Schritt für Schritt tastete ich mich vorwärts. Einen Fuß vor den anderen setzend.
Den Blindenstock vor mir her schwingend, verursachte ich immer wieder klackernde Geräusche, wenn er auf Hindernisse traf. Es erinnerte mich an Frank, wie er mit seinem Ball aus Plastik im Zimmer herumtobte. Bei dem Gedanken musste ich lächeln.
Plötzlich blieb ich stehen, die Erinnerungen hatten mich für einen kurzen Moment abgelenkt, doch ich war mir sicher. Hier musste es gewesen sein. Vorsichtig tastete ich nach dem Tisch, den ich vor mir stehend vermutete. Bevor ich blind nach dem Stuhl griff, hielt ich nochmals kurz inne.
Rechts von mir konnte ich einen Lufthauch wahrnehmen und verstärkte Geräusche des Straßenlärms. Erinnerungen konnten trügen, doch ich war mir sicher, dass das hier mein Stammplatz war, den ich so sehr vermisst hatte. Ich zog mein Handy und das Portmonee aus meiner hinteren Hosentasche und legte sie vorsichtig auf den Tisch, bevor ich mich langsam hinsetzte. Zu oft hatte ich mich aus Gewohnheit plumpsen lassen und war mit dem Hintern auf dem Boden gelandet und das nicht gerade sanft.
Langsam machte sich die Nervosität in mir breit, ich wischte meine feuchten Hände an der Jeans ab und fuhr mir durch die kurzen Haare. Ich war froh, dass ich sie abgeschnitten hatte, sonst würden sie mir wahrscheinlich auch noch feucht im Nacken kleben. Würde mich hier jemand erkennen?
Um mich abzulenken, strichen meine Fingerspitzen über die Tischplatte, in der Hoffnung, eine kleine Gravur in Form eines Tropfens mit einer dazugehörigen Schrift zu finden . Minuten verstrichen und Enttäuschung machte sich in mir breit. Ich war so oft hier gewesen, immer zielstrebig an denselben Platz gelaufen. Es war eine Gewohnheit, die mir Sicherheit im sonst so chaotischen Leben gab, doch jetzt schien es mir, als hätte es sie nie gegeben.
Amaurosis. Dieses Wort geisterte mir schon seid einiger Zeit im Kopf herum. Der Fachbegriff für Blindheit.
Ich musste unweigerlich seufzen. Für vieles hatte man kein offenes Ohr und noch weniger Interesse, solange es einen selbst nicht betraf. Dass man auch im Laufe des Lebens durch Krankheiten erblinden konnte, darüber hatte ich mir nie Gedanken gemacht. So in meinem Kopf versunken, registrierte ich erst spät das mir mittlerweile vertraute Geräusch des Blindenstocks.
Ich spannte mich automatisch an und wagte kaum zu atmen. Die Hintergrundgeräusche kamen mir plötzlich so laut vor.
Ich vernahm die schnellen näher kommenden Schritte und vermutete, dass es die Bedienung war, was sich im nächste Moment bestätigte.
„Hallo, kann ich Ihnen behilflich sein? Sind sie mit jemandem verabredet?“
Ihr Ton wirkte fröhlich und hilfsbereit.
„Ich bin mit jemandem verabredet. Sitzt hier zufällig irgendwo ein einsamer Mann?“ Sie lachte und ich konnte nicht sagen, ob sie ihre Situation mit Humor nahm oder sie wirklich nichts dagegen hatte, nicht zu sehen, wohin sie musste. Oder vielmehr zu wem.
Ich hatte dem Treffen erst nach einer ganzen Weile zugestimmt.
Jemand aus meinem Freundeskreis kannte jemanden, der wiederum jemanden kannte. Wie man es halt so kennt. Immer wieder fielen Sätze wie: Vielleicht hilft es dir, mit Gleichgesinnten zu reden. Oder vielleicht lernst du etwas dazu. Vielleicht kommst du dann besser mit der Situation klar.
Es war wie die Empfehlung zu einer Selbsthilfegruppe.
Ich spürte, wie ich die Lippen vor Wut zusammenpresste, und versuchte aktiv wieder locker zu lassen und durchzuatmen.
