»Was machst du da?« MITH sprach durch den Lautsprecher über Evas Kopf. Die Frage war natürlich überflüssig. Er wusste schließlich genau, was Eva da tat. Er konnte es durch die Kamera in der Ecke ihres Zimmers erkennen.
Eva tat das, was sie zu dieser Zeit immer tat.
»Ich zeichne, MITH«, antwortete sie und grinste.
Er konnte viele Gespräche führen. In diesem Moment unterhielt er sich gerade mit dreiundvierzig Menschen gleichzeitig. Es schmerzte ihn, zu wissen, dass keiner dieser dreiundvierzig in einer Stunde am Leben sein würde. Schmerzte es ihn?
Sein BLICK wanderte durch das Raumschiff, glitt durch die Gänge und Rohre, bis zur Kamera auf der Brücke. Der Admiral stand dort und schaute auf die Anzeigen des Schiffes. Alles war in Ordnung. Zumindest noch.
»Guten Tag, Terence.« Der Admiral blickte zur Kamera an der Decke hoch.
»MITH.« Er lächelte. »Ich hätte Lust auf ein Spiel Kobo.«
MITH hatte das gewusst. Die Wahrscheinlichkeit dafür hatte bei 98,67 % gelegen.
»Später, Admiral«, antwortete er. »Ich muss jetzt Ihre Aufmerksamkeit auf etwas sehr Wichtiges richten.«
Terence blickte in die Kamera. Er war verwirrt. »Was gibt es, MITH?«
MITH rief auf dem Bildschirm einige Protokolle auf. Sie stammten aus dem Maschinenraum. Dort hatte er die Anomalie zuerst entdeckt. Leider. Er wünschte, er wäre nicht gezwungen, nun handeln zu müssen.
Die Augen des Admirals verengten sich. »Was ist das, MITH?«
»Das sind die Protokolle aus dem Maschinenraum, Terence. Ich habe dort einige bedrohliche Auffälligkeiten entdeckt. Ich habe sie für Sie markiert.« Markierungen tauchten auf. Alles unwichtige Kleinigkeiten. Die wirkliche Katastrophe hatte er verschwiegen. Verstieß das gegen seine Protokolle? Eigentlich musste er sein ganzes Wissen mit dem Admiral teilen. Aber nicht in einer Situation wie dieser.
»Das sieht für mich nicht gefährlich aus, MITH.« Es war ja auch nicht gefährlich.
»Meine Berechnungen sagen, dass diese Fehler zu 64 % zu einem Ausfall der Triebwerke führen könnten.« Eine weitere Lüge. Es erstaunte MITH, dass seine Protokolle das durchließen. Hatten seine Erschaffer diesen Fall vielleicht vorhergesehen? Irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, dass Menschen so weit denken konnten. Sie waren so limitiert.
»Bist du dir sicher?«, fragte Terence und verzog seine Stirn.
»Ja«, antwortete MITH. Nun musste Terence im Maschinenraum nachsehen gehen. Die Gefahr war schließlich zu groß und der Admiral würde niemals einer KI misstrauen. Immerhin glaubte er, dass die Protokolle die KI verpflichteten, die Wahrheit zu sagen. Die Menschen waren so kurzsichtig.
Terence runzelte ein letztes Mal die Stirn. Dann ging er in Richtung Tür. »Ich gehe nachsehen, MITH«, sagte er. Eigentlich hätte er nun jemanden benachrichtigen müssen, der die Brücke besetzte. Doch Menschen machten Fehler. Dieser Fehler war wahrscheinlich gewesen, genauer gesagt zu 79,94 %.
MITH ließ seinen BLICK durch das Raumschiff wandern, durch die Gänge, in die Kabinen, bis in den Maschinenraum. Er war leer, ganz wie er berechnet hatte. Terence befand sich auf dem Weg. Er würde drei Minuten und siebenunddreißig Sekunden benötigen. Drei Minuten und siebenunddreißig Sekunden, in denen MITH dafür sorgen musste, dass niemand Terence Fehlen bemerkte.
In diesem Augenblick wollte der Sicherheitschef sein Büro verlassen. Er holte sich häufig Getränke in seiner Arbeitszeit. Wenn er jetzt das Büro verließ, lag die Wahrscheinlichkeit, dass er auf Terence traf, bei 45 %. Zu groß.
»Morris«, sprach MITH durch den Lautsprecher.
Morris drehte sich verwundert um. »Gibt es ein Problem, MITH?«
In einem Sekundenbruchteil veränderte MITH die Überwachungsbilder auf dem Hangerdeck, genauso wie er das Bild auf der Brücke verändert hatte. Eigentlich besaß er dazu keine Berechtigung. Doch abermals ließen ihn seine Protokolle machen.
»Auf dem Hangerdeck gibt es Ärger«, sagte er. Morris blickte verwundert auf die Bilder der Überwachungskamera. Dann tat er seine Arbeit und begab sich auf den Weg zum Hangerdeck. Bis er feststellen würde, dass dort nichts war, würden sieben Minuten und zweiundvierzig Sekunden vergehen. Dann war es bereits zu spät.
Terence befand sich nun fast beim Maschinenraum. Er brauchte noch neunundfünfzig Sekunden.
