Ein Schiff, gestrandet und doch verloren auf dem Meer.

Ich schritt den Gang entlang, als würde mich das alles um mich herum nicht interessieren. Den Blick starr nach vorne gerichtet.

Und doch ließ sich das Elend nicht ausblenden.

Meine Schritte hallten von den metallenen Wänden des Schiffes wider. Gestalten saßen vereinzelt zusammengesunken da und starrten träge vor sich hin. Die ausgelassenen Abende waren nicht spurlos an ihnen vorübergegangen.

Wie auch? Es gab niemanden mehr, der auf sie acht gab. Ich seufzte nur, denn ich konnte nicht allen helfen.

Immer wieder glitten meine Augen an dem Grün der Wände entlang. Es erfüllte mich jedes Mal mit Faszination und Angst zugleich, wie schnell die Natur sich ihren Raum zurück erkämpfte, hier auf dieser Insel noch schneller als irgendwo sonst. Bald würde das Schiff nicht mehr zu erkennen sein, es wurde regelrecht verschlungen. Wie in Trance strich ich über eine blasse Blüte, die sich mir entgegenstreckte, bevor ich meinen Weg Richtung Messe fortfuhr. Die tiefen Kratzer im Metall versuchte ich weiterhin zu ignorieren.

Immer wieder richtete ich den Träger meines Tops unter dem viel zu großen Shirt. Auch die Jeans hing mir bei jedem Schritt bedrohlich auf den Hüften, doch auch daran ließ sich nichts ändern.

Meine viel zu langen Haare steckten unter einer Cap. Für diesen Ort waren sie nicht geeignet, sie waren mir im Weg und doch brachte ich es nicht über mein Herz, sie abzuschneiden. Sie waren ein Teil meines früheren Lebens, von dem ich mich nicht trennen konnte.

In Gedanken wickelte ich eine verirrte Strähne um meinen Finger, während ich den letzten Schritt durch die schwingende Doppeltür trat. Es war später Mittag, wie man am Stand der Sonne erkennen konnte, und doch tummelten sich hier nur wenige Menschen.

Schnell hatte ich meinen Tisch gefunden, an dem bereits Sophie und Adam saßen, beim Vorbeigehen schnappte ich mir noch ein Tablett mit Obst und Salat, bevor ich mich ungalant auf die Bank fallen ließ.

Während Sophie nur abwesend in einem Salat rumstocherte, grinste mich Adam über sein Glas hinweg an.

„Von Tag zu Tag wird es stiller.“ sagte er kaum hörbar.

„Und gleichzeitig wilder“ ,erwiderte ich mit einem Nicken in Richtung der Schlafenden auf den Fliesen.

„Gefällt dir die Aussicht in die andere Richtung besser?“ sein Kopf ruckte in die besagte Ecke.

Ich drehte mich um und sofort rutschte meine Laune in den Keller.

„Man könnte meinen, wir sind wieder im letzten Jahrhundert gelandet.“ brummte ich

Adams Grinsen wurde breiter, als er die Gruppierung am anderen Ende des Saales beobachtete.

„Sein Amt sollte man sich verdienen, doch mir liegt nichts ferner, als mich da einzumischen.“ beendete ich das Thema.

Genau genommen konnte ich nicht nur Schlechtes an Noah lassen, doch das würde ich den beiden bestimmt nicht auf die Nase binden. Wäre Noah nicht gewesen, hätte es bestimmt das komplette Chaos gegeben. Ich hielt nichts von Männern, die die Macht an sich reißen. Es gab jedoch niemanden, der an seiner Stelle das Wort ergriffen hatte. Ich konnte mich noch gut an den Tag erinnern. Der Tag, an dem wir hier gestrandet waren. Der einen Hälfte war die pure Verzweiflung förmlich ins Gesicht geschrieben gewesen, die andere schien Stunde um Stunde mehr dem Wahnsinn zu verfallen. Niemand konnte sich daran erinnern, ein Schiff betreten zu haben und doch waren wir hier.

Und ich? Ich betrachtete alles mit einer Nüchternheit und Klarheit, zu der ich vorher nie fähig gewesen wäre.

Es hatte sich eine Ruhe ausgebreitet, mit der ich auch zusah, wie Noah das Wort ergriff und anfing, alle unter sein Kommando zu stellen. Er verteilte Aufgaben an Gruppen und organisierte einen geregelten Ablauf, so gut es eben ging.

Doch auch einem klaren Kopf stieg die gewonnene Macht irgendwann zu hoch.

Die Abende wurden immer ausgelassener, nur um der Angst keinen größeren Raum zu geben, als ohnehin schon.

Es verschwanden Menschen und Schatten nahmen ihren Platz ein, die im Dunkeln gar nicht existieren dürften.

