Schon von weitem sehe ich die Bibliothek. Wie ein glitzernder Palast schwebt die Raumstation inmitten der unendlichen Weite.
»Bitte setzen Sie sich auf Ihre Plätze. Wir beginnen mit dem Andockvorgang«, sagt eine synthetische Stimme durch die Lautsprecher. Wir bremsen ab, ich werde in den Sitz gepresst, nur ganz leicht, als würde jemand mich festhalten.
Dann rumpelt es kurz und wir sind angedockt. Mit einem Zischen öffnet sich die Shuttle-Tür.
Ich trete in die Bibliothek. Meine Augen wandern sofort nach oben, zu der Decke, die hundert Meter über dem Boden ist. Sie ist mit Malereien überzogen. Wie die alten Höhlenmalereien erzählen sie die Geschichte der Menschheit. Die sich eines Tages aufgemacht hat, in das Universum vorzudringen, die ihre Fesseln gesprengt hat.
Na ja, zumindest steht es so in den Erzählungen. Natürlich gibt es dort kein Wort von den Millionen, Milliarden, die noch immer hier im Sonnensystem sind, die als Sklaven auf dem Mars arbeiten müssen, die die Stationen am Laufen halten, die auf der Erde in Slums zusammengepfercht leben müssen, während die Mächtigen im Mondorbit auf ihren Luxusshuttles kreisen oder sich aufgemacht haben zu den Sternen, zu den neuen Welten.
Ich dringe tiefer in die Bibliothek vor, vorbei an den Sicherheitskontrollen. Es gibt über hundert Lesesäle. Insgesamt knapp eine Milliarde Bücher. Das kulturelle Erbe der Menschheit.
Ich laufe an den Regalen vorbei, die meterhoch ragen. Unten am Boden sind Terminals angebracht zum Anfordern der Bücher. Roboter rasen die Regale entlang, entnehmen Bücher, stellen andere zurück. Es ist fast hypnotisch, ihnen dabei zuzuschauen.
Aber deswegen bin ich heute nicht hier.
Ich muss ihn treffen. Den Mann, mit dem ich in den letzten Wochen jede Nacht geschrieben habe. Dem ich meine Geheimnisse anvertraut habe. Jetzt wird sich zeigen, ob das ein Fehler gewesen ist.
Die Räume der Bibliothek tragen die Namen antiker Gottheiten. Aus allen möglichen Kulturkreisen, manche davon längst vergessen und wieder ausgegraben.
Komm in den Lesesaal von Jupiter.
Nach kurzer Zeit habe ich ihn erreicht.
Ich setze mich an den Sitzplatz 34087, genau wie abgesprochen. Dann warte ich. Ich will mich am liebsten umdrehen, will die Leute inspizieren, ihnen in die Augen sehen. Wo ist er? Wer ist er?
Ich habe keine Ahnung, wie er aussieht. Aber wenn ich ihm in die Augen blicke, dann werde ich es wissen. Daran habe ich keinen Zweifel.
Plötzlich kommt eine Person von rechts auf mich zu, setzt sich an meinen Tisch. Ein Mann, vielleicht so um die vierzig. Er schaut mir nicht in die Augen.
»Bist du Alexandra?«
Ich nicke. »Du bist Serge?«
Auch er nickt.
Ich muss unwillkürlich lächeln. Dabei ist an dieser Situation ganz und gar nichts lustig. Serge verzieht das Gesicht, als er mich sieht.
»Bist du dir sicher, dass du bereit dafür bist?«
Wieder nicke ich. Warum auch nicht? Was genau hat mein Leben denn sonst zu bieten?
Serge nickt wieder. »Ich habe alles vorbereitet. Ich werde am Hafen auf dich warten. Dann können wir gemeinsam von hier weg.«
Ohne auf meine Bestätigung zu warten, steht er auf, läuft weiter, als wäre nichts gewesen. Er biegt zwischen die hohen Bücherregale und eine Sekunde später habe ich ihn aus den Augen verloren.
Ich atme durch, blicke auf den kleinen Zettel, den er mir am Platz hinterlassen hat.
Es steht lediglich eine Nummer darauf. 34000. Keine Frage, was das ist.
Auch ich erhebe mich. Mein Herz rast, ich kann den Puls in meinem Ohr hören. Ich gehe weiter, zwischen den Tischen hindurch. Die Nummern werden kleiner, bis ich ihn schließlich erreiche. Platz 34000.