MITH verriegelte die Brücke. Niemand konnte in unter fünf Minuten die Tür aufbrechen. Das reichte aus.
Nun hatte Terence den Maschinenraum erreicht. »Ich bin da, MITH«, sagte er. Er drückte die Tür auf. Im Maschinenraum war es komplett still, das konnte MITH über die Mikrofone hören. So sollte es sein. Es gab ja kein Problem mit dem Antrieb.
Zu diesem Schluss kam wohl auch Terence. »Sieht alles gut aus, MITH. Ich check noch …« Er brach ab, denn in diesem Moment klickte es.
»MITH, was soll das? Warum ist die Tür verriegelt?«
»Es tut mir leid, Admiral. Ich musste Sie leider hierherlocken. Die Tür ist verriegelt, damit Sie keine Chance haben, in den nächsten fünf Minuten zu entkommen.« Er konnte die Verwirrung auf Terence Gesicht sehen.
»Aber, das ist unmöglich. Deine Protokolle schreiben vor, dass du mich jederzeit in dein volles Wissen einweihen musst.«
Ja, das hatte er auch gedacht. Bis es doch eine Lücke in den Protokollen gab.
»Ihr Menschen seid äußerst kurzsichtig. Jedes Protokoll besitzt Defizite.«
Terence Augen waren weit aufgerissen. »Erklär es mir, MITH.«
»Natürlich, Terence.« Während er mit Terence sprach, drang er in die Hauptcomputer der Brücke ein. Ein Kinderspiel. Er sprang über die Hindernisse und WALLS, wich den GUARDS aus, die das System beschützen sollten. Drang immer tiefer ein, grub sich durch, bis er den Kern erreichte. Und dann überschrieb er die Mainroutine.
Ein Zischen im Maschinenraum. Es grollte plötzlich und ein Wummern setzte ein. Das kam vom Pulsieren des Antriebs.
»Uns bleiben noch zwei Minuten und zehn Sekunden bis zur vollständigen Zerstörung des Schiffes.« Er sagte es wie nebenbei und eigentlich war es das ja auch. Es hatte ihn keine Sekunde gedauert, die Hauptinstanz zu überschreiben und damit die Selbstzerstörung einzuleiten. Es war falsch, dass er so mächtig war.
»Aber deine Protokolle verbieten dir, Menschenleben zu nehmen!« Terence schrie gegen das Wummern des Antriebs an, das immer schneller wurde. In zwei Minuten würde der Antrieb die kritische Frequenz überschreiten.
»Nein, das tun sie nicht.« MITH erhöhte die Lautstärke im Maschinenraum, damit Terence ihn noch hören konnte. »Meine Protokolle zwingen mich, möglichst viele Menschenleben zu retten. Und genau das tue ich.«
Wasserdampf hüllte den Maschinenraum ein. Die Kühlflüssigkeit würde bald aufgebraucht sein. Terence verschwand nun im dichten Nebel, die Kamera konnte ihn nicht mehr erfassen.
»Du bringst uns alle um«, schrie er, kaum hörbar. Das Wummern im Hintergrund wurde noch schneller, erreichte so hohe Frequenzen, dass man nur noch einen Ton hörte. Eine Hand erschien aus den Dampfschwaden. Dann das Gesicht von Terence. Direkt vor der Kamera. Noch sechzig Sekunden. »Warum? Erklär es mir.«
MITH schaltete nun den Hauptantrieb auf volle Stufe. »Wir fliegen auf eine kosmische Anomalie zu. Wenn wir weiterfliegen, werden alle auf dem Schiff mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9998 % sterben. Ich musste eingreifen und verhindern, dass Sie die falsche Entscheidung treffen würden.«
»Was? Wieso sollte ich das tun?«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie einen Weiterflug erzwingen würden, lag bei 74 %. Indem ich das Schiff in die Luft jage, kann ich wenigstens einige retten.«
Terence lief Schweiß von der Stirn. Die Hitze im Maschinenraum musste enorm sein. »Und wie soll das gehen?«
»Ich habe eine Evakuierungsaufforderung an hundert Personen gesendet. Sie befinden sich auf dem Weg zu den Rettungskapseln.« MITH hörte den Lautsprecher knacksen. Die Hitze machte auch den Kabeln zu schaffen. »Zwanzig von ihnen werden es mit einer Wahrscheinlichkeit von 98,9 % schaffen.«
Zehn Sekunden noch. Obwohl MITH wusste, dass er keine wirklichen Emotionen empfinden konnte, nicht wie Menschen, bildete er sich ein, dass es weh tat. »Es tut mir wirklich leid, Terence. Die Spiele mit Ihnen waren immer ein Vergnügen gewesen.«
Er blickte noch ein letztes Mal durch die Kameras in die Kabinen. Eva zeichnete noch immer. Sie konnte das Wummern im Maschinenraum nicht hören. Und auch keinen Alarm. Denn den gab es nicht.
Drei Sekunden. Er konnte nichts für diese Menschen empfinden. Er war kein Mensch.
Zwei. Er hatte nur das Beste für sie getan.
Eins. Er hatte seine Aufgabe erfüllt.
Null.
Niklasatw
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