Basierend auf der Trisolaris-Trilogie von Cixin Liu. Achtung: Mögliche Spoiler für alle drei Teile!
Die Zeit der Menschheit endete mit dem Kollaps des Sonnensystems. Die Zweivektorenfolie, abgesendet von einem Raumschiff einer intelligenten Spezies, verwandelte das Sonnensystem in das wohl spektakulärste Gemälde, abgebildet auf eine zweidimensionale Ebene.
Die Menschheit war schlagartig in einem Moment ausgelöscht.
Doch dies bedeutete nicht, wie die wenigen Überlebenden annahmen, dass es kein Leben mehr im Sonnensystem gab. Selbstverständlich wurde alles dreidimensionale Leben in dem Moment, in dem die Vektorfolie es traf, vernichtet.
Doch Leben konnte auf vielen Dimensionen existieren.
Es dauerte eine Weile, bis sich die neuen Kräfte in der zweidimensionalen Welt eingestellt hatten. Die Gravitation veränderte sich in eine skalare Gravitation. Diese neue Gravitation veränderte die Bahnen der Planeten. Einige kleinere Himmelskörper wurden durch diesen Prozess aus dem Sonnensystem herausgeschleudert.
Als sich die kosmischen Umwälzungsprozesse beruhigt hatten, begann die Produktion neuen Lebens.
Zweidimensionale Moleküle entstanden, chemische Prozesse bildeten sich.
Es dauerte weitere Millionen Jahre, bis sich komplexere Moleküle zusammenfügten. Aufgrund ihrer 2D-Struktur waren die Möglichkeiten eingeschränkter als im dreidimensionalen Raum. So bildeten sich vornehmlich gigantische Ketten von Atomen aus.
Die neuen Moleküle waren allerdings trotzdem imstande, biochemische Reaktionen durchzuführen.
Die Entstehung des neuen Lebens nahm aufgrund der Komplikationen des 2D-Raums wesentlich mehr Zeit in Anspruch als im Vergleich zum ursprünglichen Leben des Sonnensystems. Aber Zeit war kein wesentlicher Faktor. Bis zum Untergang des Universums würden noch Billionen Jahre vergehen.
Nach hundert Milliarden Jahren bildete sich zum ersten Mal etwas Besonderes. Zu diesem Zeitpunkt existierten bereits einfache Lebewesen, analog zu Bakterien und Mikroorganismen. Die meisten sahen aus wie lange Fäden, andere hatten dreieckige Formen. Sie produzierten Energie völlig anders als die ehemaligen Bewohner dieser Welt: Mithilfe von Reaktionen dieser neuen Moleküle.
Aber nun betrat eine neue Form von Leben die Bühne. Das erste intelligente Leben. Es sah aus wie ein zweidimensionales neuronales Netz. Natürlich war auch hier die Geschwindigkeit viel geringer als bei den ehemaligen Bewohnern. Aber Zeit spielte ja keine Rolle.
Es dauerte weitere fünfhundert Millionen Jahre. Plötzlich entstanden neue Formen von neuronalen Netzen. Aus langen Ketten wurden fraktalartige Gebilde, die sich auf immer kleineren Skalen selbst reproduzierten. Diese fraktalartigen Lebewesen besaßen eine wesentlich höhere Denkgeschwindigkeit als die langsamen Kettentypen.
Schnell verstanden diese Lebewesen, sich zu größeren Gruppen zusammenzuschließen und begannen Jagd auf die Kettentypen. Dazu verwendeten sie eine außergewöhnliche Strategie. Sie griffen von verschiedenen Seiten an und bauten Teile der Kette in ihre fraktalen Strukturen ein, sodass die fraktale Struktur bewahrt wurde. Am Ende entstand so aus einer Spezies vom Kettentyp und zahlreichen Exemplaren des Fraktaltypus ein viel größeres Lebewesen vom Fraktaltyp.
In kurzer Zeit wuchsen so Giganten dieser Art heran. Mit ihrer wachsenden Masse wuchs auch die Rechengeschwindigkeit dramatisch an. Der fraktale Typ sorgte nämlich dafür, dass die Übertragungswege nicht länger wurden.
Es dauerte nicht mal mehr hundert Millionen Jahre, bis eines dieser Wesen etwas erlangte, dass man als Bewusstsein bezeichnen könnte.
Es nannte sich Emo. Natürlich dachte das Wesen nicht wie dreidimensionale Wesen, auch die Sprache war eine völlig andere.
Emo war ein Superfraktaltyp. Eine Weiterentwicklung der Riesenfraktale. Es war Emo gelungen, die Fraktale so komplex zu gestalten, dass es eine kleinere Fläche besaß als eines der Ausgangsfraktalwesen. Dafür besaß es aber die millionenfache Masse.
Damit war die Rechengeschwindigkeit groß genug, dass so etwas wie ein Bewusstsein entstehen konnte.
Emo war alleine. Noch war er der Erste seiner Art. Es würde weitere hunderttausend Jahre dauern, bis er einen Gefährten erhalten würde.