Ruhig Blut. Ich hatte bei dem Ganzen nichts zu verlieren. Es war wie ein Date. Nur ohne dass ich wusste, wie mein Gegenüber aussah, geschweige denn wie ich selbst gerade überhaupt aussah.
Plötzlich vernahm ich ein zurückhaltendes Räuspern neben mir und zuckte erschrocken zusammen. Hatte man mich schon angesprochen?
„Du musst Zac sein, nehme ich an? Ich bin übrigens Sophie.“
Die vorhin vernommene Stimme klang nun deutlich näher und klarer. Wie konnte ich nicht mitbekommen haben, dass sie bereits neben meinem Tisch stand? Ich nickte nur stumm und hätte mir danach direkt an die Stirn packen können. Am liebsten hätte ich einen Witz gerissen, um meine Unsicherheit zu überspielen. Vielleicht nach dem Motto, woher sie das den wissen sollte. Bei dem Gedanken, dass die Wahrscheinlichkeit nicht sehr groß war, in diesem Moment hier zwei einsame Männer mit Blindenstock anzutreffen, biss ich mir auf die Lippen.
Bis ich meine Stimme wiedergefunden hatte, richtete ich mich etwas auf, um nicht ganz den Anschein eines Häufchen Elends zu vermitteln, obwohl sie auch dies nicht mitbekommen würde. Stattdessen würde sie vielleicht sogar denken, ich würde vor Nervosität auf meinem Platz rumrutschen.
„Ja, setz dich doch bitte. Ich habe mit dem Bestellen auf dich gewartet.“
Sie lachte abermals und ich hörte wie der Stuhl mir gegenüber verschoben wurde. Es war ein durchdringendes Kratzen von Metall über Holzboden. Ein Windhauch kam durch das geöffnete Fenster und ich konnte einen dezenten Hauch von Parfum wahrnehmen. Eine leichte Süße, gepaart mit etwas Floralem.
„Kannst du mir etwas empfehlen?“
„Wie bitte?“ Ich stand förmlich auf dem Schlauch. Hektisch registrierte ich, dass sie ja nicht wissen konnte, was es hier gab. Es war mein Lieblingscafé, doch ich hatte mir keine Gedanken über Sachen gemacht, die für mich immer selbstverständlich waren. Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg, was nicht dem Wetter zu verschulden war.
„Den Kaffee kann ich nur empfehlen, die haben eine professionelle Siebträgermaschine. Die machen sogar Bildchen in den Milchschaum.“ Schon biss ich mir wieder auf die Lippe, um meinen Redefluss zu stoppen. Was redete ich denn da? Sie konnte sich die Bildchen schließlich genauso wenig anschauen, wie ich mittlerweile.
Nüchtern führte ich fort „Die Kuchen sind auch immer super, obwohl ich mich da erst erkundigen würde, was es auf der Tageskarte gibt. Die wechselt nämlich ständig.“
Ich vernahm ein belustigtes Schnauben. Die schien sich zu amüsieren, während ich mich hier um Kopf und Kragen redete und wahrscheinlich noch das ein oder andere Fettnäpfchen mitnahm.
Nachdem wir bestellt hatten und ich endlich etwas hatte, um meine Hände zu beschäftigen, nippte ich beruhigt an meinem Kaffee. Nach dem stereotypischen Smalltalk ließ ich mich von den umgebenden Gesprächen ablenken und hörte einfach eine Weile zu. Es hatte was, sich einfach von den Geräuschen treiben zu lassen, das Klappern der Tassen und Teller. Die Schiebetür zur Küche, die ständig auf und zu ging. Die Küchengeräusche, die dadurch wie Wellen immer wieder heran getragen wurden.
„Wie findest du dich mit der Situation zurecht? Hast du vielleicht Fragen?“ Und da war sie. Die entscheidende Frage zum Einstieg in das Thema, was ich zu gern verdrängen würde. Zu einer Gewohnheit machen würde, ohne dass ich noch drüber nachdenken musste.
Meine Stimmung kippte augenblicklich.
Ein bohrendes Schweigen entstand, bevor ich mich zu einer Antwort durchringen konnte.
