Literaturblog

Was wir wissen

Die Lyrik trägt uns seit wir denken können. Sie begleitet das Bild der Menschen. Denken Sie, werte Herrschaften, an den klassischen Eichendorff, denken Sie an Goethe. Aber denken Sie auch an Celan oder May Ayim.

Die Kunst der Lyrik schenkt uns, und das sage ich wahrhaftig, Leben, Liebe, und vermutlich ein Bewusstsein für jene Dinge, die hinter dem Horizont liegen und doch greifbar nah sind. Für mich ist …

Ich drücke Pause. Das Audioband verstummt abrupt und ich ziehe die Kopfhörer aus den Ohren, stecke sie langsam in ihr kleines Behältnis. Der Riemen meiner Aktentasche übt Druck auf meine Schulter aus, kratzt über den Stoff meiner frühsommerlichen, altrosafarbenen Bluse, während ich mit einem hörbaren Herzschlag vor ihrer Wohnung stehe und das Namensschild auf der Klingel ansehe. Botas – der Nachname ihres zweiten Ehemanns, den sie aber, wie schon den vom ersten, nicht angenommen hat – prangt in Bodoni MT Black hinter leicht vergilbtem Plasteglas auf etwa Brusthöhe. Ich richte den Riemen meiner Aktentasche. So lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet und beinah genauso lange habe ich die Tatsache verflucht, dass er nun doch kein Hirngespinst mehr ist, sondern Realität. Fünfzehn Fragen in einem silberfolierten Schnellhefter warten auf ihren großen Auftritt, während es mich schon Überwindung kostet, die Klingel zu betätigen. Doch ich tue es. Ein letztes Mal schweifen meine Gedanken zu der Preisverleihung vor vier Jahren, aber ich wische sie mit einem grimmigen Blick zur Seite und drücke meinen Zeigefinger auf das Klingelschild. Etwa sechs Sekunden geschieht nichts. Ich starre vehement auf den Knauf der dem Maximiliansstil nachempfundenen Eingangstür. Dann ein Knacken in der Leitung.

„Botas?“ Ich schlucke. Eine tiefe Männerstimme habe ich nicht erwartet.

„Ähm … Nana Forsch. Ich komme für das Interview. Ich bin angeme–“

„Ah ja. Kommen Sie rein. Dritter Stock links.“ Wieder ein Knacken, dann ein tiefes Brummen und mit einem festen Ruck springt die Tür auf, als ich mich dagegen lehne, und ein intensiver Geruch nach Bohnerwachs schlägt mir entgegen. Ich lasse sie träge ins Schloss fallen und trete erst dann auf die erste Stufe. Wieder richte ich den Riemen, der mittlerweile unangenehm auf der Schulter schmerzt. Doch diesmal richte ich auch den Kragen meiner Bluse, im zweiten Stock dann mit der rechten Hand meine Frisur und als ich den dritten Stock erreiche, ist die Tür angelehnt. Gänsehaut bildet sich unter den Ärmeln meines Oberteils, wandert meinen Rücken hinunter bis zum Hosenbund. Im Treppenhaus ist es kühl, aber ich bin mir sicher, dass es damit nichts zu tun hat. Ich lecke mir vorsichtig über die Lippen und klopfe mit zittriger Faust an die weiße Holztür.

„Es ist offen, kommen Sie nur rein.“ Wieder eine tiefe Männerstimme, diesmal mit deutlich bayrischem Dialekt. Ich drücke die Tür mit der flachen Hand auf und der Wohnungsflur empfängt mich in Azur. Das rotbraune Altstadtparkett, mit sichtbaren Gebrauchsspuren, knarzt unter meinen schwarzen Lackschuhen, als ich in die Wohnung trete.

„Ah Frau Frosch.“ Ein großer, etwas dicklicher Herr in einem beigen Hemd und honigbrauner Anzughose kommt mir mit einem Lächeln auf den Lippen entgegen. Ich beiße die Zähne zusammen.

„Guten Morgen“, sage ich deutlich und reiche ihm meine Hand. Er macht einen weiteren Schritt, schüttelt sie kräftig, aber kurz, und folgend ergebe ich mich meinem Perfektionismus. „Entschuldigung, aber es ist Forsch, nicht Frosch. Wie der Politiker, nicht das Tier.“

Ich rechne mit einem weniger erfreuten, zustimmenden Brummen, doch das Lächeln des Mannes wird überraschenderweise breiter.

