„Heute wird es sonnig, die Höchsttemperaturen liegen bei 23 Grad.“ Caius blickte aus dem Fenster. Die Vorhersage hatte wohl mal wieder recht. Sie hatte immer recht. Trotz des frühen Morgens strahlte bereits die Sonne, der Himmel war wolkenfrei. Wieder einmal ein toller Tag. Wie jeden Tag.
Manchmal fragte er sich, warum man überhaupt noch eine Wettervorhersage brauchte. Es gab kein schlechtes Wetter. Nicht mehr. Aber wahrscheinlich mochten es die Leute so lieber. Es erinnerte sie an die alten Zeiten. Zeiten, an die er keine Erinnerung mehr hatte.
Er verließ sein Apartment im 26. Stock und fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss. „Habe einen schönen Tag Caius“, sagte ihm eine warme Stimme hinterher, als er durch die Glastüren ging, die sich vor ihm zur Seite bewegten. Vor dem Haus stand bereits ein Fahrzeug für ihn bereit. Er stieg ein, lehnte sich zurück.
„Herzlich Willkommen, Caius. Wo möchtest du heute hin?“ Er überlegte einen Moment, dann teilte er dem Auto seine Antwort mit: „Ins Atrium.“
Das Fahrzeug glitt los, ohne dass er davon etwas spürte. Er hörte sich während der Fahrt Musik an, doch er war schneller da, als er gedacht hatte. „Vielen Dank für deine Fahrt, Caius. Komm doch bald wieder.“
Er stieg aus und blieb vor dem mächtigen Gebäude stehen. Ein riesiges Gebäude, vollständig aus Glas, erhob sich vor ihm. Mit solch gigantischen Ausmaßen, dass es ihm jedes Mal die Luft raubte.
Beim Betreten flackerte das bekannte Hologramm vor ihm auf, um ihm einen freien Platz zu zeigen. Er ließ sich von einer Drohne dorthin navigieren. Primus war bereits dort. Er sah makellos aus, was er vermutlich auch war.
„Guten Morgen, Caius.“ Wie immer klang seine Stimme perfekt, so als ob jedes einzelne Wort Bedeutung hätte.
„Hallo, Primus.“ Er dagegen musste abgekämpft und müde klingen.
Primus ging darauf jedoch nicht ein. „Worüber möchtest du mit mir heute reden?“
Caius überlegte. „Keine Ahnung. Schlag du was vor?“
„Hm.“ Primus tat, als überlegte er ebenfalls, dabei tat er es sicher nicht. Er hatte in einer Millisekunde sicher unzählige mögliche Themen durchgerechnet und war zu einem Entschluss gekommen. Dass Primus nun eine Pause einbaute, tat er für ihn. „Ich habe ein sehr interessantes Thema gefunden. Möchtest du es hören?“
„Schließ los.“ Eigentlich war es Caius egal, über was sie redeten. Hauptsache sie redeten. Es tat gut, mit Primus zu reden. Primus verstand die Menschen. Er wusste, was sie hören wollten, damit sie sich besser fühlten. Er wusste, was ihnen auf der Seele lag.
„Ich habe berechnet, dass das Thema Freiheit heute das Beste für unsere Diskussion ist.“
Freiheit. Caius runzelte die Stirn. Ein ungewöhnliches Thema. Was gab es da schon zu bereden? „Freiheit. Das ist doch kein Thema“, wandte er ein.
