Auf der anderen Seite der Straße ertränkte der strömende Regen die frischen Tulpen in ihren Eimern. Die Markise war zu kurz, um sich schützend über sie zu werfen. Das lila, pink und blau der Blumen war derb geworden, das Holz der Verkaufskästen modrig braun, beinah grau wie das Spiegelbild, das die große, wippende Pfütze von der Stadtfassade in den letzten Tagen erschaffen hatte. Sommer hieß Sommerregen. Immer. Und das ermöglichte platschende große Tropfen, die an allen Dingen hinunterliefen, als würde die Erde sie magisch anziehen, sie anziehen, wie die alte Gelblichtlampe die Motten, schöne Gesichter das Blitzlicht der Polaroidkameras, Zaubersteine ihren Magier oder Claire den muskulösen Typen namens Adrian.
Claire. „Claire.“ Der Dunst verflüchtige sich noch bevor ihr Name seine Lippen richtig verlassen hatte.
Joshua. Ihre Stimme erklang in seinem Geist immer und immer wieder. Joshua, ich werde heiraten. Den muskulösen Typen namens Adrian.
Er hatte sich der Tatsache ergeben, wie sich die Tulpen dem Sommerregen ergeben hatten. Und trotzdem stand er jetzt, nass und kalt, an der Straßenecke und starrte nur in Boxershorts und Joggingjacke die Backsteinfassade des Gebäudes gegenüber hinauf. Das rechte Fenster im Stock über dem Zaubertrankladen ihres Großvaters gehörte zu ihrem Zimmer. Es war groß und hell, gegenüber der Glasscheibe stand ein weißes Himmelbett und daneben ein Schreibtisch. Sicher lag auch ihre Yoga-Matte irgendwo. So oft hatte er es schon in all ihren Social-Media-Posts gesehen.
„Josh. Sie is weg.“ Franklyn steckte seine lange Nase aus der Hosentasche. Sofort trafen ihn die großen, schweren Tropfen und er zuckte zurück. Doch wagte er erneut einen Blick. „Wir sind zu spät. Sie ist sicher schon auf dem Weg zur Zeremonie, für die du dich, übrigens auch noch vorbereiten musst, mein Lieber.“
„Die beginnt doch erst in fünf Stunden.“ Joshuas Stimme fehlte hörbar der Enthusiasmus.
„So oder so wird sie aber dann jetzt nicht aus dem Fenster schauen. Außerdem ist es sooo unglaublich nass heute.“ Die Ratte schüttelte den Sommerregen von der Schnauze, gab sich einen Ruck und kletterte schnell und flink an der Innenseite seiner Joggingjacke hinauf, kroch unter seine Kapuze, um es sich in seinem Nacken bequem zu machen.
„Ich kann nicht anders. Ich muss sie einfach nochmal sehen.“
„Ich würde Janine auch gerne noch einmal sehen, aber sie gehört zu Claire und damit muss ich mich auch abfinden.“
„Janine ist eine Taube. Das hätte eh nicht funktioniert, Franklyn.“ Joshua zog sich die Kapuze wieder tiefer ins Gesicht und trat näher an die Gebäudefassade zu seiner linken.
„Ich glaube nicht, dass ich Zeitens meiner Existenz je eine hübschere Begleitung gesehen hätte.“ Die Ratte kletterte auf Joshuas Schulter, die nun vom Regen geschützter an der Hauswand lehnte. „Es tut mir um uns beide leid, Josh. Aber sie hat sich für Adrian entschieden und die arme Janine muss jetzt mit diesem fetten Hamster klar kommen. Glaub mir, dass hätte ich niemandem gewünscht.“ Franklyn schüttelte sich einmal heftig wobei viele kleine Tröpfchen auf Joshuas Kapuze sprangen, die eh schon voll und ganz vom Regen durchtränkt war. „Manchmal hab ich das Gefühl auf uns magische Begleiter wird nicht so sehr Rücksicht genommen was das angeht. Wir bleiben schließlich, wenn wir uns einmal entschieden haben, bis zum Tod unseres Meisters bei ihm, wie du weißt. Und das bedeutet nun mal, dass wir auch mit dem Begleiter des Partners auskommen müssen, wenn der denn von einem erwählt worden ist.“
Joshua schüttelte leicht den Kopf.