„Verzeihung. Ich hätte Sie vorwarnen sollen. Ich habe einen Scherz gemacht. Kommt nicht wieder vor. Ich habe vergessen, dass wir uns ja gar nicht kennen.“

Perplex zaubern seine Worte ein Lächeln auf meine Lippen und in meiner Brust löst sich die Anspannung. Ihr Mann ist nett, denke ich und für eine Sekunde huscht ein weiterer Gedanke durch meinen Geist: Ich könnte ihn kennen. Ich könnte ihn seit vielen Jahren kennen, wenn ich mich damals getraut hätte, auf sie zuzugehen.

„Sie ist im Arbeitszimmer. Ich habe sie schon gerufen, aber ich denke, sie hat mich nicht gehört. Lassen Sie die Schuhe einfach hier stehen und bitte ziehen Sie die schwarzen Schlappen an. Der Boden ist ganzjährig kalt.“ Er dreht sich um und geht am Ende des Ganges wenige Schritte später summend durch einen offenen Torbogen. Konnte es wirklich so einfach sein?

Ich gebe mich kurzerhand der komischen Situation geschlagen, krieche aus meinen Schuhen in die sichtbar neuen Schläppchen und folge ihm einfach in die Küche.

Die Wohnung ist verwinkelt, aber elegant. Azur ist überall anzutreffen, ebenso wie der Pakettboden, die Möbel sind weiß, Kornblumensträuße auf Esstisch und Regal und überall, wirklich überall, stehen Bücher. Und dann …

Aus einer Tür an der mir gegenüber liegenden Wand – ich schaue von der Küche aus ins Esszimmer – kommt eine Frau mit erdbeerblondem, schulterlangem Haar in einem einfachen, burgunderfarbenen Shirt und einer weißen Caprihose. Sie ist kleiner als ich. Das weiß ich natürlich, aber dennoch überrascht mich das genauso wie die Tatsache, dass sie ihre Haare damals wohl gefärbt haben musste. Ihr Blick ist freundlich distanziert, ihre Wangenknochen voller Sommersprossen und neben ihren Mundwinkeln zeichnen sich leichte Lachfalten ab. Ihr Schritt ist anmutig, aber einfach. Sie wirkt real, so unglaublich real, dass ich schlucken muss, um die Fassung nicht zu verlieren.

„Entschuldigen Sie bitte, Frau Forsch. Mein Mann kann es nicht lassen mit den Scherzen.“

Der Klang ihrer Stimme erfasst mich, zwängt sich durch all meine Hirnwindungen, findet auf meine Zunge und ich atme mit einem kräftigen Hauch aus. Ich kenne diese Stimme mittlerweile so gut, dass es mich selbst erstaunt, wie viel Wirkung sie nach 3 Tagen Dauerschleife doch noch auf mich hat. Zur Verteidigung: Im echten Leben habe ich sie erst einmal gehört und da auch nur durch ein Mikrofon. Jetzt steht sie vor mir, die Frau, der diese Stimme gehört, spricht mit mir, spricht mich an, sieht mich an, schenkt mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und das alles während ich weiß, dass genau diese Frau meine leibliche Mutter ist. Will ich sie umarmen?

Das ist das Einzige, was ich nicht weiß.

„Wollen wir ins Wohnzimmer gehen?“, fragt sie ungeniert, als hätte sie nicht bemerkt, dass ich bei ihren Worten verkrampfe.

Ich schlucke und nicke gleichzeitig. Als Bestätigung nickt auch sie und geht an mir vorbei Richtung Wohnzimmer. Ein lieblicher Duft nach Lilien hängt ihr an. Ich sauge ihn behutsam ein und folge ihr zu einem weichen, porzellanweißen Sofa mit Samtstoffbezug.

