Ich denke wir Lyriker haben immer schon einen Hang zur Unendlichkeit gehabt. Ob man ihr nun Glauben schenken mag oder sie als fehlerhaft beäugt, bleibt sie doch ein Mysterium, deren Existenz wohl nie geklärt, belegt oder verneint werden kann.
Denn Vieles ist endlich. Der Apfel auf dem Fensterbrett, die Seife in der Schale, Nachbars Fahrrad, die eigene Mutter. Endlichkeit als Tod zu bezeichnen widerstrebt mir aber. Doch hier kommt man dann in übernatürliche Sphären, die sowohl den Glauben, als auch die eigenen Auffassungen miteinbeziehen, und ich war und bin nie jemand gewesen, der die eigene Meinung anderen aufprojiziert, weshalb ich an dieser Stelle die eigene Mutter leben lasse, die Seife neu kaufe und Nachbars Fahrrad in die Garage stelle.
Nur den Apfel nehme ich mir. *lächelt* Der Apfel, biblisch mit einer Vorgeschichte behaftet, die hier keine Rolle spielen soll, als Beispielfrucht für „Sterben, um der Zukunft wegen“. Ich …
Ich drücke Pause. Das Audioband verstummt abrupt und ich lege den Bleistift vorsichtig auf das weiße Blatt vor mir, richte ihn parallel zum Rand aus, wie immer, und tätschle mit Daumen und Zeigefinger meinen Nasenrücken. Langsam schließe ich die Augen und lausche dem Summen des alten Rekorders. Etwa vier Tage schiebe ich nun schon meinen Auftrag vor mir her. Etwa vier Jahre sind die Aufnahmen alt, die ich für einen biografischen Beitrag analysieren muss, und mir bleibt keine Zeit mehr. In zwei Tagen würde ich mit ihr in ihrem Münchner Apartment ein Interview führen müssen und ich bekomme seit der ersten Sekunde Gänsehaut, wenn ich daran denke. Mein Herz zieht sich zusammen und kalter Schweiß läuft mir den Rücken hinunter. Ich presse Luft durch meine halbgeschlossenen Lippen und sehe auf den Timer. 23 Sekunden hatte ich ihre melodische Stimme á la Cate Blanchett erst ausgehalten und drei Stunden würde ich damit sicher noch zubringen müssen.
Von einem allgemeinen Standpunkt aus ist jegliche Angst unnötig. Ich bin ihr offiziell nie begegnet und das werde ich auch nie wieder, solange das mein Wunsch ist. Ich habe die Zügel in der Hand und soweit ich das beurteilen kann, ist sie ahnungslos. Doch der kindliche Gedanke in mir, sie zu sehen, zerfrisst jede Faser meines Körpers.
Als ich klein war, hatte ich eine Vorstellung von ihr und wie es wäre, ihr zu begegnen. Doch in meinen Jugendjahren und auch in meinen frühen Zwanzigern war der Drang, mir ein wirkliches Bild von ihr zu machen, einer fertigen Idee gewichen, die keine Bestätigung mehr brauchte. Nach meiner Vorstellung hatte sie mich in dem Glauben weggegeben, bei einer netten Familie aufzuwachsen und das war soweit auch passiert. Ich würde sie niemals als meine Mutter bezeichnen. Meine Mutter ist eine andere Frau. Jener sehe ich vielleicht nicht ähnlich, aber sie ist es, die mich stets getröstet hat, als es mir schlecht ging, die mir das Fahrradfahren beigebracht, mit mir Hausaufgaben gemacht und mich zu jeder Segelstunde gefahren hat, egal welchen Wetters. Meine Mutter war und ist eine Frau namens Helen, keine preisgekrönte Lyrikerin, keine Professor-Doktor-irgendwas. Und doch hatte mich an einem milden Herbstnachmittag, als ich 25 war, das Fieber gepackt und ich begann nach der Frau zu suchen, von der ich zu dem Zeitpunkt nichts wusste, außer die Farbe ihrer Augen, weil es Helen damals wohl so gesagt worden war. Drei Jahre und unzählige Telefonate und Gefälligkeiten später hatte ich dann endlich das System überlistet und befand mich vor Aufregung zitternd vor einem Konzertsaal, in dem die große Lyrikerin Hana Hollaender einen Ehrenpreis für ihr neustes Werk erhalten sollte.