Schreie durchzogen manchmal die Nächte, die nur von lauter Musik übertönt werden konnten.

Manchmal fragte ich mich, ob man ihnen nicht einfach zuhören sollte.

Vielleicht hatten sie ja etwas zu sagen.

Ein Schnipsen holte mich wieder in die Gegenwart zurück. Ich fokussierte erst die Hand vor meinem Gesicht und dann Adams angespannte Gesichtszüge.

Ich spürte Noah hinter mir. Er strahlte eine ungeheure Wärme aus und ich verspannte mich augenblicklich.

„Der Trupp macht sich in einer Stunde auf“ ,vernahm ich seine dunkle Stimme.

Ich machte mir nicht die Mühe, mich umzudrehen, dieses Spielchen ging schon eine ganze Weile. Genau genommen seit Anfang.

„ Ich war bereits gestern unterwegs, beweg deinen Arsch selbst in den Dschungel.“ erwiderte ich Unbeeindruckt und führte die nächste Gabel zum Mund.

Adam setzte sich gerade auf, er war präsent auch wenn er unser Verhalten missbilligte.

Schon spürte ich Noahs Hand auf der Schulter und seine Wärme direkt an meiner Wange, als er sich zu mir herabbeugte. Er roch nach salzigem Meerwasser, vermischt mit einer holzigen Note.

Sein Mund war nur Zentimeter von meinem Ohr entfernt, als mir sein rauchiges Flüstern einen Schauder über den Rücken jagte. „Das wird ein Nachspiel haben.“

Seine Hand drückte nochmals fest zu, bevor sie verschwand, doch die Anspannung blieb.

Ich konnte nicht sagen, woran es lag, dass ich keiner seiner Aufforderungen nachkam. Alles in mir sträubte sich dagegen. Es waren nicht die Aussagen selbst, sondern wie sie rübergebracht wurden. Er hatte sich meinen Respekt noch nicht verdient und doch kommandierte er mich herum, als hätte ich ihn mit offenen Armen empfangen. Als würde ich alles gutheißen was er tat.

Adam atmete hörbar aus und schüttelte nur den Kopf.

Mir war der Appetit vergangen, ich schob das Tablett von mir und kickte die Bank ein Stück zur Seite bevor ich aufstand. Ich hob den Blick und begegnete seinen dunklen durchdringenden Augen, die teils von schwarzen Strähnen verdeckt wurden. Ich nickte ihm zu und schob mich dann an ihm vorbei, ohne nochmals zurückzuschauen.

Obwohl die Abende immer länger wurden, gab es die frühen Morgenstunden, die jeder als stille Warnung anerkannte. Zu dieser Zeit war es still. Totenstill.

Sobald es auf drei Uhr zuging, wurde es immer ruhiger, viele schlossen sich in ihren Kabinen ein und das meistens nicht alleine.

In dieser Zeit tapste ich barfuß durch die Flure, ich genoss die Gedanken, die sich in meinem Kopf ausbreiten konnten und die nächtliche Kühle, die über meine Haut strich, als würde sie mich liebkosen. Mein Weg führte mich immer zum Pool, der in so späten Stunden nur noch in einem seichten Licht dalag. Auf dem Schiff gab es nur noch wenig Strom, nur ein paar Generatoren konnten wieder repariert werden. Das fast klare Wasser war jedoch nicht den Maschinen zu verdanken, sondern den sanft wiegenden Wasserpflanzen, die ein schwaches Schimmern von sich gaben.

Ich wanderte das Becken entlang in die entlegenste Ecke, nahe dem Meer, und ließ das Handtuch fallen. Doch es war nicht das Handtuch, das mir das Gefühl gab, nackt zu sein, sondern das Lösen der Haare, die sonst von der Cap versteckt wurden. Als die leichten Wellen meine Brüste umschmeichelten, fühlte ich mich angreifbarer als jemals sonst. Das Gefühl verflog jedoch wieder, sobald meine Zehen in das Wasser eintauchten. Im Wasser bestand mein Körper, von den umliegenden Kabinen aus gesehen, nur aus verschwommenen Konturen.

Ich setzte mich auf die Treppe, das Wasser stieg mir bis zu den Schlüsselbeinen, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Himmel über mir.

Obwohl es so angenehm warm war, erinnerte er mich immer an eisig kalte Wintermonate, die die Sterne wie Kristalle leuchten ließen. Die Nacht so dunkel und doch erhellt von drei Monden, die am Firmament schwebten. Sie schienen fast den ganzen Himmel einzunehmen und über mich zu wachen.

Ich hörte den Wellen zu, die gegen das Metall schlugen, und den vereinzelten Lauten, die aus dem Dschungel herüberwehten.

Als ich meine Augen wieder auf das Wasser richtete, was wieder glatt und unberührt vor mir lag, nahm ich am Rande meines Sichtfeldes eine Bewegung wahr.

