio. »Wir alle haben die Waffe gesehen. Ich denke, es ist besser, dem Tod mit Würde entgegenzutreten.«
Vincent brummte wieder. »Wir haben’s leicht. Wir sind alt.«
»Hm.«
Nicht mal fünfhundert Meter von den beiden entfernt steuerte eine kleine Gruppe ein ganz bestimmtes Raumschiff an. Das vielleicht letzte Raumschiff, das wirklich fliehen konnte. Natürlich wussten die Menschen um sie herum davon nichts.
Die Gruppe sah nicht speziell aus. Normal gekleidete Personen. Und in dem ganzen Chaos nahm sich niemand die Zeit, ihre Gesichter zu betrachten. Hätte dies jemand getan, hätte er die Konsulin der Stadt erkannt. Und vielleicht auch noch den Polizeichef Mr Hayden. Der dritte im Bunde wäre ihnen wohl unbekannt gewesen, außer sie hätten eine kleine Nachrichtenanzeige gesehen, die vor einigen Tagen erschienen war. Detective von Unbekannten niedergeschlagen. Außer Lebensgefahr im Krankenhaus.
Detective Charles war noch nicht wieder fit. Er keuchte, sein Kopf hämmerte, während sie durch den Hafen sprinteten, auf dem Weg zu ihrem Ziel. Man hatte ihn vor wenigen Stunden aus dem Krankenhaus herausgeholt. Die Allianz benötige ihn. Wofür, das war ihm ein Rätsel. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt für Fragen. Sie mussten von hier verschwinden, so schnell wie möglich aus der Reichweite der Waffe gelangen. Was natürlich ein Problem darstellte. Denn niemand wusste, wie groß die Reichweite war. Nur unendlich groß konnte sie nicht sein, sonst würde der Gotteshauch nicht auf sie zukommen.
»Kommen Sie, Charles! Schneller!«, rief ihm die Konsulin zu. Unbemerkt war er einige Meter hinter die beiden zurückgefallen.
Er wollte gerade schneller werden, als sich jemand vor ihn schob. Ein Hüne, mindestens zwei Meter blockte seine Sicht. Charles prallte gegen seine Brust, wurde abrupt gebremst.
»Tschuldigung«, murmelte er, wollte weiterlaufen, aber der Mann packte ihn am Arm. »Was soll das?«
Der Mann sagte nichts. Noch immer konnte Charles sein Gesicht nicht sehen. Doch der Griff des Mannes lockerte sich nicht. Er versuchte, sich loszureißen. Keine Chance.
»Hey, was soll das?«, schrie er. Die Menschen um ihn herum interessierten sich nicht dafür, rempelten ihn einfach an und liefen weiter.
Plötzlich drehte der Mann sich zu ihm um. Charles zuckte zusammen, als er das Gesicht des Mannes sah. Die Augen des Mannes waren … ausgestochen? Leere Augenhöhlen starrten Charles entgegen, getrocknetes Blut darunter. Der Mund des Mannes verzog sich zu einer hässlichen Fratze.
»Lassen Sie mich los«, wollte er sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken.
Sein Blick fiel auf ein kleines Tattoo unterhalb der linken Augenhöhle. Er kniff die Augen zusammen. Doch das war … ein Kreuz. Er schluckte, wusste plötzlich, wer diese Person war. Oder besser gesagt was.
Ein heiliger Krieger des GOTTES!
Charles sackte in die Knie. Mit einem Mal wich alle Kraft aus seinem Körper.
Plötzlich knallte es. Menschen um ihn herum schrien, verstreuten sich in alle Richtungen, weg von ihm. Was war los? Warum rannten sie? Er starrte noch immer wie gebannt in das Gesicht des Hünen. Doch irgendetwas … war anders. Er brauchte einige Sekunden, bis ihm klar wurde, was es war.
Da … da klaffte ein Loch in seiner Stirn. Frisches Blut lief über die Stirn des Hünen. Er schwankte, dann kippte er mit einem Mal nach vorne. Im letzten Moment wich Charles dem Körper aus. Mit einem ekelhaft nassen Plopp prallte der Körper auf dem Boden auf.