„Ja doch. Ich weiß das, Franky. Aber ihr könnt euch dann einfach wieder einen neuen Meister suchen. Wir nicht. Wir Zauberer sterben und dann ist es vorbei.“ Joshua atmete tief ein und wieder aus. „Ich habe nur dieses Leben, diese Chance. Ich muss ihr sagen, was ich fühle, bevor es zu spät ist. Eine magische Zeremonie bindet für alle Zeit. Sie wird für alle Zeit zu diesem Adrian gehören.“
„Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass sie ihn vielleicht wirklich liebt? Und außerdem willst du doch eh dem Stab beitreten. Das würde bedeuten, dass ihr euch anfangs einige Monate nicht sehen könntet.“
„Bitte erspar mir deine Realitätsrezeptionen. Ich weiß, was ich vor habe. Ich hab das auf dem Schirm. Aber die 7 Monate Ausbildung im Stab sind nichts gegen die Zeit, die wir danach noch zusammen verbringen könnten. Jahre, Franklyn. Es wären Jahre.“
„Du würdest also die Zeremonie mit ihr wagen, so wie ich das verstehe? Ich dachte, das käme für dich nicht in Frage?“
„Für sie. Mit ihr würde ich es wagen. Durch Gut und Böse. So wie es die Nicht-Magier sagen, wenn sie eine Ehe schließen. Im Grunde gibt es da ja keinen Unterschied.“
„Naja, bis auf den Blutschwur. Stirbst du, stirbt sie. Es ist ein ultimativer Einklang miteinander. Im Stab würde das für Wirbel sorgen, schließlich sind seine Mitglieder oft die ersten, die neuen Gefahren ins Auge blicken, den Großmagier und seinen Zirkel beschützen und verteidigen müssen.“
„Sir Thomas kann sich gut und gerne selbst verteidigen. Schließlich ist er Großmeister der Magie. Aber darum geht’s hier nicht.“
Joshuas Blick wanderte von dem Fenster auf die dunkle Teerstraße zu seinen Füßen und dann weiter nach rechts die Straße entlang, wo zwischen zwei Hochhäusern in weiter Entfernung eine rote Sonne im Sommerregen unterging. In wenigen Stunden würde sie für immer fort sein. Und er müsste es alles live und in Farbe miterleben, müsste mit ansehen, wie sie den Schwur ablegte. Schließlich waren er und Claire… Freunde? Naja, wenn man es als solches beschreiben konnte. Ihre Leben waren seit jeher verstrickt, geprägt durch eine Kindheit im Stabsviertel – wegen ihren Vätern, die für den alten Großmagier in die Schlacht gezogen waren – gleiche Schulen und einen weitläufig ähnlichen Freundeskreis. Man kannte sich, man traf sich im Park der Schule oder im Café. Immer irgendwie nebeneinander, doch nie zusammen.
Und das fraß ihn auf.
Seit er das erste mal ihr Parfüm gerochen, sie berührt, in ihre Augen gesehen hatte, wollte er sie glücklich machen. Und als sie dann zu ihm kam, ihn das erste Mal überhaupt umarmte und ihm sagte, dass sie heiraten würde, riss sie sein Herz heraus und er hatte es bis jetzt nicht wieder gefunden. Für ihn war das Leben schwarz-weiß geworden.
„Wir sollten gehen, Josh. Es wird wirklich Zeit. Du musst dich frisch machen und vor allem trocken werden und wir müssen noch etwas essen. Ich habe Hunger und du brauchst die Kraft.“
Joshua wagte einen letzten Blick hinauf zum Fenster. Noch immer regte sich nichts hinter der Scheibe und auch nicht im Laden unterhalb. Ihr Großvater würde ebenfalls auf dem Weg zur Zeremonie sein. Wie alle anderen der Gegend auch. Denn wenn der begehrteste Junggeselle der Stadt, die schönste Blume, die dieses trostlose Tal je geschmückt hatte, mit einem Blutschwur in der Nacht nach einer roten Sonne zur Frau nahm, wollte schließlich jeder dabei sein. Jeder außer Joshua.
