„Memento Mori – Wann sollte man dem Tod Beachtung schenken?“ Die gelben fetten Buchstaben reichten quer über das Titelblatt der Zeitschrift, die eingerissen und verdreckt auf dem Boden vor dem Mülleimer lag. Jemand mit matschigen Stiefeln hatte den Totenkopf breitgetreten und ihm eine neue Farbe verliehen. Nievs Augen glitten mehrmals unbeeindruckt darüber. Komisch, wie unwirklich alles wurde, wenn man solche Fragen einmal auf ihre Grundzüge reduzierte. Das schnelle oder für manche weniger schnelle Hinwegdriften in ein anderes Sein oder besser in ein anderes Universum bekam in letzter Zeit immer wieder mehr Aufmerksamkeit. Ein Revival á la Crop-Top und Low-Rise-Jeans, wenn man es so wollte. Spätestens seit Tao Chos Thriller-Crime-Serie war die Beachtung des täglich-sterben-könnens und der Tod an sich mit all seinen creepy Facetten also wieder mal voll angesagt.

Niev wandte ihren Blick ab und begann wieder die Frau im Spiegel zu fixieren, die sie müde aus erschöpften, tiefschwarzen Augen ansah. Ihr Spiegelbild wirkte seit dem letzten Mal irgendwie um Jahre gealtert. Äußerlich begann sie immer mehr ihrem entfremdeten mütterlichen Zweig zu gleichen, schlimm genug, dass sie vom Wesen her schon ganz ihr Vater war. Ansätze von Augenringen begannen sich bereits über ihren Wangen abzuzeichnen und ihre Lippen waren spröde und blass. Allgemein wirkte ihre Haut bleich und unrein, was so gar nicht üblich für sie war. 

Niev schloss die Augen und lehnte sich auf das kalte gelbweiße Becken vor sich gestützt nach vorne, während sie ihr Kinn auf ihre Brust legte.

Mauro hatte sie die 64ste hochgefahren bis ins Village. Down Town lag mittlerweile über zwei Stunden hinter ihnen.

Sie hatte ewig nicht mehr richtig geschlafen, geschweige denn gegessen, hatte ihr eigenes Spiegelbild ewig nicht gesehen. Die meisten Toiletten an Schnellstraßen, besaßen so einen Luxus wie Spiegel nicht. Da war dieses halbwegs geputzte Dinerklo eine willkommene Abwechslung. 

Niev ließ kaltes Wasser über ihre Hände laufen und strich sich mit dem nun feuchten Handrücken die Schweißperlen von der Stirn. Er wartete draußen vor dem Eingang. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie selbst von der Toilette aus sein Herz schlagen hören. 

Sie öffnete ihren Dutt, wuschelte sich kurz durch die langen, braunen Locken und band sie sich wieder zu einem Knoten zusammen. Nach einem letzten Blick in den Spiegel folgte sie dem Lärm eines alten TVs wieder zurück ins Diner. Die Frau hinter der Theke starrte gelangweilt auf den Bildschirm, der in der oberen Ecke hing, und schenkte ihr keine Beachtung. Durch die matten, ungeputzten Glasfenster konnte sie Mauro neben seinem Truck auf und ab gehen sehen. Typisch Fuchs. Nicht fähig, einmal ruhig auf seinem Hintern sitzen zu bleiben und die frische, klare Nacht zu genießen. Niev ging zu der Frau rüber, die sie erst nach einigen Sekunden bemerkte und ihr daraufhin einen fragenden Blick zuwarf. „Zwei Sandwich zum Mitnehmen, bitte … äm … und ne kleine Coke.“ Sie schob ihr einen Schein über die Theke und verließ wenig später mit ihrer Bestellung und dem Wechselgeld den Laden. 

Der kühle Wind trug einen Geruch von Gummi, Öl und Axe Bodyspray an sie heran, während sie den kurzen Weg über den kleinen, leeren Parkplatz ging und auf Mauro zusteuerte. Der wiederum war immer noch dabei, Runde für Runde um seinen alten Truck zu drehen. Er liebte dieses Fahrzeug, das gleichzeitig auch seinen einzigen Besitz darstellte. Als er Niev erblickte, blieb er stehen und seine, roten, felligen Ohren spitzten in die Höhe. „Na endlich. Wieso hat das denn so lange gedauert, mh? Ich hab Knast man.“ Er ging schnellen Schrittes auf sie zu und griff gierig nach einem eingepackten Sandwich.

„Sorry. War noch auf Klo.“

„Wie immer. Weiber und das Klo.“ Er rollte auffallend mit seinen senfgelben Augen, während er in der nächsten Sekunde seine spitzen Zähne in das belegte Brot schlug.

