Film und Literatur zeigen uns oft die Abgründe, die dunklen und hässlichen Seiten der Menschen auf. Finden sich viele solcher Leute zusammen, kommen ebenbürtig scheußliche Gesellschaftsordnungen zustande. Ein unbekannter Autor schrieb in einer Online-Rezension zu Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“ Folgendes: „Denn viele dieser Veränderungen sind nicht allzu weit entfernt von den jüngsten Entwicklungen in unserer Gesellschaft. Man denke dabei an den stets geringer werdenden Einfluss der familiären Strukturen oder auch an die künstliche Befruchtung, bei der immer häufiger die Rede von „heran gezüchteten Superkindern“ die Rede ist.“[1]. „Das könnten wir sein!“, hört man häufig als Totschlagargument, um eine dystopische Erzählung gut zu rezensieren. Aber stimmt diese Form von Gesellschaftskritik?
In unserer Kultur haben Dystopien einen besonderen Stellenwert. Nicht umsonst hören wir in politischen Diskursen häufig von dem Werk „1984“ von George Orwell, um autoritäre und überwachungsstaatliche Missstände zu benennen. Im Englischen ist „Orwellian“ sogar ein legitimes Adjektiv im Cambridger Wörterbuch. Aber auch allgemein dienen Dystopien häufig als Warnung vor dem, was wir werden könnten, oder noch viel schlimmer, was wir schon zu werden scheinen. Sind also alle Dystopien greifbare Entwicklungen der Gesellschaft, oder bleiben die schwarzmalerischen Zukunftsvorhersagen unerfüllt? Im folgenden Essay wird dargestellt, wie das Genre der Dystopie gesellschaftskritisch sein kann, aber nicht sein muss, um als gute Literatur zu gelten.
Bevor wir uns dem Thema zuwenden können, muss der Begriff Gesellschaftskritik verstanden werden. Die Gesellschaft versteht als soziologischen Begriff einen Zusammenschluss aus Gemeinschaften, also kleinere Gruppierungen, welche zusammenleben und in Zahl abgegrenzt werden können. So könnte man die Menschheit weltweit als Gesellschaft bezeichnen oder, im Kleineren, nationale Gesellschaften definieren. Hierbei spielen Kultur, Konventionen und Normen eine große Rolle, da darüber Aussagen und Prämissen getroffen werden, welche allgemeine Trends in der Bevölkerung beschreiben und es dann zur kunstvollen Ausarbeitung in dystopischer Literatur kommen kann.
Die Kritik hingegen ist als Signifikant in der Sprache negativ konnotiert. So wird die Kritik häufig als Beanstandung oder Bemängelung verstanden, aber die Kritik im eigentlichen Sinne beschreibt eine prüfende Beurteilung.
Dadurch wird klar, was unter einer Gesellschaftskritik zu verstehen ist. Und zwar eine prüfende Beurteilung gesellschaftlicher Tendenzen in Kultur, Norm, Konvention oder dem System. Damit ergibt sich aber ein Spannungsfeld, denn die Dystopie ist als Genre darauf aus, eine erschreckende, gefährliche Gesellschaftsordnung darzustellen, welche oft in der fernen Zukunft der Menschheit spielt. Dadurch wäre aber die prüfende Beurteilung der Kritik nicht mehr gegeben, da die dystopische Darstellung einseitig ist und so entsteht ein logisches Paradox, da Positives nicht abgewogen wird.
Die Kunst ist aber frei. Der oben beschriebene, logisch-operationalisierende Ansatz an das Thema kann weder hinreichend noch ausschöpfend sein, da Literatur als Form der Kunst, durch Exaggeration, erst ihren Charakter erhält. Somit ist auszuschließen, dass die Dystopie als Genre im Allgemeinen nicht gesellschaftskritisch sein muss und dadurch nicht als gute oder schlechte Literatur gekennzeichnet werden kann. Dazu muss auch geklärt werden, wodurch eine Dystopie überhaupt erst gesellschaftskritisch wird. Das Problem hierbei ist, dass katastrophisierte Zukunftsdarstellungen stark der subjektiv verzerrten Wahrnehmung unterliegen, da gesellschaftliche Trends sowohl aus der eigenen Perspektive erschließen lassen, aber auch durch Zahlen und einen beobachtbaren Entwicklungsprozess auf Gültigkeit überprüft werden können. Aldous Huxley beschreibt beispielsweise in seiner Dystopie „Schöne Neue Welt“ eine Gesellschaftsordnung, in der eine Weltenregierung die menschliche Fortpflanzung künstlich fortführt. Dabei wird der künstlich befruchtete Embryo manipuliert, sodass ein fünf Kastensystem entsteht, welches hierarchisch geordnet ist. Ganz oben stehen die Alphas, dann die Betas, die Gammas, Deltas und zuletzt die Epsilons. Jede Kaste ist dann noch durch Plus- und Minus-Mitglieder in zwei geteilt. Vor dem Hintergrund, dass das Werk 1931 geschrieben und 1932 veröffentlicht wurde, ist die Rezension, welche in der Einleitung zitiert wurde, nicht komplett daneben. Am Anfang des 20. Jahrhunderts und Ende des 19. Jahrhunderts waren Themen wie Eugenik, also die Lehre der Verbesserung des biologischen Genoms der Menschen, hochaktuell. Vor allem die Nazis haben, nach Adolf Hitlers Vorstellung, vertreten, dass Menschen anhand ihrer Gene geordnet werden können. Aber auch in Großbritannien, dem Geburtsort Huxleys, hat Francis Galton die Eugenik als wissenschaftlichen Teilbereich argumentiert, sodass in den Universitäten darunter sogar geforscht wurde. Daher kann man sagen, dass Huxley den Zeitgeist in den 1930er Jahren wahrgenommen hat und durch Extrapolation in die Zukunft kritisieren konnte, in welche Auswüchse dieser Trend ausarten könnte.