Abrupt stoppe ich, setze ich mich auf den Platz. Wie von außen gesteuert, fährt meine Hand unter dem Tisch entlang. Plötzlich stoße ich auf etwas Hartes. Ein Päckchen, angeklebt. Wie besprochen.
Mein Mund ist plötzlich ganz trocken. Ich würde für einen Schluck Wasser gerade töten.
Du schaffst das.
Leider hilft es nichts, sich immer wieder etwas zu sagen.
Mit einem Ruck reiße ich das Päckchen ab, dann stehe ich wieder auf. Beim Rausgehen achte ich auf die Menschen, doch niemand scheint mich zu bemerken. Das ist gut.
Ich wandere in Richtung des Herzstücks der Bibliothek.
Nicht etwa eine Kammer voller Bücher, nein.
Das Herzstück ist immer der Reaktor.
Das hat mir Serge beigebracht.
Ich beschleunige meinen Schritt. Hier so tief drin in der Bibliothek laufen kaum Menschen entlang. Aber niemand beachtet ein sechzehnjähriges Mädchen. Niemand schaut auf ihre rechte Hand, in der sich der Tod befindet.
Ich bin fast da, als ich laute Stimmen höre. Wachposten. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen, sie sprechen in einer lokalen Sprache, die ich nicht verstehe. Aber sie scheinen herumzualbern.
Nur hundert Meter von mir entfernt ist der Zugang zum Reaktorkern. Streng gesichert über drei biometrische Sperren. Zufällig bin ich in der Lage, diese zu überwinden. Aber das weiß natürlich niemand. Weil keiner eine Ahnung hat, wer dieses kleine sechzehnjährige Mädchen wirklich ist.
Die Wachposten dürfen mich nicht sehen. Sie würden mir Fragen stellen, selbst mir.
Ich blicke mich um. Schaffe ich es, auf die andere Seite zu sprinten, ungesehen?
Nicht ohne Ablenkung.
Ich greife in meine Tasche, hole heraus, was ich mir vorher noch hereingesteckt habe und durch die Sicherheitsschleusen geschmuggelt habe. Die zwei Kugeln sehen unscheinbar aus, wie zwei Bälle. Glücksbringer, habe ich gesagt.
Ich schließe die Augen, dann schleudere ich die Bälle in die entgegengesetzte Richtung von mir. Noch in der Luft sprühen plötzlich Funken daraus, es knallt, kleine bunte Feuerwerke schweben in der Luft.
Ich warte keine Sekunde, sprinte herüber zum Zugang zum Reaktorkern. Ich lege die Hand auf den Scanner, eine Nadel sticht hinein. DNA-Analyse. Zufällig habe ich die richtige DNA. Schon praktisch, wenn der Leiter der Bibliothek ungewollt Frauen schwängert und sie dann mit den Kindern alleine im Dreck verrecken lässt.
Ich blinzele mit den Augen, vor meinem Gesicht aktiviert sich die Maske. Ich trage nun das Gesicht von jemand anderen. Von ihm. Meinem … Vater.
Ein Scanner fährt über mein Gesicht, blinkt grün.
Ich spiele die Sprachprobe ab, die ich besorgt habe.
Die Tür geht auf. Ich muss unwillkürlich grinsen.
Ich schmeiße das Päckchen in den Raum, mit extra viel Kraft auf den Boden. Jedenfalls genug, um es zu aktivieren.
Dann laufe ich zurück, renne durch die Bibliothek. Die Leute werfen mir seltsame Blicke zu, aber das ist mir egal. Wie viel Zeit bleibt mir noch?
Zwei Minuten? Höchstens.
Ich renne weiter, erreiche endlich den Hafen. Das Shuttle von Serge ist an der Nummer 1087. Wo ist das? Ich blicke auf die Nummern.
1080. 1081.
Weiter! Wie viel Zeit noch.
1085.
1086.
Ich stoppte abrupt.
Stocke. Kann das …
Dock 1087 ist leer.
In diesem Moment trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag in den Bauch. Ich krümme mich zusammen, falle beinahe zu Boden.
Er ist weg. Serge ist abgehauen.
Wie viel Zeit noch?
Ich blicke auf die Uhr. Zehn Sekunden. Zehn Sekunden, dann explodiert das Päckchen, dann geht der Reaktor in die Luft. Dann habe ich das Inferno entfesselt.
Fünf Sekunden. Vier.
Ich werde es nicht schaffen.
Drei. Zwei. Eins.
Siehst du das, Vater? Das bin ich. Ich bringe dir ein Inferno.
niklasatw
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