„Setzen Sie sich hier in den Sessel. Ich nehme das Sofa. Möchten Sie etwas trinken?“

Sie hat keinen bayrischen Dialekt. Sie spricht ohne auch nur einen Hauch ihrer Heimat in der Stimme. Ich nicke. „Sehr gerne. Wasser reicht. Vielen Dank.“

„Sind Sie sicher? Sie wirken auf mich eher wie eine Frau, die Kaffee trinkt.“

Ein Anflug von Überraschung macht sich in mir breit, aber ich schaffe es, ihn herunterzuschlucken. Ich muss unbedingt neutral bleiben. Schließlich bin ich nicht für ein Kaffeekränzchen hier, sondern für ein wichtiges Interview. Im Inneren bin ich gespannt, wie lange ich mir das noch so vorlügen kann.

„Da haben Sie recht. Aber trinke ich heute noch einen Tropfen Kaffee, brauche ich keine von Elon Musks Raketen, um zum Mars zu fliegen.“

Ich bemerke die Schärfe in meinen Worten, die nicht beabsichtigt war, zu spät, sehe auf, um zu sehen, ob sie es mir übel nimmt, aber zu meiner erneuten Überraschung lächelt sie.

„Dann Wasser.“

Während ich mich setze und mein Aufnahmegerät aus meiner schweren Tasche krame, holt sie zwei Gläser mit jeweils einer Limettenscheibe, stellt sie vor mich auf zwei kleine dunkelblaue Untersetzer auf den niedrigen Glastisch und setzt sich auf das Sofa.

„Hatten Sie eine gute Anreise?“ Ich lege die Technik vorsichtig vor mich und schiebe das Aufnahmegerät mit zwei Fingern näher zu ihr. Dann sehe ich auf. Ihr Blick ist fragend.

„Ja. Die Bahn war überraschend pünktlich.“

Sie lächelt milde. „Ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich meine … natürlich ist die Pünktlichkeit der Bahn durchaus ein Faktor dafür, dass Ihre Anreise gut war, aber sind Sie denn auch so zurechtgekommen? Ging es Ihnen dabei gut?“

Ich kann den aufkeimenden Gedanken nicht verhindern. Würde Sie das auch jemand anderen fragen? Ist es Smalltalk? Oder nur eine ihrer vielen Eigenheiten? Ich spüre wie die Anspannung zurückkehrt. Weiß sie, wer ich bin?

Ich öffne den Mund, doch kommt kein Ton heraus, also schließe ich ihn wieder und setze mich aufrechter hin. Ich will das hier professionell über die Bühne bringen.

„Entschuldigen Sie. Ich schätze, darauf habe ich keine Antwort.“

Ihre Augenbrauen springen förmlich in die Höhe. Ihr Blick wandert zu einem der Wassergläser und während sie es in die Hand nimmt, kann ich ihre Gedanken dazu förmlich vor ihrem inneren Auge sehen. Meine Antwort hat sie nicht erwartet.

„Ich meine …“, beginne ich erneut, „… ich habe mich normal gefühlt, wenn es so einen Zustand überhaupt gibt. Ich mag Zugfahrten nicht sonderlich, aber sie bringen mich in der Regel schneller an mein Ziel. Also …“, ich zucke leicht mit den Schultern, „… von der Ebene der Nützlichkeit betrachtet, ja. Ich habe mich gut gefühlt.“

Sie hat das Glas bereits wieder auf den Untersetzer gestellt, als sie nickt. „Gut. Na dann. Wollen wir?“

„Ja“, sage ich und öffne meine Mappe, ziehe den silberfolierten Fragebogen heraus. „Wenn Sie so weit sind, Frau Hollaender, dann drücken Sie auf Play. Ich überlasse es lieber meinen Interviewpartnern, den Startzeitpunkt festzulegen.

Ein Hauch Neugier fliegt über ihr Gesicht. „Ah okay. Interessant. Weil Sie ihnen lieber den ersten Streich überlassen?“ Eine Herausforderung. Ganz klar. Hana Hollaender ist bekannt dafür, bei Journalisten gerne ihre Grenzen auszutesten, gar den Spieß umzudrehen und lieber Fragen als Antworten zum Besten zu geben. Doch nicht mit mir. Ich bin darauf vorbereitet. Gerade als ich zum Antworten ausholen will, drückt sie auf Start. Doch ich wäre nicht ich, wenn ich es ihr so einfach machen würde. Also antworte ich trotzdem, im Wissen, dass es das Erste sein wird, das ich zu hören bekomme, wenn ich das Audio später im Hotel wieder anhöre.