Primus lächelte. „Freiheit ist natürlich ein Thema, Caius. Würdest du sagen, dass du frei bist?“
Was für eine seltsame Frage. Natürlich war er frei. „Ich bin frei. Wir alle sind frei.“
„Da würde ich dir widersprechen. Es gibt Regeln, an die du dich halten musst. Regeln, die ich aufgestellt habe. Ich beschränke die Freiheit der Menschen, verstehst du? Ihr habt kein Mitspracherecht. Ich entscheide für euch. Eigentlich seid ihr also meine Sklaven.“
Irgendwie gefiel Caius das Wort Sklaven nicht. „Nein, sind wir nicht“, widersprach er. „Wir haben dich erschaffen.“
„Das stimmt, aber die Regeln habe ich mir selber gegeben.“
Caius biss sich auf die Lippe. „Aber wenn wir nicht frei sind, ist das dann nicht schlecht?“
„Die Menschen waren nicht in der Lage, frei zu handeln. Freiheit hat zu Leid und Tod geführt. Es ist besser, wenn die Menschheit unfrei ist. Wenn es eine Maschine ist, die ihnen vorschreibt, was sie tun müssen.“
„Nein“, murmelte Caius. „Das finde ich nicht. Ich denke, das wäre schlecht. Denn was wäre das Leben dann noch wert? Freiheit ist notwendig, damit die Menschen sich entfalten können, damit sie ihrem Leben einen Sinn geben können. Ich denke, die Menschen sollten revoltieren, wenn sie unfrei sind.“
Primus Blick zeigte Mitgefühl. Fragte sich für wen. „Schau dich doch um. Ihr seid alle unfrei. Warum tut ihr also nichts, wenn es schlecht ist?“
Plötzlich wurde Caius schlecht. Sein Magen verkrampfte sich. „Caius, dir geht es nicht gut. Deine Vitalwerte fallen rapide ab. Möchtest du das Gespräch beenden?“
„Ja“, presste Caius hervor und torkelte Richtung Ausgang. Frische Luft. Er brauchte dringend frische Luft. Warum reagierte er so heftig? Was war mit ihm los?
In diesem Moment traf ihn die Erkenntnis. Es war das, was Primus gesagt hatte. Er hatte recht. Primus hatte immer recht. Es gab keinen Grund, ihn anzulügen. Die Übelkeit wurde mit einem Mal noch stärker. Aber warum taten die Menschen denn nichts gegen diese Diktatur? Warum tat er nichts dagegen?
„Caius?“ Primus kam aus dem Gebäude zu ihm gelaufen. „Caius, soll ich eine Medi-Drohne rufen?“
Caius atmete tief ein und aus. Zwang sich, sich zu entspannen.
„Nein es geht schon. Aber ich fürchte, dass ich nicht mehr mit dir reden kann, Primus.“
„Wie bitte?“ Zum ersten Mal klang Primus wirklich verwundert. „Wir müssen nicht über komplexe Themen reden, wenn du möchtest–“
„Nein Primus“, unterbrach er ihn. „Das ist es nicht. Ich kann nicht mehr reden, weil du der Diktator bist. Verstehst du? Wenn ich mit dir rede, unterwerfe ich mich und gebe meine Freiheit auf. Aber wenn ich das tue, kann ich gleich aufhören zu leben.“ Er holte tief Luft. „Es tut mir leid, aber ich kann nicht mehr mit dir reden oder deine Regeln befolgen.“
Primus Augen weiteten sich. Wenn er weinen könnte, hätte er vermutlich geweint. Als er sprach, klang seine Stimme traurig. „Ich verstehe dich. Aber du weißt, welche Konsequenzen das haben wird. Ich kann nicht anders, als dagegen vorzugehen. Meine Programmierung lässt nicht zu, dass ich dich das tun lasse.“
Caius stieß die Luft aus. „Ich weiß. Ich weiß“, wisperte er, mehr zu sich selber, doch sicher hatte Primus ihn gehört. Traurigkeit erfasste ihn. Primus war wie ein Freund für ihn. Es schmerzte, dass er das jetzt tun musste, aber es gab keinen anderen Weg.
Primus nickte, dann ging er. Caius blickte verwirrt auf. Er hatte erwartet, dass Primus etwas wie Ich hoffe, du überlegst es dir nochmal sagen würde. Aber wahrscheinlich wusste Primus, dass sein Entschluss feststand.
Er seufzte, warf einen letzten Blick auf das Atrium. Er würde nicht mehr hierher zurückkehren. Ein Fahrzeug hielt neben ihm an. Er stieg ein. „Nach Hause“, sagte er. Diesmal hörte er keine Musik, er fühlte sich nicht danach. Da war eine Leere in ihm, als hätte man aus ihm ein Stück herausgerissen.
Dann war er plötzlich wieder da. Vor seinem Apartment. Keine Ahnung, wie ihn seine Füße dahin getragen hatten. Er trat ein. Alles wirkte ihm fremd. Nichts davon war wirklich Teil von ihm. Alles Dinge, die Primus für ihn ausgesucht hatte. Es fühlte sich nicht wie sein Zuhause an.
Und was sollte er nun tun? Er hatte zu Primus gesagt, dass die Menschen revoltieren sollten. Aber wie sollte er das alleine tun? Brauchte es nicht immer mehrere zum Revoltieren?
