Es gab so vieles, was ich noch erreichen wollte, was ich mir für uns gewünscht hätte, als das „uns“ noch eine Möglichkeit schien. Doch das alles war belanglos geworden. Sie hatte anders gewählt. Jemand anderen. Und ich musste damit leben. Viele Jahre schon und sicher auch noch nicht genug.

Ich sah ihn wieder an. Er würde nicht locker lassen. In seinen blauen Augen lag immer noch dieser Blick. Er hatte seine Stirn in Falten gelegt und die Lippen fest aufeinander gepresst. Er wartete. Er wartete auf eine Reaktion von mir, auf irgendetwas, womit er sein Verlangen nach Antworten stillen konnte. Und als wäre dieser Druck, der sich auf meinem Herzen aufgebaut hatte, nicht schon genug, sah er dabei auch noch exakt so aus wie seine Mutter.

Ich atmete vorsichtig aus und stellte meine Kaffeetasse auf den dunklen Untersetzer zurück, leckte mir über die Lippen. „Als wir jung waren, oh Mann, vor beinah 30 Jahren, da glühte ein Funken in ihren Augen. Ich kann es nicht genau erklären. Etwas zog mich magisch zu ihr, veränderte meine Umlaufbahn weg von dem vorgeschriebenen Pfad hin zu neuen Ufern. Ich habe nie zuvor und nie wieder danach eine Frau geliebt. Deine Mutter hat mich ab der ersten Sekunde verrückt gemacht und jede Faser von mir eingenommen. Sie war immer etwas besonderes für mich.“ Ich genehmigte mir einen Blick nach draußen. Der Himmel, leicht wolkenbehangen, wirkte aus dem städtischen Wohnzimmerfenster beinah einnehmend.

„Weiter, Paula. Bitte.“ Lukas´ Stimme klang fordernd. Es hielt mich davon ab, in Tagträume zu entgleiten, die mein Sehnen nach anderen Zeiten, einfacheren Zeiten um exakt zu sein, nur noch verstärken würden. Ich rieb mir die vor Aufregung feuchten Hände an der Jeans ab und richtete meinen Blick erneut zu ihm.

„Du erinnerst mich manchmal an sie. Deine Art. Dieses Weiterwollen, diese großen Ziele. Manchmal hab ich Angst, dass du dich übernimmst.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Aber dann denke ich: Seine Mutter war genauso. Er packt das schon. Ich weiß nicht genau, was ihre jetzigen Ziele sind. Aber ich schätze, sie erreicht sie. Wie immer.“ Ich erzwang mir ein Lächeln. Er lehnte sich weit in den Sessel zurück.

„Warum hast du ihr nie gesagt, das du sie liebst?“ Eine bekannte Angst ergriff meine Kehle. Wie mich diese Frage seit Jahren quälte war unvorstellbar auszusprechen. Ich hatte sie so lange gemieden, so oft verdrängt. Und jetzt stellte er sie unverblümt und gerade heraus, wie er war. Wieder zuckte ich mit den Schultern. Doch diesmal langsamer. Er sollte meine Verzweiflung bemerken.

„Wie sagt man so etwas? Wie sagt man seiner besten Freundin seit der Jugend, dass man sie liebt? Als sie mit deinem Dad zusammen war und du dann kamst, da hab ich mich für sie gefreut. Wirklich. Ich hätte sie zwar gerne bei mir gehabt, aber das ging nicht. Sie war glücklich und ich … na ja. Ich hab geheiratet. Zweimal.“ Ein Lächeln, das meine Scham preisgab, kroch über meine Züge. Ich hatte ohne Anna nie leben können.

„Paula?“ Aus Lukas´ Mund klang mein Name beinah wie eine Erinnerung. „Dad ist seit 7 Jahren tot und du seit 3 Jahren geschieden. Zum zweiten Mal.“ Jetzt zog er seine Augenbrauen bis zum Haaransatz. Sarkasmus schwang in seinen Worten mit. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Ich bin ehrlich. Ich weiß nicht, ob Mum jemals Anstalten gemacht hat, sich zu dir hingezogen zu fühlen. Es wäre absolut okay für mich. Am Ende sollt ihr beide glücklich sein. Hat sie je diesbezüglich etwas getan?“ Ich schüttelte langsam den Kopf.