„Ich werde keine andere so lieben. Ich glaube, dass das nicht möglich ist.“
Mit diesen Worten, nahm er Franklyn von seiner Schulter, ließ ihn zurück in seine Jackentasche klettern und drückte sich von der Backsteinfassade in Richtung Gehweg. Seine nasse Kleidung klebte an seinem Körper, der Sommerregen rann an seinen nackten Unterschenkeln entlang, in seine Turnschuhe. Ursprünglich hatte er nur laufen gehen wollen, den Kopf frei rennen, bis er müde und kaputt in sein Bett fallen würde und die Zeremonie verschlief, doch als er ohne es wahrzunehmen in ihre Straße bog, hatte sich sein Vorhaben in Luft aufgelöst und er war wie angewurzelt stehe geblieben. Jegliches Zeitgefühl war ihm verloren gegangen und der ganze Herzschmerz wiedergekommen, den er mit extra Trainingseinheiten und einsamen Filmabenden die letzten Wochen versucht hatte zu unterdrücken.
Verdammt. Er liebte sie. Er liebte sie. Er liebte sie und er würde es für immer tun. Für jeden seiner Schritte musste er Kraft aufwenden. Einen Fuß nach den anderen setzte er auf den nassen Gehweg, entfernte sich von ihrer Wohnung in Richtung U-Bahn. Doch jede Faser in ihm kämpfte dagegen an. Wenn er es ihr nicht sagte, würde sie nie Bescheid wissen und er es für immer bereuen. Er würde einsam und allein oder schon in wenigen Jahren an der Front sterben und dann würde er weg sein. Niemand außer seiner Mutter würden um ihn trauern, nicht mal Franklyn. Begleiter waren Wesen erfüllt von purer Magie und pure Magie sah in allem Schicksal und die Richtigkeit der Dinge. Er würde sicher schnell jemand neuen finden. Und seine Mutter hatte schließlich noch seine beiden großen, gutaussehenden, erfolgreichen Brüder.
Doch er konnte es nicht. Er konnte es nicht über die Lippen bringen. Was wenn Franky recht hatte und sie diesen Typen wirklich liebte? Das könnte er noch weniger ertragen. Es sollte einfach nicht sein. Claire hatte sich für Adrian entschieden. Claire würde ihn niemals wollen.
„Joshua?“ Franklyns Stimme drang an ihn heran, doch er konnte jetzt nicht anhalten, konnte nicht reden. Würde er es wagen, würde er in Tränen ausbrechen, soviel Kraft kostete es ihn in Bewegung zu bleiben.
„Hey, Joshua!“ Er ballte seine Hände zu Fäusten. „Joshua, verdammt!“
„Aua!“ Er zuckte vor Schmerz zusammen. Franklyn war aus der Jackentasche geklettert und hatte ihn in den Arm gebissen. Jetzt blieb er doch stehen, hielt sich die Stelle, wo die scharfen Zähne der Ratte in seine Haut gefahren waren.
„Scheise, Franklyn. Autsch! Was soll denn das? Du weißt ich kann hier nicht bleiben. Lass uns zu Hause reden. Ich muss hier weg. Ich…“
„Joshua?“
Es war als hätte es sich die Sonne anders überlegt und würde nun strahlend und schön wieder aufgehen. Ihre Stimme erklang hinter ihm in einem so lieblichen Ton, dass der Magiestein an der Kordel um seinen Hals, sofort zu glühen begann. So mächtig waren seine Gefühle für sie. Für den Bruchteil einer Sekunde, verlor er alles Denken. War es real? Oder hatte sich ihre Stimme in seinen Geist gefressen wie in einem Fiebertraum? Langsam begannen seine Gedanken wieder zu arbeiten und er drehte sich vorsichtig um.
Und tatsächlich. Da stand sie. In Jeanshose und blassrosa T-Shirt war sie über die Straße gelaufen, hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sie trug Makeup und eine Hochsteckfrisur. Ein magisches Schild schütze ihr Haar wie ein Regenschirm vor den großen, schweren Tropfen, die nur die unteren Hosenbeine ihrer Jeans trafen. Er starrte sie an. Regen rann an seinen Wangen hinunter, mischte sich mit einer salzigen Flüssigkeit.
„Was machst du hier? Ist… Ist alles in Ordnung?“ Sie hatte ihre Stirn in Falten gelegt, ihre Stimme klang besorgt und ihre Augen warteten ungeduldig auf eine Antwort.
„Gibt es ein Problem bei den Vorbereitungen?“
Er konnte sich nicht bewegen. Der Regen hämmerte auf seine Kapuze, seine Schultern, seine Turnschuhe. Er war nass bis auf die Knochen und seine Seele schmerzte als hätte sie einen magischen Blitz abbekommen. Sie trat einen weiteren Schritt auf ihn zu. Dann noch einen.
