»Halt an!«, schreie ich so laut gegen den Wind, wie ich kann. Cornelius hört mich nicht, dabei ist er nur knapp zehn Meter vor mir. Durch den Sandsturm kann ich nur seine Silhouette erkennen. »STOPP!«

Endlich wird er langsam. Am liebsten würde ich zu ihm rennen, aber eine Windböe peitscht mir erneut ins Gesicht. Ich schmecke Staubkörner auf meiner Zunge. Am Anfang habe ich sie noch ausgespuckt, jetzt habe ich keine Spucke mehr dafür.

Es dauert fast zehn Sekunden, dann endlich habe ich ihn erreicht. Ich greife nach seiner Schulter, blicke in sein Gesicht. Meine Atmung setzt für einen Moment aus. Seine Augen sind weit aufgerissen, seine Züge vor Entsetzen verzerrt. Dann sehe ich in die Richtung, in die er eben noch geschaut hat, und erkenne meinen dramatischen Fehler.

Er hat nicht angehalten, weil er mich gehört hat.

Er konnte gar nicht weiterlaufen.

Vor uns liegen riesige Felsbrocken auf dem Weg. Sie sind hoch und glatt, keine Chance, da rüberzukommen. Schon gar nicht mit unserer ganzen Ausrüstung. Und dann gibt es ja noch den Sturm.

»Das war also das Rumpeln«, murmele ich. Natürlich hört es Cornelius nicht. Der Wind trägt jedes Geräusch sofort davon.

Ich drehe mich wieder um, um sein Gesicht zu betrachten. Und just in diesem Moment trifft mich die zweite Erkenntnis. Wie ein Tritt in den Bauch. Mein Magen dreht sich gefühlt um, mit einem Mal ist mir kotzübel.

Der einzige Weg für uns führt nach rechts. Es ist der Weg, vor dem uns jeder gewarnt hat. Der Weg, von dem niemand lebend zurückgekommen ist.

»Sollen wir umdrehen?«, schreie ich gegen das Tosen des Windes. »Vielleicht haben wir ja etwas übersehen.« Ich glaube nicht daran, was ich sage, und er auch nicht. Wir beide wissen, dass da kein weiterer Weg ist. Unsere Gegner müssen einen Felssturz ausgelöst haben, um uns daran zu hindern, den Tempel zu erreichen.

»Die Zeit läuft uns davon.« Ohne auf meine Antwort zu warten, läuft Cornelius los. Es ist erstaunlich, wie schnell er bei dem entgegenpeitschenden Wind vorankommt. Ich seufze, kämpfe mich ihm hinterher.

Nach wenigen hundert Metern hört es einfach auf. Von einer Sekunde auf die andere. Ich stolpere beinahe, als der Widerstand abrupt verschwindet, kann mich gerade so auf den Beinen halten.

Ich blicke hinter mich zurück. Es ist, als ob eine unsichtbare Barriere den Sturm abhalten würde, hierher vorzubringen. Er prallt einfach ab wie von einer Wand.

»Was ist hier los?«, fragt Cornelius. Ich wünschte, ich hätte darauf eine Antwort.

»Was es auch ist, ich hab kein gutes Gefühl dabei.«

Er nickt. »Lass uns weitergehen.«

Was bleibt uns auch anderes übrig? Umkehren ist keine Option, wir müssen den Tempel erreichen. Und das als Erste.

»Hey, wenn wir diesen Weg hier überlegen, haben wir zwei ganze Tage Vorsprung.« Ich versuche, optimistisch zu klingen, aber irgendwie klingt es doch am Ende so, als ob wir bald sterben werden. Aber es stimmt. Dieser Weg ist der direkte zum Tempel. Wir würden damit einen immensen Vorsprung gewinnen. Leider ist da noch dieses wenn.

Wir wollen gerade weitergehen, da rumpelt es in der Nähe. Dieses Mal hört es sich allerdings nicht nach einem Felssturz an. Eher als ob etwas in unserer Nähe … gelandet ist.

»Was …?« Ich komme nicht mehr dazu, meine Frage auszusprechen. Wie aus dem Nichts taucht vor uns ein riesiges … Etwas auf. Es ist mindestens fünf Meter hoch. Ich blicke hinauf.