„Wenn doch, dann hab ich es nie bemerkt. Obwohl … als dein Vater gestorben ist … sie war natürlich am Boden zerstört und sehr traurig, aber sie hat auch einige Monate später noch viel meine Nähe gesucht. Sie ist ja mehrmals zu mir nach Neapel geflogen und länger als nur ein Wochenende, einmal sogar fast einen gesamten Monat, geblieben. Da hab ich oft daran denken müssen und ob sie vielleicht mehr empfinden könnte. Aber vermutlich hat sie nur eine Stütze gebraucht, die ich immer sehr gerne für sie bin, wie du weißt. Ich will nicht, dass du etwas anderes denkst. Ich habe meine Gefühle für sie immer nach hinten geschoben, um ihr in erster Linie die Freundin zu sein, die sie braucht. Die sie gebraucht hat. Immer.“ Ich biss mir auf die Unterlippe und wanderte mit den Fingern an der Kaffeetasse auf und ab.

„Ja, ich weiß.“ Er rutschte im Sessel umher, nur um seine Ellenbogen ein paar Bewegungen später nach vorne auf die Knie zu stützen. „Also kann man schon sagen, dass sie die Liebe deines Lebens ist?“

Mein Blick schnellte weg von der Tasse zu ihm, doch noch im selben Moment betätigte jemand die Klinke der Wohnzimmertür und Lukas´ Augen fixierten keine geringere als Anna, die vorsichtig ihren Kopf durch den Spalt streckte.

„Nanu? Welche Geheimversammlung haltet ihr denn ab?“ Ich drückte mich aus dem Sessel hoch und drehte mich zu ihr um. Sie war ungeschminkt, hatte die langen, blonden Haare, die über die Jahre dünner geworden waren, in einen lockeren Dutt gesteckt.

„Ach … ähm … Wir reden nur.“ Ich versuchte mich an einem beruhigenden Lächeln, doch war ich von meiner eigenen Leistung nicht gerade überzeugt. Anna schien das zu bemerken.

„Okay? Na gut. Ich glaub euch das mal. Aber nur, damit ihr es wisst, wenn es Probleme gibt, dann redet bitte mit mir, ja? Ich hasse es, wenn ich die Letzte bin, die von irgendwelchen Schwierigkeiten erfährt.“ Sie drückte die Tür mit der Hüfte auf und trug einen Korb voll Wäsche in Richtung Balkon.

„Keine Sorge.“ Ich nickte kurz, strich mir erneut über die Jeans und schob den Sessel beiseite, um mich für den restlichen Tag im Gästezimmer zu barrikadieren. Nur kurze Gespräche über dieses Thema verlangten mir schon einiges an geistiger Kraft ab. Ich hatte gerade die ersten Schritte getan, da räusperte sich Lukas.

„Ja, also … ähm … na ja wir reden schon über eine wichtige Problematik.“ Ein kalter Schauer jagte über meinen Rücken, Schwindel bahnte sich an, also griff ich nach der Zimmertür, um mich abzufangen. Ich schloss die Augen. Anna stellte den Korb hörbar an der Balkontür ab.

„Okay? Um was geht’s?“ Ich leckte mir über die Lippen und richtete einen verschwommenen Blick auf Lukas, der wiederum mich ansah. „Hallo? Könnt ihr mich einweihen? Ihr tut ja als hättet ihr wen umgebracht.“ Ein Lächeln huschte über ihre schmalen Züge, dann wurde ihr Blick fragend.

