Die Bremsen des Zuges quietschten so laut, dass Isa vor Schreck zusammenzuckte. Ein hoher, unangenehmer Ton, laut und langgezogen. Sie hielt sich die Ohren zu, bis der Zug endlich zum Stehen kam.

Es war verdammt heiß in ihrem Waggon. Klimatisiert war er natürlich nicht. Das Fenster musste reichen.

Sie wedelte sich mit einem Blatt Papier etwas Luft zu, blickte zu dem Mann in der Reihe gegenüber von ihr. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Auch über ihre Haut liefen gefühlte Eimer Wasser.

Sie hasste tropische Nächte.

Die Waggontür öffnete sich, ein junger Mann, vielleicht zwanzig Jahre alt, trat ein. Er trug ein komplett rotes Outfit. Cap, T-Shirt, sogar seine Hose und die Sneaker, alles in rot.

Für einen Moment stand ihr Mund offen. Schnell schloss sie ihn wieder, blickte aus dem Fenster. Oh Gott, hoffentlich hatte er sie nicht gesehen.

Draußen funkelten die Sterne. Den Mond konnte sie nicht sehen. Hier mitten in der Natur waren die Sterne richtig gut zu erkennen. Sie strahlten so hell im Gegensatz zu den Nächten in der Stadt. Nicht einmal ein einzelnes Wölkchen konnte sie am Himmel entdecken.

»Hey. Mach mal Platz!« Eine tiefe Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

Erschrocken wirbelte sie herum. Vor ihrer Reihe stand der Mann mit dem roten Outfit, schaute sie auffordernd an.

Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber sofort wieder. Ihr Blick fiel auf ihre Stofftasche, die sie auf den Sitz neben sich gelegt hatte.

»Wird’s bald«, sagte der Mann.

So ein Arschloch. Sie nahm ihre Tasche, legte sie auf ihren Schoß. Sofort ließ sich der Mann auf den Platz neben sie plumpsen, machte seine Beine extra breit. Sie rückte näher an die Wand des Zuges heran.

Der Typ griff in seine Tasche, holte Kopfhörer hervor und steckte sie sich in die Ohren. Immerhin würde er sie nicht stören.

Dann griff er nach seinem Handy, drückte etwas darauf. Die Musik ging an. Obwohl er sie über Kopfhörer hörte, konnte Isa jedes Wort mitverstehen. Oh Mann. Sie hasste Typen, die so laut hörten, dass das halbe Abteil ebenfalls in den Genuss der meistens scheußlichen Musik kam.

Sie schüttelte den Kopf, schaute aus dem Fenster. Hoffentlich stieg der Typ bald aus. Dann hatte sie wieder ihre Ruhe. Sie versuchte Sternbilder zu erkennen. Vor längerer Zeit hatte sie einmal die bestsichtbaren gelernt und mit dem Teleskop selber gesucht.

Da war auf jeden Fall Orion. Sehr einfach zu erkennen an den drei Sternen in einer Reihe im Zentrum des Sternbilds.

Sie kam nicht weiter, denn in diesem Moment berührte sie jemand am Arm. Sie drehte sich um, erkannte, dass der Typ sie angestupst hatte.

»Bist du taub oder so?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. Was für ein Vollidiot! Nur, weil sie einmal in Gedanken versunken war.

»Ich hab dich gefragt, ob es okay ist, wenn du zwei Reihen nach vorne zu dem Opa da gehst. Dann hab ich Platz für meinen Rucksack.«

Sie starrte den Typen verständnislos an. Was dachte der sich eigentlich? Setzte sich erst zu jemanden dazu und jetzt wollte er sie wegekeln. »Nein, ist es nicht«, entgegnete sie und drehte sich zum Fenster um.