Jedoch zeigt die Geschichte, dass Huxleys Kritik sich mit der Zeit nicht bewähren konnte, sondern sich sogar eine gegenteilige Entwicklung bewahrheitet hat, da nach 1945 die Gleichheit der Menschen in den Vordergrund gerückt ist und die Eugenik verurteilt und in der Wissenschaft verworfen wurde.
Führt man diese zwei Punkte zusammen, fällt auf, dass die Rezension aus der Zeit gefallen scheint, denn aus heutiger Sicht ist es abzulehnen, dass „viele dieser Veränderung […] nicht allzu weit“ scheinen. Dennoch hat Huxley für die damalige Zeit eine annehmbare Warnung geschrieben und dadurch die Gesellschaft prüfend beurteilt. Daher ergibt sich, dass das Beurteilungsmerkmal der Gesellschaftskritik sich, unter der Beachtung der zeitlichen Entwicklung, in einem Spektrum anordnet. Um dies zu verdeutlichen, sollte man ein weiteres Beispiel anschauen, und zwar Georg Orwells „1984“. Die Erzählung handelt in Ozeanien, einer von vier Regierungen, die gemeinsam die ganze Welt umspannen. In dieser Gesellschaftsordnung herrscht eine autoritäre Partei, welche jegliche Informationen kontrolliert und nach belieben bearbeitet, Gedanken durch Sprache beherrschen und Dissidenz hart bestrafen und sogar durch Konditionierungstechniken aushebelt. Solch ein System bestand schon 1948, das Jahr, in dem „1984“ geschrieben wurde, und zwar in der UdSSR. Beängstigender Weise hat sich dieser Trend gehalten und sogar auf weitere Staaten expandiert. Nicht nur Russland, als Nachkommen der UdSSR, ist mit einer autoritären Regierung besetzt, welche Taktiken ganz nach Orwells Roman verwenden, sondern auch das heutige China unterdrückt Dissidenz durch Masseninternierung und Erziehungsmaßnahmen in der uighurischen und chinesischen Bevölkerung. Somit zeigt sich, dass sich gesellschaftskritische Dystopien mit der Zeit bewahrheiten können oder nicht, sodass man den Schluss ziehen kann, dass einige Tendenzen in der Gesellschaft als überdauernd gekennzeichnet sind und darin intensiver gesellschaftskritisch werden.
Diese Differenzierung lässt sich auch am Beispiel „Fahrenheit 451“ (Ray Bradbury, erschienen 1953) vertreten. In dieser Erzählung herrscht eine Gesellschaftsordnung, in der Bücher als gefährlich eingestuft werden, da sie zum Freien Denken und Explorieren der eigenen Emotionen anregen. Dies würde zu antisozialem, sogar gewalttätigen Verhalten führen und stattdessen solle man sich durch Drogen und Videowände ablenken, damit keine Langeweile entsteht. Die Regierung in diesem System wurde aus dieser Logik heraus frei gewählt, aber agiert autoritär, indem sie Bücher verbietet und verbrennt. Auch Menschen, die Bücher verlegen, werden verbrannt, ebenso wie deren Häuser. Die Interpretationen über das Buch variieren stark. Der Autor hat selbst verschiedene Ansichten über das Werk preisgegeben. Einerseits soll durch die Erzählung kritisiert werden, dass der Fernseher, welcher in der Mitte des 20. Jahrhunderts für viele Leute erschwinglich wurde, zum Aussterben der Bücher und durch die Fixation auf bildliche Unterhaltung den Menschen zur Unmündigkeit führe. Auch wenn die Unmündigkeit zur Debatte steht, hat der Autor richtig erfasst und vorhergesagt, dass durch den Fernseher die Leserschaft von Büchern verringert wird. Dies hat sich später mit der Erfindung des Internets, Smartphones und Social Media verstärkt. Viel wichtiger zeigt sich hierin aber die künstlerische Freiheit in der Ausarbeitung einer gesellschaftskritischen Dystopie, denn der gesellschaftskritische Kern der Handlung wird immer noch künstlerisch ausgearbeitet in einer klar fiktiven Welt, die sich in der Art und Weise nicht bewahrheiten muss, um gesellschaftskritisch zu bleiben.