„Nein. Ich hasse es nur, als ein Ekelpaket angesehen zu werden. Ich meine, mir ist durchaus bewusst, dass die Meisten davon ausgehen, dass es meine Aufgabe als Journalistin ist, auch unangenehme Fragen zu stellen, aber ich habe es lieber, wenn man sich auf einer angenehmeren Ebenen begegnet. Sticheleien hin oder her.“

Kaum merkbar hebt sie die linke Augenbraue und lässt sich leicht nach hinten in die Couch sinken. Doch ich bin noch nicht fertig. „Ich finde es gut, wie es jetzt ist. Sie dürfen auf ihrem porzellanweißem Sofa solange hin und her rutschen, bis Sie sich wohlfühlen und dann drücken Sie auf Start und wir gehen die paar Fragen gemeinsam durch.“

Auf ein gewisses Blitzen in ihren Augen folgt ein sanfteres Lächeln als zuvor. Sie scheint mit meiner Antwort zufrieden zu sein.

„Porzellanweiß?“ Dass sie amüsiert über diesen Ausdruck ist, kann ich nicht überhören.

„Ja, durchaus“, antworte ich, lächle knapp und greife zu meinem Wasserglas. Die Bläschen prickeln auf der Zunge, als ich einen Zug nehme. Ich bin ihr ähnlich. Das muss ich mir eingestehen, auch wenn ich diese Idee immer verdrängt habe. Ich höre es in ihren Worten und sehe es in ihrem Gesicht. Helen würde sagen, dass ich sie nicht als meine Mum verleugnen könnte. Wie bitter der Beigeschmack von dieser Idee ist, kann ich nicht in Worte fassen. Helen ist und bleibt meine Mutter.

„Gut“, sage ich eher zu mir als zu ihr. „Sind Sie so weit?“

Sie nickt. „Ich habe auf Play gedrückt, Frau Forsch.“

Ich atme tief ein und fahre mit dem Finger über den Rand der matten Folie. Es quietscht kaum hörbar. Ich ziehe das Blatt Papier heraus.

„Kein Schreibblock?“ Sie nippt wieder am Wasserglas.

„Nein. Das, was Sie sagen, nehme ich auf und das, was ich mir notiere, notiere ich lieber exakt unter die Frage auf einem weißen Blatt Papier. Eine alte Angewohnheit von mir aus der Schulzeit.“ Warum ich den letzten Satz betone, wie ein Großereignis, kann ich nicht sagen, doch mein Bauchgefühl macht deutlich, dass mehr dahinter steckt, als ich in dem Moment fähig bin aufzudecken.

„Ich dachte immer, die jungen Journalisten sind ganz im Digitalen unterwegs.“ Sie spitzt die Lippen.

„Ich bin 32“, sage ich wie aus der Pistole geschossen und bereue es sofort, denn ihre Augen werden schmal und sie streicht sich eine hellrote Strähne hinters Ohr.

„Und ich bin 53. Schön, dass wir das geklärt haben.“ Die Herausforderung, die in ihre Worte zurückgekehrt ist, bohrt sich wie eine Nadel meine Kehle hinunter. Etwas ist anders als zuvor. Kann es doch sein, dass sie nicht weiß, wer ich bin? Hätte ihre Reaktion beim Erwähnen meines Alters sonst nicht anders ausfallen müssen? Mache ich mir zu viele Gedanken darüber? Oder … ist es ihr egal? Ich muss schlucken. All die Jahre war das Bild von ihr in meinem Kopf klar und ich konnte oder wollte es nicht ändern. Doch habe ich irgendwie versäumt dabei an sie zu denken oder welches Bild sie von mir haben könnte. Ich habe immer angenommen, dass sie mich nicht ausfindig machen wollte, weil sie sich womöglich einredete, dass sie den Anspruch darauf verloren hat, als sie mich weggab. Aber Desinteresse … Wenn es wirklich Desinteresse an meiner Person war und ist, dann … Ich presse die Kiefer zusammen. Ein relativ geringer Prozentsatz hat damit zwar schon immer gerechnet – eine Angst, mit der jeder zu kämpfen hat, der adoptiert wurde und seine leiblichen Eltern sucht – doch die harte Realität nagt gewaltig an meinem Ego. Sie richtet sich auf, zupft an ihrem Oberteil herum und lehnt sich wieder zurück, während ich die Reißleine ziehe und alle Pläne über Board schmeiße. Nein. Ich werde ihr nicht sagen, wer ich bin.