Kurz gesagt: ich habe ihrer 20-minütigen Rede zugehört und bin wieder gegangen. Es hatte mich in meinen Grundfesten erschüttert. Sie hatte mich erschüttert und folgend löschte ich immer und immer wieder die kleine Flamme in mir, die sie doch sehen und mit ihr reden wollte. Sie ist einnehmend faszinierend und zugleich bedrohlich unlesbar. Bei einem Interviewpartner ist das für jeden Journalisten eine schreckliche Kombination, doch für eine preisgekrönte Lyrikerin scheint es perfekt zu sein.
Damals hatte sie dunkelblondes Haar, das nach oben gesteckt worden war, ein sanftes Lächeln, aber klare, beinah strenge Augen. Ihre Gestik war auf das Nötigste reduziert und ihre Stimme erinnerte mich unwiderruflich an mich selbst. In jedem ihrer Züge konnte ich eine Spur von mir erkennen, auch wenn ich nicht in der ersten Reihe saß. Ich war auf meinem Stuhl im Publikum zu Eis erstarrt. Selbst meinen Herzschlag nahm ich als wildes, lautes Pochen wahr, welches die Fähigkeit besaß, den Moment zu zerstören und sie auf mich aufmerksam machen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Blick über mich geschweift, aber nicht hängen geblieben. Doch es hatte gereicht, mir all meinen Mut zu nehmen. Ich war die erste, die wieder die regennasse Teerstraße unter den Füßen hatte, als die Preisverleihung, für die ich nicht gerade wenig Geld hingelegt hatte, um ihr beiwohnen zu dürfen, beendet war.
Vier Jahre ist das nun her. Ich bin 32, sie 53. Sie war 21 als sie mich bekam. 21, unverheiratet und arbeitete als Fotomodell für eine Münchner Agentur. Wer auch immer mein Erzeuger ist … ich ordne ihn in das gleiche Milieu ein und belasse es dabei.
Erschöpft und beinah hilflos reibe ich mir die Hände und mein Blick findet die alte Spieluhr von meiner Mutter, die wenige Zentimeter vor mir auf meinem Schreibtisch steht. Als ich Kind war spielte sie stets ein Einschlaflied, heute ist sie dazu nicht mehr fähig. Sie ist in Form eines Karussells aus einem einzigen Stück Holz geschnitten. Vermutlich hat sie einen größeren Wert als all meine fünfzehn Ikea-Vasen zusammen und ich bin meiner Mutter dafür dankbar, dass ich sie behalten durfte, als ich damals zum Studium umzog.
Vorsichtig streiche ich mit dem Zeigefinger über den äußersten Bogen der Spieluhr. Es kann doch nicht so schwer sein. Im Grunde ist sie wie jeder andere Interviewpartner auch. Ich muss mich nur über ihr Leben informieren, Fragen ausarbeiten, Skandale meiden, denn das sind Dinge für die Klatschpresse, nicht für mich und das Magazin, für das ich arbeite, und dann würde ich eine, vielleicht zwei oder drei Stunden mit ihr reden. Nichts weiter.
Mein nächster Atemzug ist zittrig und ich habe das Gefühl, auf dem Stuhl hin und her zu wanken. Reflexartig greife ich an die Tischkanten. „Schluss damit!“, rufe ich in die leere Wohnung. „Schluss damit“, flüstere ich nochmals zu mir selbst und schüttle langsam den Kopf. Ich atme tief ein, greife grob nach dem Bleistift und drücke den Play-Button. Sogleich weicht das leise Summen wieder ihrer vollen Stimme und ich presse die Kiefer zusammen, quäle mich durch die ersten drei Tonaufnahmen, bevor ich in die Küche schwanke und auf „Kaffee schwarz“ an der Kaffeemaschine drücke. Eisern sehe ich der dunklen Flüssigkeit zu, wie sie meine Tasse mit Fliegenpilz-Aufdruck beinah bis zum Rand füllt. Milch wird überbewertet. Ich trinke meinen Kaffee noch nicht sehr lange schwarz. Erst seit wenigen Wochen. Ich puste leicht über die Oberfläche des Heißgetränks und wandere zurück an meinen Schreibtisch, der im exakten rechten Winkel zum Fenster steht, und stelle den Kaffee parallel zu meinem Wasserglas auf die Tischplatte. Ich trinke ihn erst schwarz, seit ich nachts nicht mehr richtig durchschlafe. Vielleicht hatte es mit ihr zutun. Vielleicht nicht. Vielleicht lag es an den angestauten Aufträgen, dem Fahrradunfall meines Vaters oder dem Wasserschaden im Keller. Vielleicht lag es auch an all diesen Dingen zusammen. Ich nippe vorsichtig am Kaffee und werfe einen Blick auf meine Notizen. Offiziell habe ich mich vor Jahren damit abgefunden, wer sie ist, und doch scheint es mir stets von neuem an die Substanz zu gehen. Hana Hollaender ist seit fast 30 Jahren eine der Größen in der Lyrik. Ihr Erstwerk gilt als Pflichtlektüre in jedem Germanistikstudium und auch ich habe unabsichtlich in der Vergangenheit schon das ein oder andere Gedicht von ihr gelesen, ohne zu wissen, welche Rolle sie noch einmal für mich spielen würde.
