Heute sehe ich Collin zum letzten Mal.
Das ist der erste Gedanke, den ich habe, als ich aufwache. Meinen Wecker habe ich auf zwei Stunden früher als sonst gestellt. Sonst bliebe keine Zeit, sich zu verabschieden.
Auf dem Weg zum Kerker muss ich mir die Tränen verdrücken. Auch wenn das wahrscheinlich keiner sehen würde. Die Leute senken den Blick, schon wenn sie mich von weitem erblicken. Manchmal ist es schlimmer, nicht angesehen zu werden.
Kurz vor dem Kerker wartet die einzige Person auf dieser Station, die mir noch bleibt. Kaylie.
Ihre Haare sind hochgesteckt, schon daran erkennt man, dass heute kein normaler Tag ist.
Erst als ich näher komme, sehe ich, dass unter ihren Augen das Make-up verlaufen ist. Sie muss also geweint haben.
»Hey Fynn.« Ihre Stimme klingt anders als sonst, dünn und zerbrechlich. »Wie … wie kommst du damit zurecht?«
Ich nehme ihr nicht übel, dass sie dieselben Phrasen sagt, wie alle anderen. Ich hätte auch keine Ahnung, was ich sagen soll. So richtig Kreatives gibt es in einer solchen Situation auch nicht.
»Es geht«, antworte ich.
Sie nickt und dann stehen wir schweigend da, für zwei oder drei Minuten. Manchmal ist es schlimmer, nichts zu sagen.
»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagt Kaylie nach einer Weile.
Dieses Mal bin ich es, der nicke.
Der Raum, den wir betreten, ist winzig. Sofort beim Eintreten sticht mir der Geruch in der Nase. Irgendeine Art von Desinfektionsmittel. Alles ist in Weiß gehalten. Es gibt nur eine Bank zum Hinsetzen und dann die Glasscheibe.
Dahinter sehe ich ihn.
Collin.
Er liegt auf dem Boden, Möbel gibt es auf seiner Seite nicht. Sein Raum ist nicht größer als der, in dem Kaylie und ich gerade stehen. Als wir hereinkommen, liegt er mit dem Rücken zu uns gerichtet da. Für einen Moment glaube ich, er schläft.
»Ihr seid gekommen.« Seine Stimme klingt krächzend. Bekommt er denn kein Wasser da drin?
Dann dreht er sich zu uns um. Ich zucke zusammen. Sein Gesicht ist ausgemergelt, seine Wangen eingefallen. Er sieht aus, als hätte man ihn verhungern lassen. Unter seinen Augen zeichnen sich dunkle Ringe an. Seine Lippen sind rissig, getrocknetes Blut klebt daran.
Alles in mir zieht sich bei seinem Anblick zusammen. Ich rufe mir das Bild von ihm davor vor Augen. Seine strahlenden Augen. Seine Lippen ganz sanft. In diesem Moment kann ich sie schmecken, bin wieder da, in dem Moment, in dem …
»Ihr hättet nicht herkommen sollen.« Collins Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. »Ich wünschte, ihr würdet mich anders in Erinnerung behalten können.«
Plötzlich kann ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Es geschieht so schnell, ich kann nichts dagegen tun. Ich habe mir vorgenommen, nicht zu weinen, auf gar keinen Fall vor ihm rumzuheulen.
Hat nicht geklappt.
Mit einem Mal ist mein Gesicht nass, meine Sicht verschleiert. Kaylie legt einen Arm um mich.
Ich wische mit dem Arm über mein Gesicht. »Wann bringen sie dich weg?«, frage ich, eine sinnlose Frage, denn ich weiß sehr genau, wann das ist. Aber in diesem Moment fällt mir nichts anders ein und deshalb werde ich auch zu einem Phrasenroboter, rede das obligatorische Skript herunter, das alle durchspielen.
Collin spielt mit, er kennt das Spiel. »In einer Stunde und fünf Minuten.«
So lange hat er noch zu leben, bevor sie ihn in die Luftschleuse schmeißen.
Es fällt mir schwer, Collin anzusehen. Jedes Mal, wenn ich in seine Augen blicke, muss ich zurückdenken, an unsere Zeit.
»Fynn?«
»Hm?«
»Es gab so vieles, was ich noch erreichen wollte, was ich mir für uns gewünscht hätte, als das ‚uns’ noch eine Möglichkeit schien.«
Der Satz bringt mich erneut zum Weinen. Keine Ahnung, wie lange er gebraucht hat, um ihn sich auszudenken, wie viele Stunden er daran gesessen ist.
»Erinnerst du dich noch an unser erstes Treffen?« Wir fahren mit dem Skript fort.
Ich muss lächeln, als ich daran zurückdenke. Ich hab mich so doof angestellt, beinahe hätte ich alles vermasselt. Was hätte ich dann alles verpasst?
»Fynn?«
»Ja?«
Jetzt hat auch Collin Tränen in den Augen, ich kann es sehen.
»Danke.«
Gerade will ich etwas antworten, da piept der Timer. Mit einem Mal wird die Scheibe vor uns gedimmt, bis sie völlig schwarz ist.
»Collin!« Ich renne zur Scheibe, schlage dagegen, halte mein Ohr heran. Aber natürlich ist das alles nutzlos, die Scheibe ist schallisolierend. Ich werde ihn nie wieder sehen. Oder hören.
Ich sinke zu Boden. Erstaunlicherweise ist er recht warm. Kaylie setzt sich neben mich.
»Wir werden nicht mal mitbekommen, wenn es geschieht, oder?«, frage ich. Wieder eine Frage, auf die ich die Antwort schon kenne.
Sie antwortet nicht.
Die nächste Stunde sitzen wir einfach nur da. Schweigend. Starren auf die schwarze Scheibe. Ich schaue auf die Uhr.
Dann ist es vorbei. Die Scheibe ist noch immer schwarz, man kann keine Veränderung erkennen. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich mir einreden, er wäre noch am Leben.
Manchmal ist es schlimmer, gar nichts zu sehen.
Schreibe einen Kommentar