»Was ist denn das Problem? Häh, was bist du denn jetzt so eingeschnappt?«

Sie atmete ruhig durch. Immer die Ruhe bewahren. Solchen Arschlöcher wollten einen nur provozieren, nichts mehr. Wenn man aufhörte, mit ihnen zu reden, verloren sie schnell das Interesse an einem.

»Ich brauch aber Platz. Da vorne ist doch auch noch frei. Es ist doch egal, wo du sitzt.«

In diesem Moment wünschte sie sich, auch Kopfhörer mitgenommen zu haben. Die könnte sie jetzt aufsetzen und einfach alles um sie herum ausblenden. Aber natürlich hatte man die Dinge immer in dem Moment, in dem man sie brauchte, gerade nicht dabei.

»Hey!« Wieder packte er ihren Arm.

Jetzt reichte es! Sie stand auf. »Fass mich nicht an, du Arschloch.« Sie sprach extra laut, damit alle in ihrem Abteil sie hören konnten. Dann zwängte sie sich an dem Typen vorbei und lief den Gang entlang zu der Tür in ein anderes Abteil. Bloß weg von diesem Spinner. Sollte er doch Platz für seinen blöden Rucksack haben.

Sie kam in das neue Abteil. Zum Glück war hier noch viel Platz. Nur zwei Menschen saßen auf einem Viererplatz. Erst als auch sie saß, atmete sie tief durch. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie ihr Herz schneller geschlagen hatte.

Dann blickte sie wieder aus dem Fenster. Der Anblick der Sterne beruhigte sie. Man konnte daran versinken.

»Hey!« Für einen Moment glaubte sie, ihre Fantasie gehe jetzt durch. Jetzt sah sie schon den Typen vor sich.

Moment einmal. Sie zuckte zusammen. Der Typ mit dem roten Outfit stand schon wieder vor ihr. Jetzt merkte sie, wie ihr Herzschlag beschleunigte. Ihre Hände zitterten. Verdammt, was wollte der nur von ihr?

»Warum hast du mich gerade so bloßgestellt? Hm?«

Sie konnte nicht sprechen, schaute sich verzweifelt im Abteil um. Die zwei anderen Menschen hatten Kopfhörer auf, hörten sie nicht. Verdammt. Sie spürte Panik in sich aufsteigen.

»Sag es mir.« Der Typ kam näher. Sein Deodorant stach ihr in die Nase, ihr wurde übel. Noch immer bekam sie kein Wort heraus, es fühlte sich an, als würde ihr jemand die Luft abschnüren.

Isa wich instinktiv zurück. Warum sah denn niemand etwas?

»Lass mich in Ruhe«, brachte sie endlich … endlich heraus.

Das hielt den Typen nicht davon ab, noch näherzukommen. »Dann sag es mir.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Abteil. Der Typ im roten Outfit drehte sich um. Das war ihre Chance. Mit dem Fuß trat sie nach dem Typen, er flog nach hinten gegen einen anderen Sitz.

»Hilfe!«, schrie sie. Gott sei Dank! Die Person hatte sie bemerkt.

Dann plötzlich, ohne Vorwarnung, setzte sich die Person auf einen Sitz. Das konnte doch nicht sein! Sie musste doch etwas gehört haben.

Inzwischen hatte sich der Typ wieder aufgerichtet, kam auf sie zu.

»Okay, Isa. Setz dich jetzt hin.«

Sie zuckte zusammen. Woher kannte der Typ ihren Namen?

»Dachtest du, du könntest mir wirklich entkommen?« Er lachte. Ein scheußliches Lachen. »Du wirst mir niemals entkommen. Egal, wohin du fliehst.«

In diesem Moment kam die Erinnerung wieder. An damals, an ihn, an seine Freundlichkeit am Anfang. Und dann an seine hässliche Fratze, die er ihr offenbarte. An ihre Flucht. Sie öffnete den Mund, unfähig noch etwas zu sagen.

Der Typ setzte sich neben sie.

»Wir werden uns jetzt eine lange Zeit unterhalten.«