»Setz dich bitte, Osaris.« Die Stimme des Mannes klang weich. Ich ging zu dem Stuhl in der Mitte des Raumes. Es roch nach gereinigter Luft, wie in einem OP-Saal. Noch bevor ich den Stuhl erreicht hatte, wollte ich mich am liebsten umdrehen und wegrennen. Stattdessen setzte ich mich. Erstaunlicherweise war er sogar ziemlich bequem. Im Gegensatz zu dem, was gleich kommen würde.
Mir gegenüber saßen drei Personen. Zwei Männer, eine Frau. Sie alle sahen aus, als wären sie mindestens sechzig. Der Mann, der mich hereingerufen hatte, lächelte leicht. Als Einziger. Die anderen beiden schauten, als wäre ich jetzt schon durchgefallen.
Das war also das Prüfkomitee.
»Wir sind heute hier, um deinen Fortschritt in den letzten drei Jahren zu beurteilen. Erachten wir dich als würdig, Osaris, ist dir erlaubt, an der besten Institution der Welt zu studieren und ein Bewahrer des Wissens zu werden.«
Ein Bewahrer werden. Ja, das war es, auf das ich seit meiner Kindheit hingearbeitet hatte. Es musste sich einfach auszahlen.
»Bist du bereit, Osaris?«, fragte jetzt die Frau. Sie saß links neben dem Mann mit der weichen Stimme. Im Gegensatz zu ihm klang ihre Stimme hart und streng.
»Ja«, brachte ich etwas heiser hervor.
Der Mann in der Mitte nickte. »Dann beginne mit deinem Vortrag über das von dir gewählte Thema. Die Menschheit am Abgrund: Die Mabul-Katastrophe.« Irgendwie schaffte es seine Stimme, mir jede Nervosität zu nehmen.
Ich hatte alles perfekt vorbereitet. Ich würde das Komitee überzeugen.
»Vor über zweihundert Jahren ereignete sich die Katastrophe, die jedem von uns bekannt ist. Die Menschheit wird fast zerstört, Milliarden sterben, die Erde ist völlig verwüstet und wird Jahrzehnte brauchen, um sich zu erholen.«
Ich blickte zum Komitee. Sie zeigten keine Regung. Jetzt kehrte meine Unruhe zurück. Ich hatte erwartet, der dramatische Einstieg würde besser funktionieren.
»Das egoistische Verhalten einer kleinen Gruppe hatte zu einem solch großen Ausmaß geführt.«
»Das kennt jedes Kind«, sagte der Mann ganz rechts plötzlich. »Verschwende nicht unsere Zeit mit allgemein bekannten Tatsachen.«
Ich musste schlucken. Warum hatte ich geglaubt, damit beeindrucken zu können?
Ich rief den Holoprojektor auf. Eine dreidimensionale Szene erschien. Sie zeigte einen Raum aus der alten Zeit, vollgestopft mit allen möglichen technischen Geräten. Ich war stolz auf die Szene. Fünf Wochen hatte ich damit verbracht, hatte Quellen zusammengesucht, nur um die Szene zu rekonstruieren.
»Ich habe für heute die Szene aus einem unbekannten Kontrollraum mitgebracht.«
»Was ist an dieser Szene so besonders, Osaris?«, fragte der Mann in der Mitte. »Warum hast du sie uns heute mitgebracht?«
Ich lächelte leicht. Mit der Frage hatte ich gerechnet. »Wir alle wissen, dass die Menschen damals verdorben waren. Sie strebten nach Profit, waren gierig und zerstörten ihre Umwelt. Aber die Frage Warum ist noch immer unklar. Diese Szene offenbart einen neuen Blickwinkel auf die Motivation der damaligen Menschen.«
Der Mann in der Mitte lächelte. Er gab mir einen Wink, fortzufahren.
Ich spielte die Szene ab. Ein Mann trat in den Raum, in Begleitung zwei weiterer. Sie unterhielten sich. »In den Archiven existiert eine Originalaufnahme eines Mikrofons einer der Computer. Das Audio rauscht stark, aber es ist mir gelungen, das Gespräch zu rekonstruieren.« Mit einem Wischen stellte ich den Ton an.
»Wir müssen etwas unternehmen! Die neuesten Simulationen zeigen uns, dass wir dem kritischen Punkt nahe sind. Himmel, wenn die Menschheit so weiter macht, ist es bald aus.«
Eine zweite Stimme ertönte. »Die Menschen werden niemals einfach auf ihre Privilegien verzichten. Wenn ich das durchsetze, begehe ich politischen Selbstmord.«
Dann der dritte Mann. »Wenn wir das tun, sind wir nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich am Ende. Wir können nichts mehr tun. Es ist zu spät.«
Der erste Mann schlug die Hände vors Gesicht. »Was interessiert uns die Wirtschaft oder die Politik? Wir sind alle tot, wenn wir nichts unternehmen!«
»Das werden wir sehen«, meinte der zweite Mann, der Politiker, dann ging der erste Mann aus dem Raum.
»Wir müssen den Menschen weismachen, dass es zu spät ist. Wenn etwas unternommen wird, wäre das unter Untergang«, sagte der dritte Mann zum Politiker. »Wahlen gewinnt man nicht mit unbequemen Forderungen. Denken Sie daran.«
Dann war die Szene beendet.
»Was soll diese Szene uns deiner Meinung nach sagen, Osaris? Wir wissen bereits, dass die Politiker korrupt waren.« Die Frau blickte mich mit diesem strengen Blick an.
Jetzt musste ich meine These präsentieren, die ich in den letzten Monaten erarbeitet hatte. Eine neue Interpretation der Geschichte. »Das ist nicht alles. Der Politiker handelt nicht nur so, weil er bestochen ist. Diese Szene verrät uns etwas über die Menschen aus dieser Zeit. Sie waren egoistisch, sie waren empathielos und teilnahmslos. Aber vor allem haben sie sich selber belogen und die Gefahr heruntergespielt oder sich in Ausreden geflüchtet. Denn wenn sie sich die Realität eingestanden hätten, dann hätte das ihr ganzes Leben infrage gestellt.«
Ich blickte in die Gesichter des Prüfungskomitees. Jetzt sahen sie gespannt aus. Ich musste es nur noch richtig beenden.
»Sehr verehrte Prüfer. Nicht die Korruption war das Problem, es war der Konservatismus der Menschen.«
Der Mann in der Mitte lächelte, die Frau und der Mann neben ihm starrten mich wieder mit dem Blick vom Anfang an. War das ein gutes oder schlechtes Zeichen?
»Danke, Osaris. Wir werden uns nun zurückziehen und beraten. Du wirst das Ergebnis in einer Stunde mitgeteilt bekommen.«
Ich verbeugte mich, dann verließ ich den Raum. Ich musste bestanden haben. Ich musste einfach. Beim Herausgehen wiederholte ich es immer wieder.
So oft, bis ich fest daran glaubte.
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