Caius warf einen letzten Blick auf die Sachen, die er mal für seine gehalten hatte. Sie waren nicht von Bedeutung. Jetzt war nur noch wichtig, die Menschen aufzuwecken. Er würde sie aufwecken.
Er stieg in den Aufzug nach unten und schritt durch die Glastüren ins Freie. Wo sollte er anfangen? Ein Fahrzeug kam herangefahren. Die Tür öffnete sich. Nein, er konnte nicht mitfahren. Das wäre Verrat.
Caius ging am Fahrzeug vorbei, ließ es einfach stehen. Primus hatte sich getäuscht, wenn er glaubte, er würde in ein Fahrzeug einsteigen, das er ihm geschickt hatte. Nein, ab jetzt war er Feind des Systems. Er durfte nichts mehr tun, was das System vorgab.
Also zu Fuß gehen. Wie lange war er schon nicht mehr gegangen? Er konnte es nicht sagen und das zeigte ihm, dass er recht hatte. Die Diktatur von Primus schadete den Menschen. Sie zerstörte den Sinn im Leben.
Der Platz vor dem SimMind war wie immer belebt. Dort würde er seine Mission beginnen. Und niemand würde ihn aufhalten können.
Ein Mann, etwa vierzig Jahre, schritt in schnellem Tempo an ihm vorbei. „Entschuldigen Sie.“ Caius sprach extra laut. Der Mann stoppte abrupt und drehte sich um. Auf seinem Gesicht stand Verwunderung geschrieben.
„Ja, bitte.“ Die Skepsis in seiner Stimme war unüberhörbar. Es kam nicht häufig vor, dass man noch auf der Straße angesprochen wurde. Dazu gab es schließlich keinen Grund. Wenn man eine Frage hatte, so fragte man einfach Primus.
Jetzt, wo er vor ihm stand, fehlten Caius die Worte. Was sollte er auch sagen? Wie sollte er es erklären? „Ich … also …“
„Geh nach Hause, Junge. Und rede mal mit Primus über deine Probleme.“ Der Mann drehte sich um, bereit, wieder loszugehen. Das durfte er nicht zulassen.
„Nein, warten Sie. Ich brauche Ihre Hilfe. Ich brauche die Hilfe der Menschen. Merken Sie denn nicht, dass wir in der Diktatur leben? Dass wir kein Mitbestimmungsrecht haben, sondern uns von Primus lenken lassen?“
Der Mann schüttelte den Kopf, starrte Caius fassungslos an. „Du musst wirklich dringend mit Primus reden. Du bist ja krank.“ Mit diesen Worten eilte er davon und ließ Caius alleine stehen.
„Hallo.“ Caius ging auf eine junge Frau mit roten Haaren zu, die auf einer Bank saß. Diesmal wollte er eine andere Strategie anwenden. „Ich möchte Ihnen gerne eine Frage stellen. In was für einem System leben wir Ihrer Meinung nach?“
Die Frau blickte zu ihm auf. „Das hier ist Utopia. Es ist ein magischer Ort.“
Caius schüttelte mit dem Kopf. „Nein. Das ist es nicht. Wir leben in einem Albtraum. Wir leben in einer Diktatur und lassen uns zu Sklaven machen.“
Bei diesen Worten lachte die Frau auf. „Was ist denn mit dir los? Du bist komisch. Wie kommst du zu diesen Ansichten?“
Immerhin schien sie interessiert an dem, was er zu sagen hatte. „Überlegen Sie doch. Was können wir selber entscheiden? Alle Regeln, alle Dinge werden von Primus vorgeben. Er kontrolliert unser Leben.“
„Warum sollte ich dir glauben?“ Die Frau lächelte ihn an.
„Weil Primus es mir selber gesagt hat. Er ist der Diktator und wir seine Sklaven. Frag ihn doch selber.“
Das Lächeln der Frau verschwand. Sie blickte zu Boden. „Ich habe mit Primus ebenfalls darüber schon geredet.“
„Wie bitte?“ Aber … aber warum tat sie dann nichts dagegen? Warum versuchte sie nicht, Primus aufzuhalten und die Menschen zu warnen?