Lukas zuckte mit den Schultern. „Ich lass euch allein.“ Er ging in meine Richtung und an mir vorbei. „Versuch es. Dir zu liebe“, flüsterte er und verschwand aus dem Raum, ließ mich zurück, konfrontiert mit meiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Der erste Gedanke, der mir kam, war die Frage: Konnte ich lügen? Vielleicht. Ich könnte ihr das Blau vom Himmel lügen, irgendeine wilde, erfundene Story erzählen. Aber wollte ich das? Wollte ich lügen? So nah an die Wahrheit hatte ich mich noch nie getraut. Ich drehte mich zu ihr und sah sie an. Ihre Züge hatten sich versteinert. Sie wartete. Sie wartete auf eine Reaktion von mir, auf irgendetwas, womit sie ihr Verlangen nach Antworten stillen konnte. Ein Déjà-vu. Ich atmete vorsichtig aus.

„Dein Sohn ist dir so verdammt ähnlich.“ Ich lehnte mich gegen die Zimmertür und sah auf meine Hände. „Ihr wollt beide immer nur das Beste für andere und es ist verdammt schwer euch zu widersprechen.“ Eine leise Zustimmung ihrerseits folgte: „Mhm.“

Nein. Ich konnte nicht mehr lügen. „Also gut“, sagte ich mit zittriger Stimme und stieß mich von der Zimmertür ab. „Dein Sohn will, dass ich dir mein größtes Dilemma, das er, nebenbei gesagt, einfach so erraten hat, mitteile. Das muss man ihm lassen. Was auch immer er da für Dinge lernt in der Uni. Es scheint zu funktionieren.“ Wieder versuchte ich mich an einem beschwichtigenden Lächeln. Wieder nahm ich es mir nicht ab. Wieder schien sie es zu bemerkten. Sie presste die Kiefer zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Bist du krank?“, flüsterte sie. Ich blinzelte. Mit der Frage hatte ich nicht gerechnet. Aber ich verstand sofort, wo es her kam: Lukas´ Vater. Ich schüttelte schnell den Kopf.

„Nein. Wenn es so wäre, dann hätte ich es dir erzählt. Sofort. Allein der Vergangenheit wegen. Wirklich.“ Sie nickte langsam.

„Was dann?“ Ihr Blick fixierte jede meiner Regungen. Alle Heiterkeit, die sonst von ihr ausging, war verfolgen. Sie schien sich innerlich auf das Schlimmste gefasst zu machen. Gut. Ich schluckte ein letztes Mal.

„Ich will, dass du weißt, dass es mir leid tut, dass ich es nicht gesagt hab. Dass ich es nie gesagt hab. Ich … Mir war immer bewusst, dass es für dich nicht so ist und bitte glaub mir ich habe es immer verdrängt und ich habe und hätte auch nie danach gehandelt. Ich …“

„Sag es einfach.“ Wieder flüsterte sie und schließlich ergab ich mich.

„Ich liebe dich.“

Ich hatte nicht bemerkt, dass es sich vor dem Fenster zuzog. Erst jetzt, als man die Spannung und meine Seele mit einem Messer hätte schneiden können, fing es im selben Augenblick an wie aus Eimern zu schütten. Laut, lauter als ich es je wahr genommen hatte, platzten die Tropfen an die Scheiben. Es wurde kalt. Doch Anna regte sich nicht. Ich regte mich nicht, stand nur da, ergab mich meinem Schicksal, wartet auf eine Regung von ihr, auf irgendetwas. Dann schloss sie die Augen und senkte den Kopf.

„Ich liebe dich seit ich 15 bin. Jetzt weißt du es“, hörte ich mich flüstern und wie ferngesteuert tat ich einen Schritt, dann noch einen und noch einen in Richtung Wohnzimmertür, bis ich auf dem Flur im Dunklen stand. Mir wurde wieder schummrig, meine Hände griffen zitternd nach der Wand. Ich tastete mich an ihr entlang bis ins Gästezimmer, wo mir schlussendlich die Beine versagten und ich auf den Boden sank, dort zusammensackte, wie von aller Kraft verlassen. Ich hatte die letzte Karte gespielt.

Augenblicke später, ich wusste nicht wie viele, spürte ich etwas. Zuerst nur ganz schwach, sanft wie einen Sonnenstrahl. Doch von draußen konnte es nicht kommen. Dort hatte es sich eingeregnet, im Gleichschritt fielen die Tropfen.