„Was sollte ich da schon für Fragen haben.“ Ich wusste, dass meine Reaktion unangebracht war und ausweichend. Dies war der Grund, warum ich dem Treffen überhaupt zugestimmt hatte, doch zuzugeben, dass ich mit dieser Situation überhaupt nicht zurechtkam, konnte ich mir nicht eingestehen.
Es war wie eine innere Blockade, als würde ich mir erhoffen, dass sich dieses Problem irgendwann von alleine beheben würde. Es hatte sich vieles verändert. Von meinem Augenlicht mal abgesehen. Man musste an alles anders herantreten. Ich benutzte häufiger Siri als früher oder auch Alexa, alles Hilfestellungen für die Erinnerung an Termine und dergleichen. Als wäre ich ein unstrukturierter Mensch, der alleine nichts mehr auf die Kette kriegen würde.
Sie ging nicht darauf ein. Meine abweisende Bemerkung schien einfach an ihr abgeprallt zu sein. Die Tasse klirrte, als sie wieder auf den Teller abgesetzt wurde.
„Ich möchte kein Selbsthilfegespräch mit dir führen.“ Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, doch ein großes Aber stand in der Luft und ich horchte auf.
„Ich sehe es eher als aktives Entdecken und Ausprobieren. Es gibt so viele Apps und Technik, die auch andere verwenden, nur aus Faulheit. Warum dürfen wir uns nicht auch an ihnen bedienen? Nur weil wir sie vielleicht wirklich nötig haben?“ Sie schnaubte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, ich spürte die Wut in mir hochkochen, ohne dass ich es wollte oder verhindern konnte.
Der ganze Frust hatte sich in mir angestaut. Ich wollte mich mit der Situation nicht anfreunden, ihr auch nichts Positives abgewinnen.
„Hast du keine anderen Themen auf Lager?“
„Willst du vielleicht über das Wetter reden?“, erwiderte sie sarkastisch.
Ich hielt inne. Natürlich war ihre Reaktion gerechtfertigt, doch war es schon immer anhand der Stimme so offensichtlich, dass eine Frau angepisst war?
Das Adjektiv bissig kam mir in den Sinn. Ich merkte selbst, dass ich auf Streit aus war und musste mich zusammenreißen, nicht darauf einzugehen und ihn vom Zaun zu brechen.
Wie wollte ich damit umgehen? Sie stehen lassen und einen coolen Abgang hinlegen, indem ich das Geld auf den Tisch warf und hinausspazierte? Mit dem Blindenstock und der langsamen Suche nach meinen Sachen wohl eher nicht. Womöglich vergaß ich auch noch was und die Bedienung würde mir peinlich berührt hinterherrennen. Ich rang mit mir und dem Gedanken, welchen Weg ich einschlagen wollte.
So offensichtlich es auch war, es brachte mir nichts, vor meinen Problemen davonzulaufen, genauso wenig konnte ich mich hier und jetzt darauf einlassen.
Ich musste mir eingestehen, dass ich Sophie auch nicht vergraulen wollte, für die wenigen Minuten war sie mir doch sympathisch geworden.
„Wie lange hast du gebraucht, um dich an die Blindenschrift zu gewöhnen?“ Es entstand eine kurze Pause. Es war nicht direkt das, was sie erwartet hatte, doch sie nahm es an.
„Ich hatte einen hervorragenden Lehrer in der Innenstadt, die Nummer gebe ich dir gerne weiter.“ Sie prustete etwas los. „Er hatte sich am Anfang oft darüber lustig gemacht, dass ich wie jemand las, der eine komplett neue Sprache lernt. Manchmal war mein Gehirn langsamer als meine Finger und ich registrierte zu spät, was ich eigentlich für einen zusammenhanglosen Unfug von mir gab. Ein bisschen wie Yoda aus Starwars.“
Ich musste bei dem Gedanken grinsen und die Anspannung löste sich allmählich von mir.
Wir saßen noch eine ganze Weile und bestellten uns immer wieder Getränke nach. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie es weitergeht, so hab ich doch wenigstens einen kleinen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Ich lehnte den Kopf etwas weiter nach rechts zum Fenster und genoss die warmen Sonnenstrahlen, während ich mit den Fingern über das Holz strich und gar nicht mehr so enttäuscht darüber war, dass die Einkerbung fehlte.
NARYA
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