„Entschuldigen Sie, Frau Hollaender. Das sollte auf keinen Fall ein Angriff sein. Ich meine nur, dass ich mich selbst nicht wirklich zu der jungen Generation an Journalisten zähle.“ Ich zucke mit den Schultern.

„Kann man sehen, wie man will. Für mich sind Sie jung. Wollen wir?“ Sie faltet die Hände in ihrem Schoß, legt ihre grazilen Finger elegant ineinander. Eine weitere Strähne löst sich und fällt ihr wieder ins Gesicht. Doch streicht sie diesmal nicht zur Seite, neigt nur abwartend den Kopf.

Ich fixiere die erste Frage, die Worte verschwimmen unter meiner Anspannung. Doch bevor ich zu sprechen beginne, greift sie nach vorne und drückt auf Pause. Überrascht schaue ich auf.

Sie leckt sich langsam über ihre Unterlippe. Ihre Atmung ist ruhig und gleichmäßig. Die Sommersprossen auf ihren Wangen schimmern matt über ihren reinen Teint. Sie lehnt im Sofa leicht nach hinten und sie schweigt. Doch es ist nicht das, was mich in meinen Grundfesten erschüttert. Es ist ihr Blick. Sie sieht mich an, scheint durch mich hindurch, in mich hineinzusehen. Suchend wandern ihre Pupillen über mein Gesicht, meine Schultern zu meinen Händen und wieder zurück. Und als gäbe es nur diese eine Möglichkeit, überkommt mich die Erkenntnis, dass sie es doch weiß. Sie weiß ganz genau, wer ich bin. Unweigerlich beginnt mein Herz wie im Trab zu schlagen, drängt immer wieder meine Kehle hinauf, sodass mir beinah schwarz vor Augen wird. Nur mit allergrößter Mühe lasse ich meinen Stift langsam sinken, schiebe das Papier wieder zurück in den Ordner und lege alles – akkurat zum Marmorrahmen – auf den Glastisch vor mir. Als ich die Folie loslasse, zittern meine Hände. Ich verschränke sie ineinander, um der aufkeimenden Panik standzuhalten. Dann sehe ich sie an.

Sie beobachtet, was ich tue, richtet ihren Blick auf meine Finger und wieder auf mein Gesicht.

„Kein Interview mehr?“ Ihre Stimme ist weich, hat an Biss verloren, wirkt beinah müde. Ich habe Mühe, meine Fassung zu wahren, und versuche den Knoten in meiner Kehle hinunterzuschlucken.

Langsam schüttle ich den Kopf und erwidere mit ungewohnt krächzender Stimme: „Nein. Sie haben auf Pause gedrückt.“

Dann bleibt es still. Ich sehe sie an. Das seichte Sonnenlicht, das durch die spiegelmatten Fenster bricht, hüllt sie in warme Sommertöne. Ihr burgunderfarbenes Shirt leuchtet genauso wie ihr erdbeerblondes Haar.

Ich habe kein erdbeerblondes Haar. Meine Haare sind haselnussbraun. Meine Augen sind haselnussbraun. Ihre sind blau. Sie sieht mich an und ein tiefer Atemzug von ihr zerbricht die Stille, in der unsere Blicke mehr sagen, als es Worte je gekonnt hätten.

„Du siehst aus wie meine Schwester. Du hast ihre Nase.“ Sie sagt es wie eine bewundernde Anekdote zum ersten Sommerregen im Jahr. Ich antworte mit dem, was mir auf der Zunge liegt.

„Ich denke, ich habe deine Nase.“

Sie nickt kaum merklich. Ihre Schwester war 28, als sie an einer Überdosis starb. Das weiß ich, weil sie es in einem Interview erwähnt hat. Seit ihrem Tod spendet sie jährlich an Hilfsprogramme für Süchtige. Mir tut es im Herzen weh, Susanna niemals kennenlernen zu können.