Charles starrte in eine Pistolenmündung. Dahinter Mr Haydens Gesicht.
»Kommen Sie schon!« Er zog an Charles Jacke, riss ihn vom Boden hoch. »Uns bleibt keine Zeit mehr!«
Plötzlich kehrte Leben zurück in seinen Körper. Als hätte er einen Energieschub bekommen. Er rannte los, schneller als je zuvor in seinem Leben. Stieß die Menschen beiseite, die in seinem Weg standen. Seine Augen auf sein Ziel gerichtet. Ein potthässlicher Frachter, der aussah, als würde er im nächsten Moment auseinanderfallen. Alles Fassade. Darunter befand sich eine der modernsten Raumschiffe dieser Galaxis. Mit Hyperbeschleunigungstechnik. Und damit ihre letzte Hoffnung, lebend diesem Sternensystem zu entkommen.
Noch knapp hundert Meter trennten ihn von seinem Ziel. Mr Hayden rannte neben ihm. Er war sportlicher, als man vermuten könnte.
Charles beschleunigte sein Tempo. Keine Ahnung, wo er die Energie dazu hernahm. Es war, als würden seine Beine sich von alleine bewegen, wie eine gut geölte Maschine. Einmal in Gang gebracht, lief sie weiter und weiter und hörte nicht wieder auf.
Ein Aufschrei riss ihn aus seinem Fokus.
Er blickte zur rechten Seite. Hayden war zurückgefallen. Eine Frau aus der Menge hielt ihn an seinem Kragen. Sie musste unfassbar stark sein, immerhin hielt sie gerade einen neunzig Kilo schweren Mann einfach hoch. Mit der anderen Hand umklammerte sie die Pistole von ihm. Auch sie hatte ausgestochene Augen.
»Laufen Sie, Charles!«, schrie ihm Hayden zu.
Doch in diesem Moment wollten seine Beine nicht gehorchen. Er … er konnte einfach nicht. Als hätte ihn jemand an die Stelle angenagelt.
Eine Person schob sich in sein Sichtfeld, eine weitere Person mit ausgestochenen Augen.
»Laufen Sie!«, hörte er wieder Haydens Stimme und dieses Mal tat er es.
Er drehte sich um, rannte los. Qualvolle Schreie hinter ihm. Egal, Hayden war verloren. Er konnte nichts mehr für ihn tun.
Dann endlich erreichte er das Schiff. Die Konsulin stand in der Tür, hielt ihm die Hand entgegen. Er griff danach, flog regelrecht mit vollem Schwung in das Raumschiff hinein. Direkt hinter ihm schloss sich die Tür sofort. Gehämmer von außen. Doch hierein kam niemand. Das ganze Schiff war gegen den Einschlag von Raketen gepanzert.
»Mr Hayden … er«, japste Charles. Sein Atem ging stoßweise, er hatte nicht genügend Luft, um zu sprechen.
»Ich weiß«, fiel ihm die Konsulin ins Wort. »Es gab nichts, was wir für ihn tun konnten.«
»Er … hat … mich gerettet.«
»Sie sind wichtig, Charles. Vielleicht sind Sie die einzige Person, die uns noch retten kann. Die den Gott besiegen kann.«
»Wie?« Langsam richtete er sich wieder auf. »Wie?«
»Sie haben etwas gesehen, Charles. Kurz bevor man Sie niedergeschlagen hat. Unsere Feinde haben einen Fehler gemacht. Irgendwo in ihrem Gehirn ist diese Information, Charles. Diese Information ist unsere letzte Hoffnung.«
Mit diesen Worten ging sie, startete den Antrieb des Schiffes. In wenigen Minuten hatte der Frachter den Hafen verlassen.
»Sind Sie bereit für die Hypergravitation?«, fragte die Konsulin.
»Wohin fliegen wir?«
Sie lächelte. »An einen Ort, an den uns selbst der Gott nichts anhaben kann.«
Dann startete sie die Hypergravitation. Das Schiff beschleunigte.
Die Konsulin seufzte.
»Auf zur letzten Bastion.«
niklasatw
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