Kalte, blaue Augen starren mich an. Unwillkürlich weiche ich einen Schritt zurück.

»Was zum Henker …« Cornelius steht mit aufgerissenem Mund neben mir. Auch er schaut nach oben, zum Kopf der gigantischen Kreatur.

Erst jetzt mustere ich ihren Körper von oben nach unten. Der Kopf sieht menschlich aus, wie der Kopf einer Frau. Nur dass er viel größer ist, als er sein sollte. Die Kreatur steht auf vier Beinen, ihr Unterkörper ist von Fell überzogen. Erst nach einigen Sekunden fällt mir ein, woran es mich erinnert. Es ist der Körper einer Löwin. Mit einer Ausnahme. Aus dem Rücken wachsen riesige Flügel.

»Sphinx«, flüstert Cornelius neben mir.

Natürlich kenne ich die Geschichten der Sphinx. Nur dachte ich bisher, dass das Mythen sind.

Aber dieses Ding, was vor uns … sitzt … es sieht wirklich genau aus, wie in den alten Geschichten beschrieben. Halb Mensch, halb Löwe. Ich kann meinen Blick nicht von ihr reißen.

»Was wollt ihr hier, Menschen?« Die Stimme der Sphinx hallt von den Felswänden um uns herum zurück.

Ich kann nicht antworten. Es ist, als würde jemand meinen Mund zusammenpressen.

»Sprecht!«

Mit einem Mal lockert sich der Druck um meinen Mund. »Wir … wir sind auf dem Weg zum Tempel auf dem Gipfel.«

Das Gesicht der Sphinx verzieht sich, ich kann den Ausdruck nicht deuten. »Das wollen sie alle. Was hofft ihr, dort zu finden?«

Dieses Mal antwortet Cornelius, bevor ich etwas sagen kann. »Wir müssen den Tempel erreichen, bevor die anderen Gruppen ihn erreichen. Sie wollen den Tempel zerstören und plündern.«

»Warum solltet ausgerechnet ihr den Tempel beschützen wollen? Viele in der Vergangenheit wollten mich belügen und waren nur an den Schätzen im Tempel interessiert.«

Die Sphinx scheint uns mit ihren kalten Augen zu durchbohren. Ich muss schlucken, lege mir Worte im Mund zurecht. Wie kann man ein gottgleiches Wesen von seinen guten Intentionen überzeugen? »Wir sind nicht hier, um Schätze zu rauben. Wir …« Ich zögere für einen Moment. »Wir sind auf der Suche nach etwas anderem.«

Abrupt dreht die Sphinx ihren Kopf in meine Richtung. Sie sagt nichts, wartet einfach darauf, dass ich weiterspreche.

Ich schlucke, stoße die Luft aus. »Wir sind auf der Suche nach dem geheimen Wissen.«

Mein Blick gleitet zu Cornelius. Er starrt mich an, offenbar nicht glücklich darüber, dass ich der Sphinx davon erzähle. Aber ich habe so ein Gefühl, das mir sagt, dass ich es tun muss.

Das Gesicht der Sphinx verzerrt sich erneut. Sie scheint, meine Worte zu überdenken. Ich halte die Luft an, wage kaum zu atmen. »Wissen und Wahrheit sind mächtige Gründe«, sagt sie schließlich. »Aber das Wissen kann nur nach dem Bestehen von drei Prüfungen erlangt werden. Nur diejenigen, die würdig sind, werden weiterleben.«

Cornelius zögert keine Sekunde. »Wir sind bereit dafür.« Ich nickte. Das sind wir seit dem Tag, an dem wir beschlossen haben, hierherzukommen.

Die Sphinx breitet ihre Flügel aus. »Nun gut. Ich werde euch zum Tempel bringen. Aber bedenkt, jede Wahrheit hat ihren Preis. Möget ihr den Mut besitzen, den Preis dafür zu zahlen.«

Mit diesen Worten erhebt sich die Sphinx majestätisch in die Luft und gleitet vor uns her, ihre gewaltigen Flügel schlagen elegant durch die Luft. Wir folgen ihr auf dem Weg ins Ungewisse. Bereit, sich allen Prüfungen zu stellen.