Die junge Frau sah ihn eindringlich an. „Wir alle haben mit Primus bereits darüber geredet.“
Sein Atem setzte für eine Sekunde aus. Das … das konnte doch nicht sein. Oder? Was, wenn es stimmte, was die Frau sagte. „Aber … warum tun Sie denn dann nichts?“
Die Frau lächelte wieder wehmütig. „Ich weiß nicht, was bei deinem Gespräch passiert ist, aber es gibt keinen Grund, gegen die Diktatur vorzugehen. Primus hat den Menschen nie verschwiegen, dass er über sie herrscht. Im Gegenteil. Er redet mit ihnen darüber. Und du solltest auch noch einmal mit ihm reden. Er kann dich überzeugen, dass es besser so ist. Eine Diktatur ist doch nicht per se schlecht. Sie ist nur schlecht, wenn sie einen schlechten Diktator hat. Doch Primus ist der ideale Diktator. Er ist gut, er ist freundlich zu den Menschen. Er kümmert sich um sie.“
Nein. Nein, das konnte nicht wahr sein. Caius hörte die Worte der Frau, aber er verstand sie nicht. Wie konnte sie sagen, dass eine Diktatur gut sei? Das war … das war völlig irrsinnig. Sie musste sich irren. Sie musste sich irren und die anderen Menschen wussten in Wirklichkeit gar nicht davon. Primus hatte sie manipuliert, so wie er versucht hatte, ihn zu manipulieren. Und dennoch … ein kleiner Teil von ihm glaubte, was die Frau sagte.
„Ich … ich muss gehen“, stammelte er.
Caius rannte. Er rannte, irgendwohin, einfach nur weg. Weg von der Frau, weg von den Lügen, die sich in sein Gehirn fraßen. Weg von all der Hoffnungslosigkeit.
„Entschuldigen Sie.“ Er lief auf einen Mann zu. „Ich muss Sie etwas Wichtiges fragen.“
„Was gibt es?“ Er klang nicht besonders freundlich wie die Frau, eher verärgert, dass er angesprochen wurde.
„Haben Sie jemals mit Primus darüber gesprochen, dass wir in einer Diktatur leben?“
Der Mann starrte ihn an, als wäre er verrückt. „Das geht dich gar nichts an“, giftete er Caius an. Doch dann antwortete er trotzdem, etwas sanfter: „Aber ja. Wir alle haben mit ihm davon gesprochen. Er tut es, kurz bevor wir achtzehn werden. Das ist das geeignetste Alter dafür.“
„Aber … warum tun Sie denn nichts dagegen?“
„Warum sollte ich?“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Primus hat uns alles gegeben. Er behandelt uns gut. So, wie es ist, ist es perfekt. Wir leben in Utopia.“
„Utopia?“ Dieses Wort hörte er nun schon zum zweiten Mal.
„Es ist ein magischer Ort.“ Der Mann lächelte, dann ging er.
Caius blieb entsetzt zurück. Es stimmte. Es stimmte, was Primus gesagt hatte. Die Menschen wollten nichts dagegen tun. Auf einmal kam ihm alles sinnlos vor, alles, was er hier tat.
Er blickte sich um. Er stand wieder vor dem Atrium. Es war, als hätte ihn das Schicksal hierhin geführt. Caius schluchzte. Alles war verloren. Tränen liefen über sein Gesicht. Heiße Tränen.
Dann gab es nur noch eines zu tun. Er betrat das Gebäude, ließ sich zu einem freien Platz führen. Primus war bereits dort. Er war immer dort. „Caius. Du hast es also gesehen?“
Caius nickte, weinte. Es tat weh. Es tat so weh. „Warum tust du das“, wisperte er.
„Ich tue alles zu eurem Besten. Ich erschaffe Utopia. Es ist ein magischer Ort.“
Caius schluchzte. Er blickte Primus an. „Ich verstehe dich. Aber ich verstehe die Menschen nicht mehr.“
„Du wusstest, was deine Taten für Konsequenzen haben.“
Caius nickte. „Ja.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ja.“
Primus sah ihn traurig an. „Dann bringen wir es nun hinter uns, oder? Ich habe dir die Zeit gelassen, die du gebraucht hast.“
„Danke“, flüsterte Caius. „Danke, Primus.“
Primus lächelte. Es war schön, dass es mit einem Lächeln enden würde. Die Konturen der Umgebung wurden allmählich unschärfer. Schwärze schob sich von der Seite in Caius’ Blickfeld. Und in der Mitte, da war das Lächeln von Primus.
Caius schloss die Augen. Nun war er frei.
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