Ich weiß nicht, wann es passiert ist. Vielleicht, als wir zusammen in Happyland gewesen sind. Oder als wir Riverside besucht haben. Oder irgendwo an einem der anderen tausend Orte, an denen wir gewesen sind.

Vielleicht sollte die Frage also eher so lauten: Wo ist es geschehen?

Wo habe ich mich in Feng verliebt? Und wo hat er beschlossen, mich zu verraten?

Diese Fragen gehen mir durch den Kopf, während ich im Schlamm liege. Meine Kleidung ist verdreckt und nass. Nicht nur vom Wasser, sondern von meinem Blut. Meinem und das von Feng.

Er liegt neben mir. Tot. Seine Augen sind aufgerissen, starren leblos in den Himmel. Sein Gesicht schneeweiß, alle Farbe ist daraus gewichen. Das Blut an seinen Händen ist inzwischen getrocknet, eine rotbraune Kruste, die seine Hände noch weißer wirken lässt.

Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon liege. Mindestens schon seit sechs Stunden.

Meine Hände sind völlig aufgescheuert. Ich Idiot hab tatsächlich versucht, meine Fesseln zu lösen. Tja, sieht vielleicht in Filmen immer so leicht aus, aber das kann man in der Realität vergessen.

Meine Haut brennt noch immer bei jeder kleinen Bewegung, die ich durchführe. Ich zucke zusammen. Aber selbst, wenn ich meine Fesseln lösen könnte, wahrscheinlich kann ich gar nicht mehr laufen. Meine Muskeln fühlen sich im Moment eher nach einem Ziegelstein an.

Wieder schweift mein Blick zu Fengs Gesicht, zu der Schusswunde mitten auf der Stirn. Man sollte meinen, dass ich mich bei diesem Anblick übergeben müsste, aber wenn man über sechs Stunden neben einem Toten im Schlamm liegt, ist gar keine Galle mehr da, die raus könnte.

Wie bin ich nur hier hereingeraten?

Meine Gedanken schweifen zurück zu dem Moment, an dem ich Feng das erste Mal kennengelernt habe. Irgendeine Bar auf irgendeiner Island, die es wahrscheinlich schon gar nicht mehr gibt. Die meisten Orte haben eine Lebensdauer von maximal einem Jahr, bevor sie im Nirgendwo verschwinden.

Seltsamerweise kann ich mich an fast nichts mehr erinnern. Feng saß an der Bar, oder war es an einem Tisch? Ich strenge mich an, verkneife mein Gesicht, aber die Bilder wollen einfach nicht kommen. Meine Erinnerungen sind wie Schatten, nur einige Schemen, die sich vor der endlosen Finsternis anzeichnen.

Er saß also irgendwo da. Und er trank etwas. Irgendetwas an ihm war anders, das spürte ich sofort, als ich die Bar betrat. Die anderen redeten miteinander, lallten betrunken herum, spielten dumme Spiele. Aber er saß einfach nur da, ich wünschte, ich wüsste, an welchem Tisch.

Und er starrte einfach nur ins Leere, er redete mit niemandem. Ich versuche, mich an seinen Gesichtsausdruck in diesem Moment zu erinnern. Aber auch das ist eine Lücke in meinen Erinnerungen. Wahrscheinlich aber war es ein starrer Blick, fast so wie jetzt gerade.

Ich kam also zu ihm, setzte mich einfach dazu. Hm, es muss doch ein Tisch gewesen sein. Ja, ich glaube, es war ein Tisch, nicht an der Bar.

Über was auch immer wir redeten, alles weg aus meinem Hirn. Aber es muss gut gewesen sein, denn ab da sahen wir uns öfter. Hatte ich mich da schon in ihn verliebt? Hatte er da schon geplant, mich zu verraten?

Manchmal ist es verdammt schwierig, die Ereignisse aus der Vergangenheit zu rekonstruieren. Die Leute sagen, nachher weiß man es immer besser. Ich finde, nachher ist man eher verwirrt. Die Dinge verschwimmen, man kann gar nicht mehr sagen, wann etwas angefangen, wann eine Sache aufgehört hat.

Ich Idiot! Ich liege hier, kurz davor zu sterben, mir ist kalt, ich kann mich nicht befreien, ich werde verbluten und trotzdem mache ich mir Gedanken über solch bescheuerte Dinge.

Vielleicht hatte meine Mutter doch recht. Ich bin ein armseliger, bemitleidenswerter Verlierer geworden, ganz wie sie gesagt hat.

Hätte ich es vorhersehen können? Feng ist in den letzten Wochen ganz unruhig gewesen. Er hat nicht auf meine Nachrichten reagiert, er hat sich nicht mit mir getroffen. Bis er gestern plötzlich angekommen ist und sich in echt mit mir treffen wollte. In Shanghai.

Was wäre geschehen, wenn ich nicht gekommen wäre?

Wahrscheinlich würde er dann trotzdem hier liegen, mit einem Loch in der Stirn, blutverkrusteten Hände. Aber dann wäre er ganz allein hier in dieser dreckigen Gasse, in die sich selbst nicht die unterste Schicht wagt.

Immerhin bin ich bei dir, Feng.

