Gregory Mailänder zog mit großen Schritten an den Spinden vorbei, die die Altbauwände der Universität in ein gedecktes grau kleideten. Mit seinen 2,11 Metern überragte er jeden Einzelnen der anderen Studenten, die neben ihm in die Räume strömten, in den Ecken saßen, lasen, Musik hörten oder vor sich her träumten. Doch Greg, wie ihn seine Freunde immer nannten, schenkte ihnen keine Beachtung. Er war erst spät am vorangegangen Abend vom Flughafen wieder in sein kleines WG-Zimmer gekommen, hatte weder gut geschlafen noch gefrühstückt. Der Jetlag lag ihm in den Knochen und der XXL Latte Macchiato vom Bäcker an der Ecke schaffte es nur bedingt, den muskulösen, jungen Mann mit genug Energie für den Tag zu versorgen.
Doch dafür hatte er sich entschieden. Er hatte gewusst, dass es unangenehm werden würde. Mit wenig Schlaf und einem leeren Kühlschrank nach vier Wochen Trainingscamp in LA hatte er gerechnet. Auch mit den fragenden Gesichtern seiner Freunde, die ihn für verrückt erklärten, an einem Montag um 8 Uhr in eine Vorlesung zu gehen, nachdem er zehn Stunden im Flieger gesessen hatte. Aber die Aufregung, die ihm seine Kehle hinaufbrannte, ihn seit Stunden einnahm und nicht wieder loszulassen schien … mit ihr hatte er nicht gerechnet.
Gregory war nie aufgeregt. Das war sein Markenzeichen. Cool und resolut, der starke Fels in der Brandung, so hatte er schon viele Spiele umdrehen können, als es nicht nach einem Sieg aussah. Deshalb hatte ihn ein Scout in die USA geholt, deshalb sah seine Zukunft so gut aus. Er würde dieses Semester seinen Bachelor machen und dann rief die Basketballkarriere. Na ja. Zumindest, wenn alles so funktionierte, wie gedacht.
Aber jetzt war ihm das beinah egal. Er würde seine letzten Stunden bei ihr genießen. Jede einzelne davon. Gregory schluckte die Anspannung hinunter und griff fester mit der linken Hand um den Riemen seines Rucksacks, während er seinen Blick auf die massive Holztür fixierte, die am Ende des Gangs auf ihn zu warten schien. Dahinter lag einer der größten Hörsäle des alten Universitätsgebäudes und Prof. Dr. Marlena Königs Kommunikations-Seminar. Er atmete einmal tief ein, als er die Tür mit seiner Schulter aufstieß. Die Anspannung erklomm seinen Körper und er musste sich einmal kräftig räuspern, als er die ersten Stufen in den tiefer gelegenen Hörsaal betrat.
Ihr Blick schnellte hoch und richtete sich nur für den Bruchteil einer Sekunde auf ihn. Doch es reichte, damit dem großen Mann keine Luft mehr zum Atmen blieb und er sich auf den nächstgelegenen Platz fallen lassen musste. Er konnte sich diese Sache einfach nicht erklären. Seit seinem ersten Seminar bei ihr war ihre Wirkung auf ihn unfehlbar. Er sah sie an und hatte das Gefühl in einem Meer zu versinken, sein Herz schlug im Trab, sein Kopf konnte keine klaren Gedanken mehr bilden. Ob er verrückt geworden war und sich in eine Dozentin verliebt hatte? Er war sich nicht sicher. Womöglich. Aber Gregory hatte schon mehrmals geliebt und nie hatte es sich so angefühlt.
Er rutschte auf dem ersten Platz der für ihn viel zu engen und zu niedrigen Bankreihe umher. Sitzen war in der Uni selten bequem. Aber es war doppelt schlimm, wenn einem der Magen knurrte und man schlecht geschlafen hatte. Doch er versuchte seine Konzentration nach vorne zu richten, auf den Beamer und die fette, schwarze Überschrift: Überzeugen können.
Es klingelte nur einen Augenblick später. Frau König stand von ihrem Stuhl auf, ließ ihren Blick über die wenigen Köpfe schweifen, die es an diesem Morgen in den Hörsaal geschafft hatten.
„Nun gut. Sie sehen das heutige Thema ´Überzeugen können´. Kommunikation ist der Schlüssel, die eigene Meinung zu einem Mittel zu machen, den Gegenüber zu überzeugen oder gar in den Grundfesten zu beeinflussen.“ Sie war, während sie sprach, um den Tisch getreten und lehnte nun an diesen. Ihre langen, dunklen Haare lagen ihr über den Schultern. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Gregory saß so weit hinten, dass sich ihm ihre Gesichtszüge nur andeuteten. Aber er war überzeugt, dass sie konzertiert drein blickte. Frau König war durch und durch professionell. Ihre Seminare galten als interessant aber anspruchsvoll und die Seminararbeiten bewertete sie relativ streng. Doch Greg hatte sich auch dafür bewusst entschieden. Im ersten Semester schon. Er hatte nur einen Blick auf sie werfen müssen, als sie seine Ersti-Gruppe umher führte und er konnte sich nicht mehr daran erinnern, je eine hübschere Frau gesehen zu haben. Und damals, das musste er beschämt und enttäuscht von sich selbst zugeben, war er noch mit Nadja zusammen gewesen. Er schluckte und rutschte auf seinem Platz umher.