„Seit wann weißt du es?“ Wieder legt sie den Kopf schief, wieder fällt diese eine Strähne in ihr Gesicht, wieder belässt sie sie dort.

„Eine Weile“, sage ich und versuche dabei nicht allzu zittrig zu sprechen. Wie lang es wirklich schon ist, werde ich ihr irgendwann mal erzählen, wenn ich ihre Reaktion abschätzen kann.

Wieder nickt sie nur.

„Und du? Wie lang weißt du schon, wer ich bin?“ Ich lehne mich beim Sprechen vor, stütze die Ellenbogen auf die Knie. Ihr Blick folgt meinen Bewegungen.

„Eine komplizierte Frage.“ Sie räuspert sich. „Ich weiß nicht, seit wann ich es weiß. Ich glaube aber, dass es mir bewusst geworden ist, als ich vor ein paar Jahren einen deiner Artikel gelesen habe. Den über Ingeborg Bachmann. Ich saß im Komitee der Zeitschrift „Literaturgeschichte“ und habe für ihn gestimmt. Als ich dann bei der Veröffentlichung im Magazin dein Foto und ja, auch dein Alter gesehen habe, da wusste ich es. Ich dachte, ich würde in ein Familienalbum schauen oder Susanna wäre wieder auferstanden.“ Ihre Mundwinkel zucken und in mir löst sich spürbar ein Knoten, der schon sehr lange auf meinen Geist gedrückt hat. Schlagartig überkommt mich Gänsehaut und ich atme stoßartig aus.

Als Antwort stützt sie ihre Handflächen in das Sofa und schiebt sich etwas nach links von mir weg.

„Magst du zu mir auf die Couch kommen?“

Diesmal nicke ich, unfähig auch nur einen Ton herauszubekommen. Ich stehe auf und setze mich vorsichtig neben sie. Sofort umspielt wieder ein lieblicher Geruch von Lilien meine Nase und ich realisiere langsam, was sich gerade ereignet.

Mich überkommt ein waghalsiger Gedanke und ich gebe ihm Raum:

„Ich war schon mal kurz davor, mich dir vorzustellen. Vor vier Jahren. Du hast einen Preis bekommen und …“ Meine Stimme zittert. Ich räuspere mich und setze erneut an. „Ich war im Publikum.“

Ihr Gesichtsausdruck verändert sich unlesbar und für den Bruchteil einer Sekunde überkommt mich eine bekannte Angst vor Abweisung.

„Ich hab mich nicht getraut. Es hat mir Angst gemacht. Ich weiß nicht wieso. Du …“

„Ich kann einschüchternd sein, ich weiß.“

Sie löst ihre verschränkten Finger, greift minimal in meine Richtung und senkt ihre Hand dann wieder. Wie sehr mein Körper diese Berührung will, merke ich erst jetzt. Ein kleiner Stich trifft mich und ich sehe mir selbst dabei zu, wie ich all meinen Mut zusammennehme, für eine Sekunde meine Angst beiseite schiebe und nach ihrer Hand greife.

Die Wärme, die von ihr ausgeht, erfüllt mich wie ein warmer Morgen im Frühling und ich verschränke meine Finger mit den ihren. Dann erst sehe ich sie wieder an. Sie hat ihren Blick auf unsere Finger gerichtet, sagt nichts und sagt doch alles, was ich zu hören brauche. Ein unbekannter Frieden erfüllt meine Seele. Langsam lehne ich mich zurück, atme ein und wieder aus und bevor ich etwas sagen kann, löst sich in ihrem Gesicht die Anspannung und sie beginnt breit und mädchenhaft zu lächeln.

„Schön, dass du da bist“, sagt sie und mein Herz macht einen weiteren Sprung.

Ich merke, wie sich ein breites Grinsen auf meine Züge legt.

„Schön da zu sein“, flüstere ich und dann schweigen wir.

Tia Bibra

1 Kommentar

  1. Brombeerkätzchen

    Sehr nice Details und Wortwahl, der silberfolierte Schnellhefter zum Beispiel, oder das Knacken in der Leitung. 🙂

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