Am höchsten Fenster am Kopfende des Pools konnte ich eine regungslose Gestalt ausmachen.

Ich wusste, wem die Kajüte gehörte, und eine leichte Aufregung bereitete sich in meinem Körper aus.

Ich stieß mich vorsichtig ab und begann mit gemächlichen Zügen zu schwimmen.

Gemütliche Bahnen wie jeden Abend.

Und wie jeden Abend war ich mir seiner Aufmerksamkeit durchaus bewusst.

Es ließ mich lächeln, dass ich gesehen wurde. Ich, die sich gerne hinter den Schatten der Cap verbarg. Ich, deren Gestalt immer in zu großen Klamotten steckte, wo sie doch eigentlich zarte Rundungen besaß.

Mir war bewusst, dass man nicht viel erkennen konnte, nur eine schwimmende schemenhafte Gestalt, doch immer, wenn ich mich im Wasser betrachtete, hatte ich den Eindruck, die Tropfen würden auf meiner Haut leuchten wie kleine Diamanten.

Die Haare schwebten um meinen Körper, wie flüssige Farbe, die ein Gemälde umschmeichelte.

Ich schwebte und ich konnte die Welt hinter mir lassen.

Es war mein Ritual.

Das Ritual, das mich in dieser Welt am Leben erhielt. Wenn ich dann das Becken verließ und über die Reling, auf das schwarze Wasser unter mir blickte, fragte ich mich, ob ich mich auflösen würde, wenn ich sprang. Wie Tinte, die nach und nach im Wasser verblasste.

Würde man sich an mich erinnern?

Wenn ich dann langsam Richtung Steuerbordseite, zurück zu meiner Kajüte schritt und hoch zum Fenster schaute, konnte ich immer zwei eng umschlungene Schemen ausmachen. Ein leises Stöhnen drang an meine Ohren. Noah’s Gesicht blitzte vor meinem inneren Auge auf und der Zauber war gebrochen.

Es war ein kurzer Moment und ich würde ihn in ehren Halten. Bis zum nächsten Abend.

Wir brauchten einander.

Denn wir zeigten uns, dass dies hier kein Traum war, sondern die bittere Realität.

Noch bevor ich die Augen aufschlug wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Es fröstelte mich und ich musste mich zwingen, die Decke nicht noch enger um mich zu schlingen. Ein Wimmern ertönte, doch sobald ich die Richtung ausmachen wollte, verstummte es wieder. Schatten huschten über die Wände, obwohl ich doch nur einen besaß.

Ich stand langsam auf und zog die zusammengeflickte Decke fest um meine Schultern. Mein Atem hinterließ eine weiße Wolke und meine Muskeln verkrampften sich.

Ich riss die Tür zur Kabine auf und trat hinaus auf den Flur.

Es war still, wie an einem kalten Wintermorgen. Selbst der Dschungel schien zu schlafen.

Ich setzte einen Fuß vor den anderen und betrachtete die dunklen Wände um mich herum. Die Kälte des Metalls fraß sich in die Fußsohlen und ich beschleunigte meine Schritte.

Dann kam der Schrei. Jede Faser meines Körpers spannte sich an. Er ging mir durch Mark und Bein, obwohl mir dieser Laut nicht neu war.

Ich hastete die Flure entlang, in der Hoffnung, weitere Geräusche würden mir den Weg weisen, denn ich wollte nicht schon wieder zu spät kommen. Meine Füße waren bereits wund vom Schutt, der überall den Boden bedeckte.

Doch beim Anblick der regungslosen Gestalt, die vor mir auf dem Boden lag, war jeglicher Schmerz vergessen.

Mir gefror das Blut in den Adern, als ich den Schatten wahrnahm, der über ihm schwebte. Die Konturen waren verschwommen, es lag ein Flimmern in der Luft, als gäbe es eine Verzerrung im Raum. Was jedoch klar zu erkennen war, waren die Klauen, die sich aus den schwarzen Schlieren formten und wie Obsidian glänzten. Ohne darüber nachzudenken, rannte ich hinaus aufs Oberdeck.

Ich schlitterte über das Holz und ging neben Noah auf die Knie, ohne den Schatten zu beachten. Ich ergriff seine Hand, welche bereits kaum noch Wärme besaß.

Immer wieder musste ich mit ansehen, wie meine Mitmenschen dem Wahnsinn verfielen. Ihr Blick wurde immer leerer und irgendwann verschwanden sie ganz. Von ihnen blieb nichts, als ein durchdringender Schrei, der das Letzte war, was uns von ihnen in Erinnerung blieb und jedes Mal tagelang in meinem Knochen nachhallte.

Diese Welt folgte wenigen logischen Gesetzen, doch wie in jeder blieb der Tod gleich, egal auf welche Weise er eintrat.