Die Folie änderte sich und Frau König referierte folgend über Augenkontakt, Körpersprache und Ausdruck. Gregory überkam immer wieder die Müdigkeit. Seine Gedanken drifteten weg von Frau König im Seminarraum hin zu Frau König am Strand. Malibu? Er hatte letzte Woche einiges an der Westküste gesehen. Wenn er im folgenden Jahr wirklich nach Amerika gehen würde, dann …
„Möchten Sie sich nicht in eine der großen Bankreihen weiter unten setzen?“ Ihre Stimme erfasste ihn unvorbereitet. Sie war den Mittelgang hinaufgestiegen, um aus Studentensicht das Kommunikationsmodell zu erklären, dass auf der Leinwand abgebildet war. Gregory saß mittlerweile so gebückt auf seinem Platz, dass er Nackenschmerzen bekam. Er hatte nur nach vorne gestarrt, an sie gedacht, ohne wirklich an ihrem Seminar teilzunehmen. Auch hatte sie bis jetzt nie mit ihm gesprochen und er auch nicht mit ihr. Ihm war bewusst gewesen, dass er vermutlich keinen richtigen Satz herausgebracht hätte. Doch jetzt stand sie mit verschränkten Armen wenige Meter von ihm entfernt und sah ihn fragend an. Gregory reagierte, indem er wie von einer Biene gestochen aufsprang und dabei die gesamte Bankreihe mindestens fünf Zentimeter nach vorne schob. Jetzt lag die Aufmerksamkeit jedes Seminarteilnehmers auf ihm und er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.
„Ä, äm, ja. Ka-aa-nn ich tun.“ Er griff zitternd nach seinem Rucksack. Nicht mal seine Mappe hatte er geschafft, aus der Tasche zu räumen. Gregory hievte sich das Gepäckstück über die Schulter und zwängte sich ohne darüber nachzudenken zu ihr durch. Dass er einfach auf der anderen Seite die Stufen hinunter hätte nehmen können, kam ihm nicht in den Sinn, auch wenn er genau auf dem äußersten Platz gesessen hatte. Als er sie erreichte, trat sie zur Seite und sah aufmerksam an dem großen Mann hinauf. Ihr Parfüm übermannte ihn beinah. So nah war er ihr noch nie gewesen und wollte das eigentlich auch gar nicht sein. Sein Herz jagte ihm abwechselnd bis zur Kehle hinauf und rutschte ihm dann wieder in die Hose. Er schwitzte und hoffte inständig, dass sein Axe dies überdecken würde. Bei ihr wollte er sich keinen Fehler leisten.
Er wollte gut aussehen, immer richtige Antworten geben und auch eine gute Seminararbeit schreiben. Er wollte, dass sie ihn als ordentlichen Studenten sah, auch wenn er nur noch wenige Wochen an der Uni sein würde. Er wollte, dass sie ihn jetzt in diesen Sekunden – und es würden die einzigen Sekunden sein, die sie ihn beachten würde, das wusste er – als gut empfand.
„Sie sind der Basketballer, richtig?“ Beinah wäre Greg gestolpert.
„Ähm. Ja-a.“ Auf ihre Züge legte sich ein Lächeln, ihre Haltung entspannte sich.
„Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg und drücke die Daumen für den weiteren Lebensweg.“
Er nickte, vollkommen perplex darüber, dass sie von ihm gehört hatte, auch wenn es in der Zeitung stand.
„Da-anke.“ Sie schritt an ihm vorbei.
„Hier vorne an der Seite stehen die Bänke nicht so eng. Keine Sorge, Sie müssen nicht in die erste Reihe. Die ist ja immer recht unbeliebt.“ Sie hatte sich von ihm weggedreht, doch konnte er ihr amüsiertes Schnauben hören, während sie wieder vor die restlichen Studenten trat und ihn hilflos zurückließ.
Sein Verlangen stach ihn beinah nieder. Er biss so fest die Kiefer zusammen, dass er Kopfschmerzen bekam, ehe er seinen neuen Platz erreichte. Er wollte diese Frau.
Greg schob seine Mappe auf die Bank und schlug sie auf. Währenddessen öffnete sie die nächste Folie und fuhr unbeeindruckt mit ihrem Seminar fort. 60 Minuten noch. Insgesamt 90 Minuten heute, 90 am Donnerstag und weitere 4 Wochen folgend. Danach wäre es für immer vorbei. Er würde sie nie wieder sehen. Und das war gut so. Für Gregory und sein Herz war es gut so.
Er richtete sich auf und sah sie an. Sie sprach über ein weiteres Modell, hatte die Arme wieder verschränkt und sich an den Tisch gelehnt. Sie wusste, dass er Basketball spielte, dann kannte sie seinen Namen. Und das würde reichen. Damit konnte er sich zufriedengeben.
Tia Bibra
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