In diesen hunderttausend Jahren lernte Emo viel über die Welt, in der er lebte. Er verstand das Gesetz der Gravitation, das in seiner skalaren Form viel leichter verständlich war als die Gravitation in drei Dimensionen.
Schließlich war der Tag gekommen, an dem ein weiteres Wesen entstand. Es nannte sich Om.
Om und Emo konnten ihre Anwesenheit gegenseitig spüren. Sie waren wie Schwergewichte in dem Ozean an Materie und Leben. Sie wurden fast angezogen voneinander.
Nach wenigen hundert Jahren begannen die beiden, zu kommunizieren. In einer Sprache, die völlig anders war, als die der dreidimensionalen Wesen. Sie veränderten ihre Fraktalstrukturen, um sich auszutauschen. Aufgrund neuer unbekannter Kräfte im zweidimensionalen Raum konnte das jeweils andere Wesen es spüren.
Wo bin ich hier?, fragte Om. Wer bin ich überhaupt?
Wir sind in einer riesigen Welt, dem Universum, sagte Emo. Wir sind höhere Entwicklungsstufen von den anderen Lebewesen um uns herum.
Emo, der schon hunderttausend Jahre älter war, hatte seine Natur und Abstammung schon begriffen.
Es gab allerdings einige Konzepte, die beide nicht verstanden. Zeit war für sie schwierig nachzuvollziehen. Da Emo erst eine skalare Theorie der Gravitation ähnlich zur Newtonschen Gravitationstheorie entwickelt hatte, fehlte den beiden die Erkenntnis der allgemeinen Relativitätstheorie, die ein Äquivalent auf 2D-Ebene besaß.
Auch verstanden sie die ganzen Artefakte in ihrer Welt nicht.
Millionen von seltsamen Gebilden, die keine Interaktion mit dem Rest ihrer Materie zeigten. Es gab riesige Strukturen in ihrem Universum, die sie nicht verstanden. Bis auf eine gravitative Wirkung waren diese Strukturen nicht imstande, mit ihnen zu wechselwirken.
Wie lange gibt es diese Strukturen schon?, fragte Om.
Seit ich existiere. Und vermutlich auch schon davor, sagte Emo. Noch besaßen die beiden keine Fähigkeiten, um das Alter dieser seltsamen Artefakte zu bestimmen. Hätten sie diese gehabt, so hätten sie ein Alter von über hundert Milliarden Jahre erhalten.
Denkst du, diese Strukturen wurden von jemandem geschaffen?, fragte Om.
Emo hatte über diese Frage noch nie nachgedacht. Vielleicht. Es müssen mächtige Wesen gewesen sein.
Nie im Leben hätten die beiden ahnen können, dass es sich bei den Artefakten um eine schwächliche, untergegangen Zivilisation handeln könnte.
Nach Emo und Om dauerte es eine lange Zeit, bis neue intelligente Lebewesen entstanden. Doch diese verdrängten Emo und Om dafür in nur wenigen Jahren. Sie verstanden das Wesen der Zeit und stellten eine allgemeine Relativitätstheorie auf. Sie betrieben außerdem Mathematik.
Eines dieser Wesen, sein Name war Kip, entdeckte eines Tages eine seltsame Eigenschaft. Es war Mathematiker und erforschte die Topologie höherdimensionaler Räume.
Kip entdeckte eines Tages die Form der allgemeinen Relativitätstheorie in 3+1 Dimensionen, wie sie auch die Bewohner des ehemaligen Sonnensystems entdeckt hatten. Ganz aufgeregt erzählte es den anderen von seiner Theorie.
Die Artefakte sind ehemaliger Bewohner einer höherdimensionalen Welt. Aus irgendeinem Grund muss ihre Welt zerbrochen sein.
Doch da es natürlich die Zweivektorenfolie nicht kannte und auch keine plausible Begründung für die Reduktion der Dimension geben konnte, schenkten die anderen Kip keinen Glauben.
Es hätte ihnen auch nichts geholfen.
Fünfzig Millionen Jahre später wurde das Sonnensystem erneut von einer Dimensionswaffe getroffen. Wieder falteten sich die Dimensionen auf und die neue zweidimensionale Welt wurde projiziert auf einen eindimensionalen Raum.
Damit endete das Zeitalter des zweidimensionalen Lebens im Sonnensystem. Fortan konnte sich bis zum Ende des Universums kein Leben mehr entwickeln. In 1D gab es keine Möglichkeit mehr, für Atome und Moleküle das Pauli-Prinzip zu erfüllen.
In einem anderen Universum saßen unterdessen Cheng Xin und Guan Yifan. Die letzten Vertreter der menschlichen Zivilisation bekamen von all diesen Entwicklungen im ehemaligen Sonnensystem nichts mit. Sie glaubten nicht daran, dass sich zweidimensionales Leben entwickeln könnte.
Als sie sich entschieden, in das Hauptuniversum zurückzukehren, war das Leben im Sonnensystem längst ausgelöscht.
Zurück blieb nur ein eindimensionaler Faden. Darin gefangen: die Erinnerungen zweier untergegangener Zivilisationen.
Schreibe einen Kommentar