Auf wundersame Weise waren wir dem Tod entkommen und doch fingen uns seine Lakaien nach und nach ein.

Zornig schaute ich auf den Schatten, der seine Hand nach ihm auszustrecken schien.

„Nein!“ ,fauchte ich und zog Noahs Körper näher an mich heran.

Wie oft wanderte ich nachts durch die Gänge und hoffte, einem von Ihnen zu begegnen. Wie oft hatte ich Fragen, welche immer unbeantwortet blieben. Ich streckte dem Schatten meine zitternde Hand entgegen. Ich spürte, wie er zögerte, doch dann schlangen sich die schwarzen klauenartigen Schemen um mein Handgelenk und ich konnte den Schrei nicht länger unterdrücken.

Kalte Gefühle überrollten mein Bewusstsein, Eis zog sich durch meine Venen wie kleine Nadelstiche und mein Körper krümmte sich.

Ich sah Bilder, die in einem milchigen Weiß wieder verblassten. Sich verflüchtigten wie Rauch. Bilder eines sanft lächelnden jungen Mannes, dessen volle Lippen ich nur zu gut kannte.

Sah zu, wie die Wärme seiner Augen einer Härte wich, für die auch ich oft genug verantwortlich war.

Doch auch die Härte, schien irgendwann einer Leere Platz zu machen. Der Leere, vor der ich mich immer gefürchtet hatte, sie auch bei ihm zu sehen. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Er hatte aufgegeben. Er hatte sich von dem Schatten für einen kurzen Moment vereinnahmen lassen.

Für einen kurzen Moment wollte er jegliche Verantwortung abgeben, auch für sein eigenes Leben.

Ich spürte die Verzweiflung, nichts ausrichten zu können, wenn jemand dem Wahnsinn verfiel, ich spürte diese Wut und diese Leere, die ich ausfüllen wollte, egal auf welche Art und Weise.

Doch ich teilte sie mit ihm. Ich würde sie immer mit ihm teilen, denn wir beide waren der Anker, der uns in der Realität festhielt. Und ich würde nicht aufgeben.

Ich riss meine Augen auf und starrte dem Schatten in die roten Augen, die in der Dunkelheit zu glühen schienen. Glühende Asche.

Der Griff um mein Handgelenk verstärkte sich, bevor er mich zur Seite riss und ich gegen die Reling knallte. Doch ich ließ Noahs Hand nicht los. Wenn, musste er uns beide mitnehmen, doch Noahs Leere würde niemals für uns beide reichen. Ich schrie, als sich die Schemen um meinen Hals schlangen und wieder diese eisige Kälte durch meine Venen rollte, doch auch das starke Zittern und die Schmerzen würden mich nicht zwingen, loszulassen.

„Noch bist du nicht allein“ ,schrie ich mehr zu mir selbst, doch eigentlich war es für Noah bestimmt.

Es war für uns beide bestimmt, denn jedes Mal, wenn ich seinen Blick erwiderte, hatte ich Angst, in einen Spiegel zu schauen und dort dieselbe Hoffnungslosigkeit zu sehen, die ich tief in meinem Inneren verbarg.

„Noch nicht“ ,keuchte ich. Das tiefe Grollen klingelte mir in den Ohren, bevor der Schatten spurlos verschwand.

Zitternd versuchte ich, die klamme Jacke loszuwerden, um Noah behelfsmäßig einzuwickeln.

Ich zog ihn mit letzter Kraft Richtung Gang, um dem Wind etwas zu entkommen.

Mit einem letzten Fluchen hievte ich ihn zwischen meine Beine und lehnte seinen Oberkörper an meine Brust. Ich presste ihn an mich, als wäre er mein Rettungsanker.

Verzweifelt versuchte ich meine Hände an meiner Haut zu wärmen. Ich musste durchhalten, bis diese Morgenstunden vorüber waren.

Wenn ich aufgab, gingen wir beide drauf. Ich zählte in Gedanken die Nieten an den Schiffswänden. Dann die lila Blüten über unseren Köpfen.

Mit der fortschreitenden Zeit machte sich auch die Unterkühlung bemerkbar. Meine Zehen wurden langsam taub. Immer wieder sah ich über die Schulter zum Horizont. Betete dem ersten Sonnenstrahl entgegen. Meine Lider wurden immer schwerer und jede noch so kleinste Bewegung verlangte mir alles ab.

Würde er es mir vorwerfen, wenn ich starb und er überlebte?

Oder würde er mich bereits in der Hölle erwarten?

Was sonst sollte uns nach diesem Ort hier im Jenseits auch anderes erwarten.

Ein sanftes Summen erfüllte meinen Kopf. Die Abfolge immer gleichklingender Töne wiegte mich sanft ins Abseits.

NARYA