Niev boxte ihn an die Schulter. „Pass ja auf, was du sagst. Wir Weiber haben mehr drauf, als du denkst. Vergiss das nicht.“

Er grinste mit vollem Mund und seine roten Kringellöckchen tanzten um seine markanten Züge, während er seine Augen zu kleinen Schlitzen verzog. Niev schüttelte nur den Kopf und drängte sich an ihm vorbei zur Beifahrerseite. Der rostige Griff des alten Trucks klemmte und so brauchte sie mehrere ruckartige Anläufe, bis die Tür aufsprang und sie sich hineinsetzen konnte. Wäre das Fahrzeug von außen nicht so vergilbt und rostig gewesen, hätte man meinen können, er stammte aus diesem Jahrhundert, so gepflegt und sauber, wie er von innen war. Sie wusste, dass Mauro besonderen Wert auf eine saubere Umgebung legte. Vor allem sein Truck war ihm heilig. Schließlich schlief er auch darin.

Im nächsten Moment zog er die Fahrertür auf und zwängte sich hinters Steuer. „Was denkst du? Zwei Stunden?“ Niev beobachtete aufmerksam seine mit Sommersprossen bedeckten Züge. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und begann dann leicht zu nicken. „Joa, denke. Könnten so um 3 in Cully sein.“ Ihr Blick wandte sich von ihm ab, als er den Schlüssel im Schloss umdrehte und der Truck zu ächzen anfing, bevor er ruckartig begann nach vorne zu rollen. „Gut“, hauchte sie und holte ihr Sandwich aus der Packung.

Die weitere Fahrt verlief ruhig. Die flache Landschaft zog an ihnen vorbei, wie eine nie endende Schleife aus Kornfeldern und Wiesen mit oder ohne Zaun, mit oder ohne Klatschmohnflur. 

Die nächtliche Dunkelheit verhinderte eine weiträumige Sicht, gab dem Ganzen aber zusätzlich noch ein Gefühl von Ungewissheit, das sich nun auch begann in Niev breit zu machen und sie davon abhielt, einfach die Augen zu schließen und eine Weile in leichtere Träume zu entschwinden. Sie musste in Cully ihre Versprechen einlösen. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie hielt sich an das, was sie versprach. Die Stadt an sich war dabei nicht einmal das Problem. Cully lag beinah wie gemalt weiter draußen am Meer, hatte einen wunderschönen Küstenstreifen und hohe Klippen, an denen man das Gefühl bekommen konnte, dem Himmel etwas näher zu sein. Aber es war auch noch für etwas anderes berühmt. Denn dort gab es das Ökologische Wissenschaftsinstitut für Artenvielfalt und Gesellschaftsgeschichte allen Lebens, kurz W-A-G. Der Politiker Gregory Simon war dort zur Uni gegangen und auch fast das gesamte Wissenschaftsteam um Belinda Connor. Alles große Namen im Weltgeschehen. Doch Niev hasste den Gedanken irgendwie, genau an dem Ort zu studieren, auf dem allerlei Aufmerksamkeit lag. Sie konnte Aufmerksamkeit im Kleinen schon nicht leiden: Die Blicke der Mensch am Straßenrand, wenn sie vorbei ging, die Blicke der Wesen, die wussten, wer oder was sie war. Es gab selten einen Tag, an dem sie nicht spürte, wie sehr die Vergangenheit auch die Gegenwart bestimmte. Auch noch im 21. Jahrhundert.

Im nächsten Moment drehte sie ihren Kopf, den sie an die Stütze gelehnt hatte, zu Mauro. Der Fuchs sah konzentriert nach vorne auf die Straße, die sich weiter und immer weiter geradeaus erstreckte und nicht zu enden schien. Ab und an runzelte er seine Stirn, dann fuhr er wieder mit der Zunge über die Lippen. „Und du willst da wirklich hin?“ Seine Stimme durchdrang die Stille wie ein Knall.

Niev zuckte zusammen, obwohl sie bemerkt hatte, dass er zum Sprechen ansetzte. „Ich hab’s versprochen. Ich will nicht, aber ich werd’s versuchen.“

„Und ich dachte immer so ne High-Society-schaut-her-was-wir-können-es-is-alles-gut-Integrations-Weltpolitik-Fortschritts-Uni wäre nichts für dich. Da hat dich Tante Hara aber schnell überzeugen können.“

Niev presste ihre Zähne zusammen und sah wieder aus dem Fenster. „Is es auch nicht. Ich geb den Zettel von ihr ab, sprech mit der Bekannten von ihr und sag nächsten Sommer, dass es nichts mehr für mich is. Die Zehn Monate werd ich überleben.“

Mauro begann zu lachen. „Zehn Monate. Klingt wie Knast!“ Sein Grinsen zog sich fast bist hoch zu seinen plüschigen Ohren. „Echt Mal. Kannst immer anrufen. Ich hol dich da raus und bring dich wieder Down Town zu Joe und den andern und so. Die dort werden niemals verstehen, wer du bist, für was du kämpfst und was du uns allen bedeutest. Du machst was für die Leute, Niev. Du brauchst keinen Abschluss dafür von irgend ner dummen Ökouni. Wir wissen, was du kannst, und du bist verdammt gut darin.“