Die zweite Interpretation, welche er anbietet, soll die Abgründe der Zensur durch die amerikanische Regierung in den 1950er Jahren aufzeigen. Das Zensieren von Literatur mache den Bürger unmündig und führe zum Untergang der Meinungsvielfalt, nicht nur durch das Verbrennen der Werke, sondern auch durch eine indifferente Gesellschaft.
In beiden Interpretationsansätzen wird klar, dass ein gesellschaftskritischer Kern der Erzählung unterliegt, welcher künstlerisch ausgearbeitet wird.
Kontrastiert man die oben genannten Werke mit gesellschaftsunkritischen Dystopien, wird der Unterschied glasklar. Als Gegenbeispiel ist hier Episode 1 von der britischen TV-Serie „Black Mirror“ zu nennen. Die Episode „Der Wille des Volkes“ spielt im Großbritannien der nahen Zukunft. Jegliche Charaktere sind hierbei fiktiv. Der Handlungsstrang folgt dem Premierminister Michael Callow, der ein Video erhält, welches die entführte Prinzessin Susannah zeigt. Die Entführer geben dem Premier die Anweisung, vor laufender Kamera Geschlechtsverkehr mit einem Schwein zu haben. Das soll landesweit ausgestrahlt werden. Wenn er den Anweisungen folgt, wird die Prinzessin freigelassen. Die Rezension für die Episode ist sehr gut. Und wieder lautet die Begründung hinsichtlich der großen Meinungsschwankung der Bevölkerung, welche am Ende die Ausstrahlung vom Premier mit einerseits Mitgefühl, aber andererseits auch Sensationsgeilheit auffasst, laut Reviewer David Lewis: „exactly what you might expect to happen if the situation ever arose“[2]. Die öffentliche Erniedrigung des Premiers befriedigt die Sensationsgeilheit der Bevölkerung, ein Jahr später ist das Thema in den Nachrichten wieder untergegangen.
Dazu muss man kritisieren, dass die Reaktion der Bevölkerung in der Serie als gemischt empathisch und angeekelt amüsiert dargestellt wird, wobei sich das nicht auf gesellschaftlicher Ebene kritisieren lässt, da es sich hierbei um sozialpsychologische Prozesse handelt. Damit verfehlt die Serie den Aspekt der Gesellschaftskritik, da sich eine natürliche, menschliche Reaktion zwar auf alle Mitglieder einer Gesellschaft ausweiten lässt, aber damit keine Aussage über gesellschaftliche Normen, Kultur, Institutionen oder sonstiges getroffen wird.
Andererseits stellt auch der Verlauf der Handlung den dystopischen Aspekt infrage, da am Ende der Episode erzählt wird, dass die Briten den Premierminister 1 Jahr nach der Erniedrigung sogar drei Prozentpunkte besser einschätzen, als davor.
Hinzu kommt, dass es ebenfalls nicht als dystopisch einzuordnen ist, dass die Gesellschaft und die Nachrichtensender das Event kurzzeitig rezipieren, aber schließlich auch wieder in der Vergangenheit lassen, da dadurch mit Traumatischem auch abgeschlossen werden kann. Dennoch schreibt Reviewer David Lewis wieder: „Even the most grotesque, astonishing and attention-grabbing events are just flickers in the cultural zeitgeist: they mean evertyhing for a second and are then redudant“ und sieht diese sensationsgeile und schließlich indifferente Welt als „bloody broken“ an.
Insgesamt sehen wir hier also eine dystopische, fiktive Welt, die aber nicht als gesellschaftskritisch gewertet werden kann, da hier eher die psychologischen Mechanismen im Menschen katastrophiert werden. Dementsprechend wäre, zumindest für Episode 1 der Serie „Black Mirror“, die als Dystopie gelistet wird, das passende Genre das Drama.
Schlussendlich macht es eine gesellschaftskritische Dystopie aus, dass sie gesellschaftliche Trends, also den Zeitgeist, in die Zukunft extrapoliert und dabei auch eine gewisse Gültigkeit der Kernaussage im Auge hält. Der Autor Ray Bradbury beschreibt diese Ansicht passend mit den Worten: „a preventor of futures, not a predictor of them.“ Eine gesellschaftskritische Dystopie muss also die Zukunft nicht haargenau vorhersagen, aber gewisse gesellschaftliche Tendenzen ausarbeiten und die Auswüchse präventieren.
Harun Aydinli
[1] https://literaturhandbuch.de/rezension-schoene-neue-welt-von-aldous-huxley/
[2] https://cultbox.co.uk/reviews/episodes/black-mirror-the-national-anthem-review
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