Die Erkenntnis ließ mich damals dementsprechend tief fallen. Ich brauchte zwei Wochen, bis ich meiner besten Freundin Toni davon erzählen konnte, und weitere zwei Wochen, um es meiner Mutter zu sagen. Meine Eltern haben mich stets in meinem Vorhaben unterstützt und sind tatsächlich recht angetan von der Idee, jetzt endlich zu wissen, wo mein „Talent für den Text“ herkommt. Ein bisschen Frieden finde ich auch darin, doch führt es nicht selten dazu, dass ich immer mehr von mir und meinen Artikeln verlange, als vielleicht nötig ist.
Ich wiege die nächste Box in meinen Händen. Es handelt sich um einen Videozusammenschnitt aus den Archiven des Staatstheaters. Die Aufnahme ist 30 Jahre alt und zeigt ihr erstes Arrangement als Theaterschauspielerin. Die Schauspielerei hat ihr keinen Spaß gemacht. Das weiß ich, da sie es selbst vor wenigen Minuten in einer der letzten Aufnahmen mehrfach beton hat. Ich packe die DVD aus, lege sie in meinen Laptop ein und drücke Start. Hana Hollaender in einem Stück namens „Evergreens“. Das Zittern findet seinen Weg zurück in meine Atmung. Durch die relativ schlechte Qualität sieht sie mir in den weiten Teilen der Aufnahme gefährlich ähnlich, obwohl sie damals beinah zehn Jahre jünger war als ich jetzt. Doch ich betätige nicht die Pause-Taste, schaue nicht weg, wenn die Kamera auf sie schwenkt. Die Aufnahme endet und ich blicke aus dem Fenster neben mir. Am Ende des Tages werde ich vermutlich sehr viel mehr über sie wissen, als ich je gehofft hatte, und alles wird notgedrungen dazu führen, dass sich ein Bild von ihr in meinem Kopf ergeben wird, das sie als Figur in meinem Leben charakterisiert. Ich schlucke und schaue wieder auf meine Aufzeichnungen. In zwei Tagen werden ich der Frau begegnen, die mich auf die Welt gebracht hat. Einer bekannten Frau, deren Leben in Tonaufnahmen und Videokassetten gesammelt und jetzt in Kisten gestapelt neben mir in meinem Wohnzimmer steht. Einen Verweis auf mich wird es darin nicht geben. Davon war ich überzeugt, denn sie wirkt nicht wie jemand, der zulassen würde, dass so etwas an die Öffentlichkeit gerät. Im positiven wie im negativen Sinne. Vielleicht will sie damit sogar mich schützen, vielleicht auch nur sich selbst. Egal. Ich werde ihr in zwei Tagen begegnen und vielleicht werde ich den Mut aufbringen und nicht nur 20 Minuten zuhören. Vielleicht sage ich ihr, wer ich bin, und vielleicht weiß sie es auch schon. Denn auch meinen Namen kennen einige Leute. Auch meine Artikel wurden schon in Seminaren analysiert. Ich bin ihr nicht ebenbürtig. Nein. Aber ich bin mein eigener Mensch und wenn sie das und somit mich akzeptieren und in ihrem Leben haben will, dann bin auch ich bereit für sie. Ganz einfach.
Tia Bibra
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