Nievs Blick wanderte wieder zu Mauro. „Danke Mo. Aber …“ Sie stockte und murmelte, mit dem Kopf an die kalte Scheibe gelehnt, „vielleicht bringt es mir ja was.“

Mauros Gesichtsausdruck wurde düster. „Ich sag‘s dir ganz im Ernst. Die im Institut denken, sie hätten alle Probleme der Gesellschaft im Blick und wüssten, wo es klemmt. Aber dass die Gleichstellung noch nicht ansatzweise so weit is, wie die es sagen, das wissen nur die, die es erleben. Leute wie du und ja auch Joe und Esti. Ich bin da bei euch ja auch nur reingerutscht. Ihr wart so nett, mich bei euch aufzunehmen, als ich weg bin von zu Hause. Wenn es nach meinem Dad gegangen wäre, wäre ich immer noch in der Welt dort und wäre nich meinem Herzen gefolgt und hätte angefangen Kunst zu machen. Ich säße in nem Großraumbüro oder Labor wie er mit anderen Füchsen oder Katzen oder mit Waldfeen auf’m Amt oder gar bei Menschen als Berater in irgendeiner Firma, weil ich ja zu dumm bin, um das Ding selber zu leiten. Die haben se doch nicht mehr alle.“ Mauro zeigte, den Blick wieder auf die Straße gerichtet, symbolisch einen Vogel. Er war ein hitziger Typ und hatte seine eigene Meinung. Aber er blieb auch immer ruhig, schrie nie, wurde nie laut. Auch ein Grund, warum er für Niev in den letzten Monaten immer eine Stütze darstellte. Manchmal war allein er es, der ihr den nötigen Mut zusprach, weiter ihren Blog zu schreiben, weiter auf Lesungen zu gehen und die Dinge anzusprechen, die keiner ansprach. Oder das zu tun, was niemand sonst tat. Für Ruhe und Selbstbestimmung.

Es folgte eine Weile Stille. Mauro starrte wieder auf die Straße und Niev, mit dem Kopf weiter an der Scheibe, auf die vorbei rauschenden Felder. 

„Am Ende is es deine Entscheidung.“ Sein Blick lag nun voll und ganz auf ihr. „Hauptsache du vergisst niemals, wer du bist. Das is wichtig. Mach da was. Lern da was. Kämpf weiter okay? Keine Sorge um deinen Block. Esti übernimmt das.“

Niev schluckte. „Du sprichst, als würden wir uns nie wieder sehen.“

Er atmete hörbar aus. „Naja. Wer weiß. Die Welt is im Flow. Die Welt verändert sich. Wir verändern uns.“

Jetzt verdrehte sie die Augen. „Ach komm. Zehn Monate.“

„Wie gesagt. Wer weiß.“ Sie konnte ihm ansehen, dass ihm die ganze Sache ziemlich nah ging. Und ja, auch sie hatte bereits darüber nachgedacht, dass sie ihre Freunde erstmal nicht sehen würde, wenn sie sich wirklich dazu entschied, am Institut zu studieren.

Im nächsten Moment tauchten die ersten Lichter einer Stadt am Horizont auf. In der Dunkelheit wirkten sie beinah wie gefallene Sterne und egal wie oft Niev diese Straße nach Cully schon gefahren war, war es doch irgendwie immer wie ein Besuch in einer anderen Welt. Dafür reichten die knappen vier Stunden Fahrt auf jeden Fall aus. Die Küste und die großen alten Häuser hatten einen beinah befriedigenden Charme. Wie in einem Kitschfilm, bei dem der Protagonist verliebt am Strand entlang ging und nebenbei Philosophie studierte. Selbst die Uni passte irgendwie ins Bild. Eine große helle mit Stuck verzierte Außenfassade, ein schicker Innenhof und Leute, die irgendwelche Titel besaßen, adlig oder akademisch. Egal.

„Soll ich dich genau davor fahren? Oder warten wir bis so gegen 7?“

„Fahr mich einfach hin. Da is immer was los. Und soweit ich weiß, is die Bekannte von Hara in echter Meinung des Wortes ’schlaflos‘.“ Sie zeichnete Gänsefüßchen in die angenehme Wärme des Trucks. Aber Mauros Mundwinkel zuckten nicht. Er starrte einfach weiter auf die Straße und als das Stadteingangsschild an ihnen vorbeirauschte und er das Tempo des Trucks reduzierte, wurde Niev immer mehr bewusst, auf was sie sich eingelassen hatte. Sie würde ihn und die andern wirklich lange nicht sehen. Sie müsste neue Leute kennenlernen, ohne davon auszugehen, dass sie überhaupt mit ihr reden, geschweige denn befreundet sein wollten. Es war wieder wie immer. Bei ihrer Tante aufzuwachsen, fern ab von der eigentlichen Lebensweise eines Metamorphs hielt andere Leute nicht zurück, zu denken, was sie nun mal immer dachten. Der bösen alten Zeiten wegen. Und das alles hatte für Niev das Potenzial, äußerst unangenehm zu werden.

Tia Bibra