Liebe ist das größte Arschloch. Sie macht einem am Anfang so schöne Hoffnung, ist wie ein weiches Kissen, als wäre man in Watte gepackt, so schön mollig und warm. Sie ergreift Besitz von dir, lässt dich dumme Dinge tun. Und dann, wenn du es so richtig verkackt hast, lässt sie dich allein. Einfach so. Und dann liegst du in so einer Gasse wie ich und darfst verrecken. Und wenn sie dich verlässt, dann tritt sie dir noch einmal richtig in den Bauch. So stark, dass dir die Luft wegbleibt, dass du nicht atmen kannst, dass dir die Tränen kommen. Dieser Schmerz.

Schlimmer ist nur die Leere danach. Wenn du bemerkst, dass sie ein Loch in dich hineingerissen hat und niemand da ist, um es zu stopfen.

Meine Geschichte ist auch nicht besonders. Wobei, ich bin besonders idiotisch gewesen. Ich habe Feng vertraut. Auch als er gemeint hat, mit mir zum Hafen zu fahren. Auch als wir uns heimlich an den Sicherheitskontrollen vorbeigeschlichen haben. Sogar als er gemeint hat, er würde mir ein paar Freunde vorstellen.

Ich weiß nicht mal, warum ich das alles geglaubt habe. Ich meine, ich kenne all diese Geschichten. Aber ich habe nicht nachgedacht. Einfach gar nicht. Nicht mal versucht habe ich es.

Tja, stellte sich, dass die Freunde von Feng mit Waffen und was weiß ich noch gehandelt haben. Und dass Feng hohe Schulden hatte. Er hat einen Deal machen wollen, aber sie haben ihn erschossen, ohne ihn auch nur anzuhören. Mich haben sie angeschossen und dann gefesselt. Keine Ahnung, wieso. Diese Typen sind nicht vernünftig, die handeln häufig impulsiv.

Mein Blick schweift wieder zu Fengs Gesicht. Ich schließe die Augen, stelle mir seine Augen lebhaft vor. Aber selbst das misslingt mir, es ist, als hätte er nie gelebt, als hätten seine Augen nie etwas anderes ausgestrahlt. Vielleicht haben sie das ja auch nicht. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich ihn jemals richtig lachen gesehen habe. Also nicht nur den Mund verziehen, sondern so richtig. Sodass sich die Augen verziehen, dass sie Freude ausstrahlen.

Ich kann mich nicht einmal mehr an unsere Küsse erinnern. Die Gefühle, die Bilder, sie entgleiten meinen Finger, rutschen einfach hindurch und ich kann sie nicht aufhalten.

So ist das, wenn dich die Liebe verlässt. Wenn sie dich im Dreck zurücklässt, du ihr hinterher siehst, wie sie weggeht, sie anbettelst, dass sie dir zumindest etwas da lässt.

Ich blinzele. Plötzlich taucht ein Schatten vor meinen Augen auf. Ist es jetzt so weit? Werde ich jetzt sterben?

Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich zucke zusammen.

Und dann taucht ein Gesicht vor meinen Augen auf. Ein junger Mann kniet vor mir, direkt neben der Schlammpfütze, in die sie mich hineingeschmissen haben.

»Geht es dir gut?«

Ich verziehe mein Gesicht zu einem Grinsen. Was für eine idiotische Frage?

Der junge Mann lächelt. »Sorry, dumme Frage.« Und plötzlich ist es wieder da. Dieses weiche Kissen, das einen umhüllt, dieses warme, angenehme Gefühl. Aber dieses Mal fühlt es sich gefährlich an, wie ein Feind im eigenen Körper.

 »Warte, ich helfe dir.« Er holt ein Taschenmesser heraus, durchtrennt meine Fesseln. Dann hält er mir die Hand hin.

Eine Zeit lang starre ich einfach nur darauf. Wäre es nicht besser, hier einfach zu sterben? Wie lange, wie oft noch will ich das wieder durchmachen?

Aber dann ergreife ich doch die Hand.

»Ich bin Wang.« Er grinst wieder.

Ich lächele zurück. Also wieder alles auf Anfang.

Er zieht mich hoch, heraus aus dem Matsch, weg von Feng. Wir rennen. Ich blicke mich nicht um. Meine Entscheidung ist gefallen.

Auch wenn ich weiß, dass Wang nicht anders sein wird als Feng. Auch wenn ich weiß, dass ich nicht anders handeln werde als bei Feng. Dafür ist es schon viel zu oft passiert.

Trotzdem. Noch will ich leben.

Also rennen wir, weg vom Tod, weg von dieser Gasse. Ich frage mich, ob jemand Feng finden wird.

Wang fragt nicht ein einziges Mal nach, was ich in dieser Gasse gemacht habe. Oder wer der Tote neben mir gewesen ist.

Ich frage ihn nicht, warum er mir geholfen hat. Oder warum er in diese Gasse gekommen ist.

Wir sehen uns jetzt jeden Tag. Nicht in echt natürlich. Er lebt in Shanghai, weit von mir entfernt. Aber wir besuchen Happyland oder Riverside oder wie all diese anderen Orte heißen. Ich weiß, dass irgendwann der Tag kommen wird, an dem er mich wieder treffen will. An dem wir uns in Unglück stürzen.

Ich weiß nicht, wann es passieren wird. Oder vielleicht sollte ich besser fragen: Wo wird es passieren? Wo werde ich mich in Wang verlieben? Und wo wird er sich entscheiden, mich zu verraten?

Warum denke ich überhaupt darüber nach? Es wird mir nichts bringen, genauso wie die Male davor.

Nächstes Mal wähle ich den Tod, sage ich mir.

Aber natürlich ist auch das eine Lüge.

»Nächste Mal«, flüstere ich, dann gehe ich.

Ich habe ein Date.