Es kam von ihr. Sie hatte eine Hand auf meinen Rücken gelegt, die andere …

Wie hatte ich es nicht bemerken können? Sie hielt mich. Sie hielt mich fest, drückte mich an sich, saß mit mir auf dem Boden und presste ihren Körper an meinen, während meine Tränen ihr lockeres, weißes Shirt benetzten und die ihren meines. Wir weinten stumm.

Ich kam nur schwer wieder zu Kräften. Mein Geist war ausgelaugt. Es fühlte sich so an, als wäre ich in wenigen Minuten um viele, viele Jahre gealtert. Behutsam drückte ich mich von ihr und sie gab mir den Freiraum, den ich verlangte.

„Es tut mir leid.“ Erst jetzt konnte ich sie ansehen. Ihre blauen Augen waren wässrig und rot umrahmt, ihre, mit Sommersprossen besetzten, Wangen glänzten und Tränenspuren zogen sich bis zu ihrem Kinn. Sie war so schön.

„Es tut mir leid, dass ich es nicht bemerkt hab.“ Ihre Stimme war leise, aber fest. Behutsam strich sie mir eine nasse Strähne aus dem Gesicht, ohne mich vollends dabei loszulassen.

„Es muss dir überhaupt nichts leid tun“, krächzte ich. Selbst meiner Stimme fehlte die Kraft. „Du hast doch gar nichts falsch gemacht.“

„Du hast auch nichts falsch gemacht.“ Sie legte den Kopf schief, um mich besser betrachten zu können. „Ich wünschte nur, du hättest es eher gesagt. Dann hätte ich dir deine Qualen ersparen können.“

Prompt zog sich mein Herz zusammen und ich wich etwas zurück. Vor diesem Moment hatte ich mich immer gefürchtet. Es würde nie wieder sein wie früher. Ich schloss die Augen. Unerwiderte Liebe war die Schlimmste von allen. Vor allem wenn es der andere wusste und es unerwidert blieb. Vorsichtig drehte ich meinen Kopf weg und ließ es zu, dass weitere Tränen über meine Wangen liefen, diesmal auf mein eigenes Shirt.

Doch kam ich nicht weit. Sie hatte eine Hand an meine Wange gelegt und übte Druck aus, damit ich gezwungen war, sie anzusehen.

„Du kannst nicht wieder nach Neapel zurückfliegen. Du musst hier bleiben. Bei mir. Weil Paula …“ Ohne eine weitere Vorwarnung quollen wieder Tränen aus ihren Augen und sie begann zu beben. Sie weinte so stark, dass nun ich diejenige war, die sie halten musste.

„Ich liebe dich auch.“

Sie schluchzte es an meinem Hals. Ich sah auf sie hinab, wie sie mein T-Shirt weiter mit Tränen tränkte, ungläubig über das, was ich so eben vernommen hatte. Dann nahm ich ihren Kopf in meine Hände und sah sie an. Wir sahen uns einfach nur an, bis unsere Tränen langsam auf unseren Wangen getrocknet waren. Ich konnte nichts anderes tun, nichts denken. Alles schien zu surreal.

„Wie lange schon“, hört ich mich irgendwann fragen.

„Eine Weile.“ „Eine Weile?“ „Sechs Jahre, drei Monate in etwa.“ Ich musste vor Überraschung blinzeln.

„Seit ich den Monat in Neapel war. Da hab ich mich in dich verliebt.“ Ich schluckte.

„Anna? Hast du schon mal eine Frau geküsst?“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Okay. Ich auch nicht.“ Meine Stimme bekam so langsam ihre Standfestigkeit zurück. Doch es gab nur noch eine Sache, an die ich denken konnte.

„Na dann“, sagte ich und zog sie näher an mich. Doch zu meiner Überraschung war es Anna, meine beste Freundin Anna, die ich kannte und liebte seit ich fünfzehn war, die die Lücke zwischen uns schloss.

Tia Bibra