„Joshua? Bitte spricht mit mir. Was ist los? Warum bist du hier?“
Er bemerkte, wie sie an ihm auf und ab sah und wie sie sich Gedanken machte. Es würde nicht mehr lange dauern und dann würde sie es realisieren. Sie würde realisieren, warum er hier war! Er presste die Kiefer zusammen und musste alle restliche Energie in ihm aufwenden, um nicht lauthals los zu schreien. Er öffnete die Lippen, doch es kam kein Ton daraus hervor. Seine Jackentasche bewegte sich, dann steckte Franklyn seine Schnauze in den Regen und sah ihn an. Claires Blick wanderte zu der Ratte.
„Franklyn, was ist mit ihm?“ Ihre Stimme trug einen Hauch von Panik mit sich.
Franklyn sah sie an, schüttelte sich und kletterte wie schon zuvor an der Joggingjacke hinauf, setzte sich auf Joshuas rechte Schulter.
„Du weißt, dass ich ihr nicht antworten kann. Sie kann mich nicht hören. Nur du kannst das, Josh. Also hör mir gefälligst zu. Das hier, mein Lieber, ist deine letzte Chance. Wenn du sie willst, dann sag es ihr.“
Franklyn hatte in mehrfacher Hinsicht Recht. Claire vernahm zum einen, wenn er sprach nur ein Piepsen und zum anderen, war das hier wirklich seine letzte Möglichkeit. Das hier, war alles was ihm von ihr bleiben würde. Diese Begegnung. Vollendete sie die Zeremonie, konnte er sie nie wieder sehen. Er schluckte.
„Ich…“, krächzend entkam seinen Lippen das erste Wort „Ich kann nicht kommen. Es … Es tut mir leid. Ich…“ Seine Stimme versagte und er schloss die Augen. Er hatte keine Kraft mehr seine Tränen anders zurückzuhalten. „Claire, ich …“
Und dann eine Berührung. Joshua zuckte zusammen und schlug die Lider auf, nur um eine Sekunde später erneut zu Stein zu erstarren. Claire hatte die Lücke zwischen ihnen weiter verkleinert und nun eine Hand auf seinen Oberarm gelegt. Jetzt trafen auch sie weitere Tropfen, rannen an ihrer Hand hinunter. Doch sie sagte nichts. Sah ihn nur fragend an.
„Ich geh zum Stab. Ich … Ich will meinem Vater … gerecht werden, ich …“ Franklyn wippte auf seiner Schulter ermutigend hin und her. „Ich habe keine andere Wahl. Ich muss. Ich muss es dir sagen. Ich liebe dich, Claire.“ Die Worte verflüchtigten sich vor seinen Lippen. Er erkannte den genauen Moment, in dem sie die Situation begriff und ihre Hand langsam von seinem Arm nahm.
„Ich weiß, dass du mich nicht liebst“, stammelte er weiter. „Ich weiß. Das ist ein beschissener Zeitpunkt. Es .. Es tut mir leid, Claire.“ Joshua schluckte und mit beeindruckend fester Stimme sagte er schließlich: „Doch ich musste es dir sagen. Ich werde zum Stab gehen und dich nie wiedersehen. Ich liebe dich seit ich 15 Jahre alt bin. Aber ich hoffe, du wirst glücklich mit ihm.“
Und als wären diese Worte schwere Gewichte gewesen, von deren Last er sich nun endlich hatte befreien können, drehte er sich um, zog die triefendnasse Kapuze erneut bis tief in die Stirn und setzte sich in Bewegung. Diesmal kosteten ihn die Schritte keine Kraft. Diesmal waren sie beinah federleicht. Er hatte es ausgesprochen und an der Art wie sich ihr Gesichtsausruck verändert hatte, war ihm klar geworden, dass es kein Happy End für ihn geben würde. Sie empfand nicht das Gleiche. Claire würde Adrian nicht für ihn verlassen. Und so bog an der nächsten Straßenkreuzung nach rechts ab, ließ Claire, den Zaubertrankladen und die Hausecke, an der er die letzten Stunden verbracht hatte, hinter sich. Zu Hause würde er eine Tasche packen und den frühesten Zug nehmen, der ihn zur Magier-Elite-Akademie bringen würde, um bei der nächsten Gefahr für Land und Großmagier in die Schlacht zu ziehen und um Claire für immer hinter sich zu lassen.
Tia Bibra
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